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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Reiz zu steigern, den die Geselligkeit und das Sitzenbleiben beim Becher ausübt.
Wir wollen es eine nationale Schwäche nennen, ohne zu beschönigen, daß sie
in ganzen Perioden unsrer Geschichte zum nationalen Laster geworden ist. Und
wenn im deutschen Reichstage Debatten über den Frühschoppen die Verwun¬
derung des Auslandes hervorgerufen haben mögen, so dürfen wir nicht ver¬
gessen, daß schon Kaiser Maximilian I. Reichsgesetze gegen das Zutrinken durch¬
setzte, deren Wirkung freilich ebenso gering blieb.

Daran wollen wir die Neigung zum Glücksspiele reihen, die man Wohl
auf eine Art Eigensinn zurückführen darf. Denn bei hohen Einsalzen hört es
auf, Unterhaltung zu sein und wird zur leidenschaftlichen Wagehalsigkeit.
Staunend berichtet Taeitus, daß die Germanen beim Würfelspiel Hab und Gut,
Kinder und Weib und zuletzt die eigne Freiheit auf die Würfel setzten und ver¬
spielten, und dann willig dem Gewinner in die Knechtschaft folgten. Sie nennen
das Worthalten, setzt er verwundert hinzu. Auch diesen Zug vermögen wir
leicht durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Wie zahlreich sind die
Erzählungen aus dem Mittelalter, in denen Wagehälse mit dem Teufel selbst
um die eigne Seele würfeln oder wetten; zum Glück geschieht dann meistens
ein Wunder, daß der in Nachteil gesetzte Mensch vielleicht neunzehn Augen wirft,
wenn der Böse schon den höchsten Wurf gethan hat. Würfel, mit denen man
immer gewinnt, sind ein Preis, hoch genug, um sich dem Erzfeind zu ver¬
schreiben. Selbst der zum Tode verurteilte würfelt noch mit dem Heuler um
sein Leben. Auf diesem Reize beruht wohl auch größtenteils die Streitsucht
und Prozeßlust der Bauern, welche den Gegenstand nach seinem Werte gar
nicht anschlägt und im Zuge der Instanzen viel weniger an den Rechtsweg
denkt, als an die Möglichkeit einer Fortsetzung des Spieles. Daß das eigent¬
liche Glücksspiel auch jetzt noch trotz allen Eingreifens der Gesetzgebung seinen
Reiz ausübt, ohne sich gerade auf deutsche Gemüter einzuschränken, bedarf keines
Beleges. So manches Vermögen, so manches Leben fällt ihm zum Opfer,
und wenn die Verlierenden nicht mehr die Knechtschaft wagen können, so ver¬
schwinden sie dafür im weiten Amerika oder in einer Fremdenlegion. Daß sich
in die hohen Wetten der gleiche germanische und deutsche Grundzug verzweigt
hat, leuchtet sofort ein.

Harmloser und ersprießlicher zeigt sich der Hang zur Geselligkeit, zum ge¬
mütlichen Anschluß zur Förderung der verschiedensten Zwecke in dem deutschen
Vereinswesen, das bei allem Wechsel der Zustände seit der Urzeit fortdauert
und sich mit aller Freiheitsliebe und Selbständigkeit sehr wohl verträgt. Be¬
ruht doch selbst die Gemeinschaft des Gaues oder Stammes kaum auf mehr
als auf dem guten Willen der Einzelnen; wenn er nicht mehr mitthun wollte,
so wurde ihm daraus kein sittlicher Vorwurf gemacht, wie z. B. beim Unter¬
gange der Ostgoten in Italien, um nichts näherliegendes anzuziehen. Die im
Innern Deutschlands erstarkende Kirche verfolgte mit Hilfe Karls des Großen


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Reiz zu steigern, den die Geselligkeit und das Sitzenbleiben beim Becher ausübt.
Wir wollen es eine nationale Schwäche nennen, ohne zu beschönigen, daß sie
in ganzen Perioden unsrer Geschichte zum nationalen Laster geworden ist. Und
wenn im deutschen Reichstage Debatten über den Frühschoppen die Verwun¬
derung des Auslandes hervorgerufen haben mögen, so dürfen wir nicht ver¬
gessen, daß schon Kaiser Maximilian I. Reichsgesetze gegen das Zutrinken durch¬
setzte, deren Wirkung freilich ebenso gering blieb.

Daran wollen wir die Neigung zum Glücksspiele reihen, die man Wohl
auf eine Art Eigensinn zurückführen darf. Denn bei hohen Einsalzen hört es
auf, Unterhaltung zu sein und wird zur leidenschaftlichen Wagehalsigkeit.
Staunend berichtet Taeitus, daß die Germanen beim Würfelspiel Hab und Gut,
Kinder und Weib und zuletzt die eigne Freiheit auf die Würfel setzten und ver¬
spielten, und dann willig dem Gewinner in die Knechtschaft folgten. Sie nennen
das Worthalten, setzt er verwundert hinzu. Auch diesen Zug vermögen wir
leicht durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Wie zahlreich sind die
Erzählungen aus dem Mittelalter, in denen Wagehälse mit dem Teufel selbst
um die eigne Seele würfeln oder wetten; zum Glück geschieht dann meistens
ein Wunder, daß der in Nachteil gesetzte Mensch vielleicht neunzehn Augen wirft,
wenn der Böse schon den höchsten Wurf gethan hat. Würfel, mit denen man
immer gewinnt, sind ein Preis, hoch genug, um sich dem Erzfeind zu ver¬
schreiben. Selbst der zum Tode verurteilte würfelt noch mit dem Heuler um
sein Leben. Auf diesem Reize beruht wohl auch größtenteils die Streitsucht
und Prozeßlust der Bauern, welche den Gegenstand nach seinem Werte gar
nicht anschlägt und im Zuge der Instanzen viel weniger an den Rechtsweg
denkt, als an die Möglichkeit einer Fortsetzung des Spieles. Daß das eigent¬
liche Glücksspiel auch jetzt noch trotz allen Eingreifens der Gesetzgebung seinen
Reiz ausübt, ohne sich gerade auf deutsche Gemüter einzuschränken, bedarf keines
Beleges. So manches Vermögen, so manches Leben fällt ihm zum Opfer,
und wenn die Verlierenden nicht mehr die Knechtschaft wagen können, so ver¬
schwinden sie dafür im weiten Amerika oder in einer Fremdenlegion. Daß sich
in die hohen Wetten der gleiche germanische und deutsche Grundzug verzweigt
hat, leuchtet sofort ein.

Harmloser und ersprießlicher zeigt sich der Hang zur Geselligkeit, zum ge¬
mütlichen Anschluß zur Förderung der verschiedensten Zwecke in dem deutschen
Vereinswesen, das bei allem Wechsel der Zustände seit der Urzeit fortdauert
und sich mit aller Freiheitsliebe und Selbständigkeit sehr wohl verträgt. Be¬
ruht doch selbst die Gemeinschaft des Gaues oder Stammes kaum auf mehr
als auf dem guten Willen der Einzelnen; wenn er nicht mehr mitthun wollte,
so wurde ihm daraus kein sittlicher Vorwurf gemacht, wie z. B. beim Unter¬
gange der Ostgoten in Italien, um nichts näherliegendes anzuziehen. Die im
Innern Deutschlands erstarkende Kirche verfolgte mit Hilfe Karls des Großen


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[0079] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. Reiz zu steigern, den die Geselligkeit und das Sitzenbleiben beim Becher ausübt. Wir wollen es eine nationale Schwäche nennen, ohne zu beschönigen, daß sie in ganzen Perioden unsrer Geschichte zum nationalen Laster geworden ist. Und wenn im deutschen Reichstage Debatten über den Frühschoppen die Verwun¬ derung des Auslandes hervorgerufen haben mögen, so dürfen wir nicht ver¬ gessen, daß schon Kaiser Maximilian I. Reichsgesetze gegen das Zutrinken durch¬ setzte, deren Wirkung freilich ebenso gering blieb. Daran wollen wir die Neigung zum Glücksspiele reihen, die man Wohl auf eine Art Eigensinn zurückführen darf. Denn bei hohen Einsalzen hört es auf, Unterhaltung zu sein und wird zur leidenschaftlichen Wagehalsigkeit. Staunend berichtet Taeitus, daß die Germanen beim Würfelspiel Hab und Gut, Kinder und Weib und zuletzt die eigne Freiheit auf die Würfel setzten und ver¬ spielten, und dann willig dem Gewinner in die Knechtschaft folgten. Sie nennen das Worthalten, setzt er verwundert hinzu. Auch diesen Zug vermögen wir leicht durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Wie zahlreich sind die Erzählungen aus dem Mittelalter, in denen Wagehälse mit dem Teufel selbst um die eigne Seele würfeln oder wetten; zum Glück geschieht dann meistens ein Wunder, daß der in Nachteil gesetzte Mensch vielleicht neunzehn Augen wirft, wenn der Böse schon den höchsten Wurf gethan hat. Würfel, mit denen man immer gewinnt, sind ein Preis, hoch genug, um sich dem Erzfeind zu ver¬ schreiben. Selbst der zum Tode verurteilte würfelt noch mit dem Heuler um sein Leben. Auf diesem Reize beruht wohl auch größtenteils die Streitsucht und Prozeßlust der Bauern, welche den Gegenstand nach seinem Werte gar nicht anschlägt und im Zuge der Instanzen viel weniger an den Rechtsweg denkt, als an die Möglichkeit einer Fortsetzung des Spieles. Daß das eigent¬ liche Glücksspiel auch jetzt noch trotz allen Eingreifens der Gesetzgebung seinen Reiz ausübt, ohne sich gerade auf deutsche Gemüter einzuschränken, bedarf keines Beleges. So manches Vermögen, so manches Leben fällt ihm zum Opfer, und wenn die Verlierenden nicht mehr die Knechtschaft wagen können, so ver¬ schwinden sie dafür im weiten Amerika oder in einer Fremdenlegion. Daß sich in die hohen Wetten der gleiche germanische und deutsche Grundzug verzweigt hat, leuchtet sofort ein. Harmloser und ersprießlicher zeigt sich der Hang zur Geselligkeit, zum ge¬ mütlichen Anschluß zur Förderung der verschiedensten Zwecke in dem deutschen Vereinswesen, das bei allem Wechsel der Zustände seit der Urzeit fortdauert und sich mit aller Freiheitsliebe und Selbständigkeit sehr wohl verträgt. Be¬ ruht doch selbst die Gemeinschaft des Gaues oder Stammes kaum auf mehr als auf dem guten Willen der Einzelnen; wenn er nicht mehr mitthun wollte, so wurde ihm daraus kein sittlicher Vorwurf gemacht, wie z. B. beim Unter¬ gange der Ostgoten in Italien, um nichts näherliegendes anzuziehen. Die im Innern Deutschlands erstarkende Kirche verfolgte mit Hilfe Karls des Großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/79>, abgerufen am 28.05.2024.