Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

eifrig die Gildonien, wie anzunehmen ist, zusammengeschworene Genossenschaften
zu Opferschmäusen als Picknicks und zu andrer gegenseitiger Beihilfe. Aber der
Trieb war nicht auszurotten und setzte sich auf dem Boden der Kirche selbst
fest in Klöstern und Bruderschaften zur Aufspeicherung von Gebetsschätzen. Und
über das zusammenbrechende Königtum hinaus erhielten zahlreiche Vereinigungen
die nationalen Lebensthätigkeiten aufrecht: Ritterbünde und Städtebünde und
Fürstenbttnde, Zünfte und Bauhütten und Universitäten. Und später wieder
Mäßigkeitsorden und Sprachgcsellschaften, die geheimen Orden und die Lands¬
mannschaften der Universitäten und was alles den Zusammenhang mit der Gegen¬
wart herstellt und lange Zeit den Mangel einer staatlichen Organisation des
deutschen Volkes durch zahllose Einzelbeziehungen zu vertreten strebte. Was
jetzt das Vereinswesen bedeutet, ist kaum zu ermessen, es umfaßt alle Lebens-
äußerungen von der harmlosesten Geselligkeit bis zur Pflege der höchsten natio¬
nalen Angelegenheiten, die über die Kräfte des Staates hinausreichen, die innere
Pflege der Sprache, die Wacht über ihre äußere Verbreitung, die Verpflanzung
deutscher Volksart in fremde Erdteile.

Aber auch unsern größten und verhängnisvollsten nationalen Fehler müssen
wir in den frühesten Zeiten schon hervortreten finden. Und dabei bewährt sich
ein tiefsinniges Wort des Aristoteles, daß Fehler und Laster nur die Über¬
treibung von Tugenden nach der andern Seite hin, nur Umschlag und Ver¬
kehrung derselben seien. Denn wie einerseits das Übergewicht der Persönlichkeit
gegenüber aller Form des Zusammenhaltes, allen Gesetzen und Ordnungen die
wuchernde Fülle selbständiger neuer Bildungen hervorbringt und den Deutschen
zum gebornen Kolonisten und Wettläufer macht, der immer wieder Wurzel faßt
und gedeiht, wo ihn das Geschick hinwirft, so schlecht verträgt sich anderseits diese
Selbständigkeit mit dem öffentlichen Geist, mit dem Herdenbewußtsein, das kleine
Völker stark macht. Wo Unterordnung für das Ganze und Große von Vorteil
wäre, beharrt der Einzelne mit Eigensinn auf seiner Meinung, auf feinem Willen,
auf seinen Besonderheiten. So ist Uneinigkeit, Parteiung, Stammeseifersucht
eine gefährliche Liebhaberei deutscher Volksart. Dieser Zwietracht und Abson¬
derungssucht freute sich schon der Römer, dem vor der Wucht der vereinigten
Stämme und Völkchen bangen mußte. Und oft genug seit jener Zeit ist dieser
Zug deutschen Volkscharakters der Bundesgenosse des Auslandes, der Verderber
deutscher Machtentfaltung geworden.

Dazu kommt leider die Neigung, fremdes Wesen schon deshalb zu achten,
weil es als neu und ungewohnt Eindruck macht, auch wenn es nicht besser ist als
das heimische. Darum wird fremde Volksart, fremde Sprache und Sitte dem
einzelnen Deutschen leicht gefährliche Verlockung zur Verleugnung des ange¬
stammten Wesens. Das ist die Ausländerei, unsre Volkskrankheit seit uralter
Zeit, von der römischen Partei unter den Cherusker" des Arminius bis zu
unsern Landsleuten in Ungarn oder Polen oder Amerika, die dem Zauber der


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

eifrig die Gildonien, wie anzunehmen ist, zusammengeschworene Genossenschaften
zu Opferschmäusen als Picknicks und zu andrer gegenseitiger Beihilfe. Aber der
Trieb war nicht auszurotten und setzte sich auf dem Boden der Kirche selbst
fest in Klöstern und Bruderschaften zur Aufspeicherung von Gebetsschätzen. Und
über das zusammenbrechende Königtum hinaus erhielten zahlreiche Vereinigungen
die nationalen Lebensthätigkeiten aufrecht: Ritterbünde und Städtebünde und
Fürstenbttnde, Zünfte und Bauhütten und Universitäten. Und später wieder
Mäßigkeitsorden und Sprachgcsellschaften, die geheimen Orden und die Lands¬
mannschaften der Universitäten und was alles den Zusammenhang mit der Gegen¬
wart herstellt und lange Zeit den Mangel einer staatlichen Organisation des
deutschen Volkes durch zahllose Einzelbeziehungen zu vertreten strebte. Was
jetzt das Vereinswesen bedeutet, ist kaum zu ermessen, es umfaßt alle Lebens-
äußerungen von der harmlosesten Geselligkeit bis zur Pflege der höchsten natio¬
nalen Angelegenheiten, die über die Kräfte des Staates hinausreichen, die innere
Pflege der Sprache, die Wacht über ihre äußere Verbreitung, die Verpflanzung
deutscher Volksart in fremde Erdteile.

Aber auch unsern größten und verhängnisvollsten nationalen Fehler müssen
wir in den frühesten Zeiten schon hervortreten finden. Und dabei bewährt sich
ein tiefsinniges Wort des Aristoteles, daß Fehler und Laster nur die Über¬
treibung von Tugenden nach der andern Seite hin, nur Umschlag und Ver¬
kehrung derselben seien. Denn wie einerseits das Übergewicht der Persönlichkeit
gegenüber aller Form des Zusammenhaltes, allen Gesetzen und Ordnungen die
wuchernde Fülle selbständiger neuer Bildungen hervorbringt und den Deutschen
zum gebornen Kolonisten und Wettläufer macht, der immer wieder Wurzel faßt
und gedeiht, wo ihn das Geschick hinwirft, so schlecht verträgt sich anderseits diese
Selbständigkeit mit dem öffentlichen Geist, mit dem Herdenbewußtsein, das kleine
Völker stark macht. Wo Unterordnung für das Ganze und Große von Vorteil
wäre, beharrt der Einzelne mit Eigensinn auf seiner Meinung, auf feinem Willen,
auf seinen Besonderheiten. So ist Uneinigkeit, Parteiung, Stammeseifersucht
eine gefährliche Liebhaberei deutscher Volksart. Dieser Zwietracht und Abson¬
derungssucht freute sich schon der Römer, dem vor der Wucht der vereinigten
Stämme und Völkchen bangen mußte. Und oft genug seit jener Zeit ist dieser
Zug deutschen Volkscharakters der Bundesgenosse des Auslandes, der Verderber
deutscher Machtentfaltung geworden.

Dazu kommt leider die Neigung, fremdes Wesen schon deshalb zu achten,
weil es als neu und ungewohnt Eindruck macht, auch wenn es nicht besser ist als
das heimische. Darum wird fremde Volksart, fremde Sprache und Sitte dem
einzelnen Deutschen leicht gefährliche Verlockung zur Verleugnung des ange¬
stammten Wesens. Das ist die Ausländerei, unsre Volkskrankheit seit uralter
Zeit, von der römischen Partei unter den Cherusker» des Arminius bis zu
unsern Landsleuten in Ungarn oder Polen oder Amerika, die dem Zauber der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200859"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_231" prev="#ID_230"> eifrig die Gildonien, wie anzunehmen ist, zusammengeschworene Genossenschaften<lb/>
zu Opferschmäusen als Picknicks und zu andrer gegenseitiger Beihilfe. Aber der<lb/>
Trieb war nicht auszurotten und setzte sich auf dem Boden der Kirche selbst<lb/>
fest in Klöstern und Bruderschaften zur Aufspeicherung von Gebetsschätzen. Und<lb/>
über das zusammenbrechende Königtum hinaus erhielten zahlreiche Vereinigungen<lb/>
die nationalen Lebensthätigkeiten aufrecht: Ritterbünde und Städtebünde und<lb/>
Fürstenbttnde, Zünfte und Bauhütten und Universitäten. Und später wieder<lb/>
Mäßigkeitsorden und Sprachgcsellschaften, die geheimen Orden und die Lands¬<lb/>
mannschaften der Universitäten und was alles den Zusammenhang mit der Gegen¬<lb/>
wart herstellt und lange Zeit den Mangel einer staatlichen Organisation des<lb/>
deutschen Volkes durch zahllose Einzelbeziehungen zu vertreten strebte. Was<lb/>
jetzt das Vereinswesen bedeutet, ist kaum zu ermessen, es umfaßt alle Lebens-<lb/>
äußerungen von der harmlosesten Geselligkeit bis zur Pflege der höchsten natio¬<lb/>
nalen Angelegenheiten, die über die Kräfte des Staates hinausreichen, die innere<lb/>
Pflege der Sprache, die Wacht über ihre äußere Verbreitung, die Verpflanzung<lb/>
deutscher Volksart in fremde Erdteile.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_232"> Aber auch unsern größten und verhängnisvollsten nationalen Fehler müssen<lb/>
wir in den frühesten Zeiten schon hervortreten finden. Und dabei bewährt sich<lb/>
ein tiefsinniges Wort des Aristoteles, daß Fehler und Laster nur die Über¬<lb/>
treibung von Tugenden nach der andern Seite hin, nur Umschlag und Ver¬<lb/>
kehrung derselben seien. Denn wie einerseits das Übergewicht der Persönlichkeit<lb/>
gegenüber aller Form des Zusammenhaltes, allen Gesetzen und Ordnungen die<lb/>
wuchernde Fülle selbständiger neuer Bildungen hervorbringt und den Deutschen<lb/>
zum gebornen Kolonisten und Wettläufer macht, der immer wieder Wurzel faßt<lb/>
und gedeiht, wo ihn das Geschick hinwirft, so schlecht verträgt sich anderseits diese<lb/>
Selbständigkeit mit dem öffentlichen Geist, mit dem Herdenbewußtsein, das kleine<lb/>
Völker stark macht. Wo Unterordnung für das Ganze und Große von Vorteil<lb/>
wäre, beharrt der Einzelne mit Eigensinn auf seiner Meinung, auf feinem Willen,<lb/>
auf seinen Besonderheiten. So ist Uneinigkeit, Parteiung, Stammeseifersucht<lb/>
eine gefährliche Liebhaberei deutscher Volksart. Dieser Zwietracht und Abson¬<lb/>
derungssucht freute sich schon der Römer, dem vor der Wucht der vereinigten<lb/>
Stämme und Völkchen bangen mußte. Und oft genug seit jener Zeit ist dieser<lb/>
Zug deutschen Volkscharakters der Bundesgenosse des Auslandes, der Verderber<lb/>
deutscher Machtentfaltung geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_233" next="#ID_234"> Dazu kommt leider die Neigung, fremdes Wesen schon deshalb zu achten,<lb/>
weil es als neu und ungewohnt Eindruck macht, auch wenn es nicht besser ist als<lb/>
das heimische. Darum wird fremde Volksart, fremde Sprache und Sitte dem<lb/>
einzelnen Deutschen leicht gefährliche Verlockung zur Verleugnung des ange¬<lb/>
stammten Wesens. Das ist die Ausländerei, unsre Volkskrankheit seit uralter<lb/>
Zeit, von der römischen Partei unter den Cherusker» des Arminius bis zu<lb/>
unsern Landsleuten in Ungarn oder Polen oder Amerika, die dem Zauber der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. eifrig die Gildonien, wie anzunehmen ist, zusammengeschworene Genossenschaften zu Opferschmäusen als Picknicks und zu andrer gegenseitiger Beihilfe. Aber der Trieb war nicht auszurotten und setzte sich auf dem Boden der Kirche selbst fest in Klöstern und Bruderschaften zur Aufspeicherung von Gebetsschätzen. Und über das zusammenbrechende Königtum hinaus erhielten zahlreiche Vereinigungen die nationalen Lebensthätigkeiten aufrecht: Ritterbünde und Städtebünde und Fürstenbttnde, Zünfte und Bauhütten und Universitäten. Und später wieder Mäßigkeitsorden und Sprachgcsellschaften, die geheimen Orden und die Lands¬ mannschaften der Universitäten und was alles den Zusammenhang mit der Gegen¬ wart herstellt und lange Zeit den Mangel einer staatlichen Organisation des deutschen Volkes durch zahllose Einzelbeziehungen zu vertreten strebte. Was jetzt das Vereinswesen bedeutet, ist kaum zu ermessen, es umfaßt alle Lebens- äußerungen von der harmlosesten Geselligkeit bis zur Pflege der höchsten natio¬ nalen Angelegenheiten, die über die Kräfte des Staates hinausreichen, die innere Pflege der Sprache, die Wacht über ihre äußere Verbreitung, die Verpflanzung deutscher Volksart in fremde Erdteile. Aber auch unsern größten und verhängnisvollsten nationalen Fehler müssen wir in den frühesten Zeiten schon hervortreten finden. Und dabei bewährt sich ein tiefsinniges Wort des Aristoteles, daß Fehler und Laster nur die Über¬ treibung von Tugenden nach der andern Seite hin, nur Umschlag und Ver¬ kehrung derselben seien. Denn wie einerseits das Übergewicht der Persönlichkeit gegenüber aller Form des Zusammenhaltes, allen Gesetzen und Ordnungen die wuchernde Fülle selbständiger neuer Bildungen hervorbringt und den Deutschen zum gebornen Kolonisten und Wettläufer macht, der immer wieder Wurzel faßt und gedeiht, wo ihn das Geschick hinwirft, so schlecht verträgt sich anderseits diese Selbständigkeit mit dem öffentlichen Geist, mit dem Herdenbewußtsein, das kleine Völker stark macht. Wo Unterordnung für das Ganze und Große von Vorteil wäre, beharrt der Einzelne mit Eigensinn auf seiner Meinung, auf feinem Willen, auf seinen Besonderheiten. So ist Uneinigkeit, Parteiung, Stammeseifersucht eine gefährliche Liebhaberei deutscher Volksart. Dieser Zwietracht und Abson¬ derungssucht freute sich schon der Römer, dem vor der Wucht der vereinigten Stämme und Völkchen bangen mußte. Und oft genug seit jener Zeit ist dieser Zug deutschen Volkscharakters der Bundesgenosse des Auslandes, der Verderber deutscher Machtentfaltung geworden. Dazu kommt leider die Neigung, fremdes Wesen schon deshalb zu achten, weil es als neu und ungewohnt Eindruck macht, auch wenn es nicht besser ist als das heimische. Darum wird fremde Volksart, fremde Sprache und Sitte dem einzelnen Deutschen leicht gefährliche Verlockung zur Verleugnung des ange¬ stammten Wesens. Das ist die Ausländerei, unsre Volkskrankheit seit uralter Zeit, von der römischen Partei unter den Cherusker» des Arminius bis zu unsern Landsleuten in Ungarn oder Polen oder Amerika, die dem Zauber der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/80>, abgerufen am 14.05.2024.