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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Belgien und die sozialpolitische Frage.

minister Pontus an der Spitze, gegen das letztere, und schließlich wurde der
Antrag Oultremouts mit großer Mehrheit abgelehnt. Auch mit den Maßregeln,
welche den Beschwerden der Arbeiter abhelfen sollten, ging es nur langsam
vorwärts, und die Erfolge der darauf gerichteten Erörterungen und Beschlüsse
waren sehr wenig geeignet, zu befriedigen. Wie wir sahen, hatte die Negierung
nach den Ereignissen des März 1868 einen Anlauf genommen, Reformen
wenigstens vorzubereiten, indem sie eine Kommission zur Untersuchung der bel¬
gischen Arbeiterverhältnisse einsetzte. Diese ging in der That mit einigem
Ernst an ihre Arbeit, aber die Vorschläge, die sie, auf ihre Erhebungen gestützt,
zur Verbesserung jener Verhälnisse machte, waren so bescheidner und dürftiger
Natur, daß man sie von vorn herein als ganz unzureichend bezeichnen durfte. Man
wollte das sogenannte Trucksystem, nach welchem Fabrikanten ihre Arbeiter nicht
in Geld, sondern in wohlfeil eingekauften und ihnen dann hochbercchneten Waaren
bezahlten, durch Verbot abschaffen, und das war immerhin eine Reform von
Bedeutung. Aber schon bei der Frage der Kinderarbeit brachte man es nur mit
Mühe zu Beschlüssen, und diese waren kaum Halbheiten zu nennen. Man
einigte sich nach langen Erwügungeu dahin, die Beschäftigung von Kindern
unter zwölf Jahren bei Arbeit, soweit sie "unterirdisch," d. h. in Kohlengruben
stattfinde, ganz zu verbieten, soweit sie über der Erde vor sich gehe, auf einen
halben Tag, und die von Kindern zwischen zwölf und fünfzehn Jahren auf
dreizehn Stunden zu beschränken -- Kinderarbeit von täglich dreizehn Stunden,
wie menschenfreundlich und naturgemäß! Noch ärger stehen die Dinge in Bezug
auf die Unfallversicherung. Hier soll auf keinen Fall ein Zwang stattfinden;
denn die Verfassung verbürgt den Belgiern, Arbeitern wie Arbeitgebern, volle
Freiheit, und ebenso wenig soll der Staat sich der Sache annehmen und sie
beaufsichtigen, weil -- je nun, weil das nach manchesterlicher Lehre vom Übel
ist. Selbstverständlich könnte die Einrichtung ohne staatliche Leitung und Ver¬
bürgung nicht gedeihen, wenn die Kammern sie zum Gesetze erheben wollten.
Das ist aber noch in weitem Felde und sehr zweifelhaft, wenn man an die
Zusammensetzung und den Charakter der belgischen Kammern denkt, die keine
Volksvertretung, sondern eine Vertretung der besitzenden Klassen, der Bourgeoisie
sind, gleichviel, ob in ihnen, wie jetzt, die klerikale oder die liberale Partei,
d. h. die Freidenker in religiösen und kirchlichen Dingen, die Freimaurer und
ihr Anhang, die Mehrheit bilden. In wirtschaftlichen Fragen sind beide Parteien
Gegner des Fortschritts und Freunde des Gehculcisseus, der Enthaltsamkeit der
Regierung. Beide Parteien vertreten gleich einseitig das Interesse der Leute
mit dem großen Portemonnaie oder glauben es zu vertreten, wenn sie sich
gegen Befolgung des Beispieles sträuben, welches ihnen die deutschen Nachbarn
in ihrer neuen sozialpolitischen Gesetzgebung zur Nachahmung vorhalten. Es
wird wahrscheinlich nicht lange währen, so werden sie Ursache finden, ihr selbst¬
süchtiges Zögern als unvorsichtig bitter zu bereuen. Allerdings ist in Belgien


Belgien und die sozialpolitische Frage.

minister Pontus an der Spitze, gegen das letztere, und schließlich wurde der
Antrag Oultremouts mit großer Mehrheit abgelehnt. Auch mit den Maßregeln,
welche den Beschwerden der Arbeiter abhelfen sollten, ging es nur langsam
vorwärts, und die Erfolge der darauf gerichteten Erörterungen und Beschlüsse
waren sehr wenig geeignet, zu befriedigen. Wie wir sahen, hatte die Negierung
nach den Ereignissen des März 1868 einen Anlauf genommen, Reformen
wenigstens vorzubereiten, indem sie eine Kommission zur Untersuchung der bel¬
gischen Arbeiterverhältnisse einsetzte. Diese ging in der That mit einigem
Ernst an ihre Arbeit, aber die Vorschläge, die sie, auf ihre Erhebungen gestützt,
zur Verbesserung jener Verhälnisse machte, waren so bescheidner und dürftiger
Natur, daß man sie von vorn herein als ganz unzureichend bezeichnen durfte. Man
wollte das sogenannte Trucksystem, nach welchem Fabrikanten ihre Arbeiter nicht
in Geld, sondern in wohlfeil eingekauften und ihnen dann hochbercchneten Waaren
bezahlten, durch Verbot abschaffen, und das war immerhin eine Reform von
Bedeutung. Aber schon bei der Frage der Kinderarbeit brachte man es nur mit
Mühe zu Beschlüssen, und diese waren kaum Halbheiten zu nennen. Man
einigte sich nach langen Erwügungeu dahin, die Beschäftigung von Kindern
unter zwölf Jahren bei Arbeit, soweit sie „unterirdisch," d. h. in Kohlengruben
stattfinde, ganz zu verbieten, soweit sie über der Erde vor sich gehe, auf einen
halben Tag, und die von Kindern zwischen zwölf und fünfzehn Jahren auf
dreizehn Stunden zu beschränken — Kinderarbeit von täglich dreizehn Stunden,
wie menschenfreundlich und naturgemäß! Noch ärger stehen die Dinge in Bezug
auf die Unfallversicherung. Hier soll auf keinen Fall ein Zwang stattfinden;
denn die Verfassung verbürgt den Belgiern, Arbeitern wie Arbeitgebern, volle
Freiheit, und ebenso wenig soll der Staat sich der Sache annehmen und sie
beaufsichtigen, weil — je nun, weil das nach manchesterlicher Lehre vom Übel
ist. Selbstverständlich könnte die Einrichtung ohne staatliche Leitung und Ver¬
bürgung nicht gedeihen, wenn die Kammern sie zum Gesetze erheben wollten.
Das ist aber noch in weitem Felde und sehr zweifelhaft, wenn man an die
Zusammensetzung und den Charakter der belgischen Kammern denkt, die keine
Volksvertretung, sondern eine Vertretung der besitzenden Klassen, der Bourgeoisie
sind, gleichviel, ob in ihnen, wie jetzt, die klerikale oder die liberale Partei,
d. h. die Freidenker in religiösen und kirchlichen Dingen, die Freimaurer und
ihr Anhang, die Mehrheit bilden. In wirtschaftlichen Fragen sind beide Parteien
Gegner des Fortschritts und Freunde des Gehculcisseus, der Enthaltsamkeit der
Regierung. Beide Parteien vertreten gleich einseitig das Interesse der Leute
mit dem großen Portemonnaie oder glauben es zu vertreten, wenn sie sich
gegen Befolgung des Beispieles sträuben, welches ihnen die deutschen Nachbarn
in ihrer neuen sozialpolitischen Gesetzgebung zur Nachahmung vorhalten. Es
wird wahrscheinlich nicht lange währen, so werden sie Ursache finden, ihr selbst¬
süchtiges Zögern als unvorsichtig bitter zu bereuen. Allerdings ist in Belgien


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[0069] Belgien und die sozialpolitische Frage. minister Pontus an der Spitze, gegen das letztere, und schließlich wurde der Antrag Oultremouts mit großer Mehrheit abgelehnt. Auch mit den Maßregeln, welche den Beschwerden der Arbeiter abhelfen sollten, ging es nur langsam vorwärts, und die Erfolge der darauf gerichteten Erörterungen und Beschlüsse waren sehr wenig geeignet, zu befriedigen. Wie wir sahen, hatte die Negierung nach den Ereignissen des März 1868 einen Anlauf genommen, Reformen wenigstens vorzubereiten, indem sie eine Kommission zur Untersuchung der bel¬ gischen Arbeiterverhältnisse einsetzte. Diese ging in der That mit einigem Ernst an ihre Arbeit, aber die Vorschläge, die sie, auf ihre Erhebungen gestützt, zur Verbesserung jener Verhälnisse machte, waren so bescheidner und dürftiger Natur, daß man sie von vorn herein als ganz unzureichend bezeichnen durfte. Man wollte das sogenannte Trucksystem, nach welchem Fabrikanten ihre Arbeiter nicht in Geld, sondern in wohlfeil eingekauften und ihnen dann hochbercchneten Waaren bezahlten, durch Verbot abschaffen, und das war immerhin eine Reform von Bedeutung. Aber schon bei der Frage der Kinderarbeit brachte man es nur mit Mühe zu Beschlüssen, und diese waren kaum Halbheiten zu nennen. Man einigte sich nach langen Erwügungeu dahin, die Beschäftigung von Kindern unter zwölf Jahren bei Arbeit, soweit sie „unterirdisch," d. h. in Kohlengruben stattfinde, ganz zu verbieten, soweit sie über der Erde vor sich gehe, auf einen halben Tag, und die von Kindern zwischen zwölf und fünfzehn Jahren auf dreizehn Stunden zu beschränken — Kinderarbeit von täglich dreizehn Stunden, wie menschenfreundlich und naturgemäß! Noch ärger stehen die Dinge in Bezug auf die Unfallversicherung. Hier soll auf keinen Fall ein Zwang stattfinden; denn die Verfassung verbürgt den Belgiern, Arbeitern wie Arbeitgebern, volle Freiheit, und ebenso wenig soll der Staat sich der Sache annehmen und sie beaufsichtigen, weil — je nun, weil das nach manchesterlicher Lehre vom Übel ist. Selbstverständlich könnte die Einrichtung ohne staatliche Leitung und Ver¬ bürgung nicht gedeihen, wenn die Kammern sie zum Gesetze erheben wollten. Das ist aber noch in weitem Felde und sehr zweifelhaft, wenn man an die Zusammensetzung und den Charakter der belgischen Kammern denkt, die keine Volksvertretung, sondern eine Vertretung der besitzenden Klassen, der Bourgeoisie sind, gleichviel, ob in ihnen, wie jetzt, die klerikale oder die liberale Partei, d. h. die Freidenker in religiösen und kirchlichen Dingen, die Freimaurer und ihr Anhang, die Mehrheit bilden. In wirtschaftlichen Fragen sind beide Parteien Gegner des Fortschritts und Freunde des Gehculcisseus, der Enthaltsamkeit der Regierung. Beide Parteien vertreten gleich einseitig das Interesse der Leute mit dem großen Portemonnaie oder glauben es zu vertreten, wenn sie sich gegen Befolgung des Beispieles sträuben, welches ihnen die deutschen Nachbarn in ihrer neuen sozialpolitischen Gesetzgebung zur Nachahmung vorhalten. Es wird wahrscheinlich nicht lange währen, so werden sie Ursache finden, ihr selbst¬ süchtiges Zögern als unvorsichtig bitter zu bereuen. Allerdings ist in Belgien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/69>, abgerufen am 31.05.2024.