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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Gin jungdeutscher Phrasenheld.

künstlich-dunkel als tief, mehr mystisch als philosophisch. Und die Widersprüche?
Das miserable Französisch? Die vielen Gedankensprünge und Gedankenstriche?

Die Aufzeichnungen über die Jugend geben ein sonderbares Hilla pro "zuo.
Das sind nicht die kindlichen Eindrücke und Erlebnisse, wie sie der Knabe ge¬
habt und die Erinnerung sie treu aufbewahrt hat, sondern wie der Leipziger
Student Spalding sie durch das stark gefärbte Glas seiner jetzigen Ansichten,
Empfindungen, Gedanken sieht. Es ist also gar kein treues Bild. Auch hier
wäre es leicht, zahlreiche Belegstellen zu nennen. Übrigens ist es im höchsten
Grade unschicklich, taktlos, gefühllos, arrogant, so über Vater und Mutter zu
schreiben und zu urteilen. Mag der Herr Sohn ein großer Mann zu sein
glauben, sein Amt ist es nicht, in dieser Weise über seine Eltern zu richten,
und wenn ich der Vater dieses Jünglings (Hermann Spalding) wäre, so nähme
ich "Holz vom Fichtcnstcimme, doch recht biegsam müßt' es sein." Im übrigen
ist die kleinstädtische Jugend und Kinderwelt fast immer anders, als sie hier
dargestellt wird.

Aufmerksam lesen und zu Ende lesen werden das Buch allenfalls: die Be¬
kannten des Herrn Conradi und der "gezeichneten" Personen, die Anhänger der
"neuen Richtung," wollustgierige Jünglinge und abnormitätensuchende Natur¬
forscher; andre Personen, denen das "Werk" zufällig in die Hände kommt,
werden schwerlich bis zum Schluß aushalten. Der geisteskranke Onkel Heinrich
Spaldings hat mir übrigens zu denken gegeben!

Soviel von den "Phrasen." Nach den bisher erschienenen und mir bekannt
gewordenen poetischen und prosaischen "Werken" dieses "begabtesten Vertreters
der neuen Richtung," des "talentvollsten Bleibtreu-Schülers" möchte ich Herrn
Conradi etwa folgendermaßen analysiren:

-y Selbstüberschätzung.............25 Prozent.
Auf jeder Seite der Bücher zu finden; besteht fast in jeder
Beziehung, in poetischer, philosophischer, politischer, sozialer :c.
b) Überschüssige Sinnlichkeit.......... . 20 "
Sehr stark vorhanden, besonders in geschlechtlicher Beziehung;
scheint oft das ganze Denken ze. zu beherrschen,
e,) Poetische Anlage..............12 "
Wird niemand leugnen; ist auch in den prosaischen Stücken
überall sichtbar.
et) Formtalent................ 7 "
Beschränkt sich fast ausschließlich auf die reimlose Lyrik nach
Goethischen Muster. Hier sind Schwung und Gefühl für
das Rhythmische zu finden.
e) Sprachbeherrschung............. 7 "
Verleitet sehr häufig zu unschönen Um- und Neubildungen^__
71 Prozent.

Grenzboten III. 1887. 12
Gin jungdeutscher Phrasenheld.

künstlich-dunkel als tief, mehr mystisch als philosophisch. Und die Widersprüche?
Das miserable Französisch? Die vielen Gedankensprünge und Gedankenstriche?

Die Aufzeichnungen über die Jugend geben ein sonderbares Hilla pro «zuo.
Das sind nicht die kindlichen Eindrücke und Erlebnisse, wie sie der Knabe ge¬
habt und die Erinnerung sie treu aufbewahrt hat, sondern wie der Leipziger
Student Spalding sie durch das stark gefärbte Glas seiner jetzigen Ansichten,
Empfindungen, Gedanken sieht. Es ist also gar kein treues Bild. Auch hier
wäre es leicht, zahlreiche Belegstellen zu nennen. Übrigens ist es im höchsten
Grade unschicklich, taktlos, gefühllos, arrogant, so über Vater und Mutter zu
schreiben und zu urteilen. Mag der Herr Sohn ein großer Mann zu sein
glauben, sein Amt ist es nicht, in dieser Weise über seine Eltern zu richten,
und wenn ich der Vater dieses Jünglings (Hermann Spalding) wäre, so nähme
ich „Holz vom Fichtcnstcimme, doch recht biegsam müßt' es sein." Im übrigen
ist die kleinstädtische Jugend und Kinderwelt fast immer anders, als sie hier
dargestellt wird.

Aufmerksam lesen und zu Ende lesen werden das Buch allenfalls: die Be¬
kannten des Herrn Conradi und der „gezeichneten" Personen, die Anhänger der
„neuen Richtung," wollustgierige Jünglinge und abnormitätensuchende Natur¬
forscher; andre Personen, denen das „Werk" zufällig in die Hände kommt,
werden schwerlich bis zum Schluß aushalten. Der geisteskranke Onkel Heinrich
Spaldings hat mir übrigens zu denken gegeben!

Soviel von den „Phrasen." Nach den bisher erschienenen und mir bekannt
gewordenen poetischen und prosaischen „Werken" dieses „begabtesten Vertreters
der neuen Richtung," des „talentvollsten Bleibtreu-Schülers" möchte ich Herrn
Conradi etwa folgendermaßen analysiren:

-y Selbstüberschätzung.............25 Prozent.
Auf jeder Seite der Bücher zu finden; besteht fast in jeder
Beziehung, in poetischer, philosophischer, politischer, sozialer :c.
b) Überschüssige Sinnlichkeit.......... . 20 »
Sehr stark vorhanden, besonders in geschlechtlicher Beziehung;
scheint oft das ganze Denken ze. zu beherrschen,
e,) Poetische Anlage..............12 »
Wird niemand leugnen; ist auch in den prosaischen Stücken
überall sichtbar.
et) Formtalent................ 7 »
Beschränkt sich fast ausschließlich auf die reimlose Lyrik nach
Goethischen Muster. Hier sind Schwung und Gefühl für
das Rhythmische zu finden.
e) Sprachbeherrschung............. 7 »
Verleitet sehr häufig zu unschönen Um- und Neubildungen^__
71 Prozent.

Grenzboten III. 1887. 12
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[0097] Gin jungdeutscher Phrasenheld. künstlich-dunkel als tief, mehr mystisch als philosophisch. Und die Widersprüche? Das miserable Französisch? Die vielen Gedankensprünge und Gedankenstriche? Die Aufzeichnungen über die Jugend geben ein sonderbares Hilla pro «zuo. Das sind nicht die kindlichen Eindrücke und Erlebnisse, wie sie der Knabe ge¬ habt und die Erinnerung sie treu aufbewahrt hat, sondern wie der Leipziger Student Spalding sie durch das stark gefärbte Glas seiner jetzigen Ansichten, Empfindungen, Gedanken sieht. Es ist also gar kein treues Bild. Auch hier wäre es leicht, zahlreiche Belegstellen zu nennen. Übrigens ist es im höchsten Grade unschicklich, taktlos, gefühllos, arrogant, so über Vater und Mutter zu schreiben und zu urteilen. Mag der Herr Sohn ein großer Mann zu sein glauben, sein Amt ist es nicht, in dieser Weise über seine Eltern zu richten, und wenn ich der Vater dieses Jünglings (Hermann Spalding) wäre, so nähme ich „Holz vom Fichtcnstcimme, doch recht biegsam müßt' es sein." Im übrigen ist die kleinstädtische Jugend und Kinderwelt fast immer anders, als sie hier dargestellt wird. Aufmerksam lesen und zu Ende lesen werden das Buch allenfalls: die Be¬ kannten des Herrn Conradi und der „gezeichneten" Personen, die Anhänger der „neuen Richtung," wollustgierige Jünglinge und abnormitätensuchende Natur¬ forscher; andre Personen, denen das „Werk" zufällig in die Hände kommt, werden schwerlich bis zum Schluß aushalten. Der geisteskranke Onkel Heinrich Spaldings hat mir übrigens zu denken gegeben! Soviel von den „Phrasen." Nach den bisher erschienenen und mir bekannt gewordenen poetischen und prosaischen „Werken" dieses „begabtesten Vertreters der neuen Richtung," des „talentvollsten Bleibtreu-Schülers" möchte ich Herrn Conradi etwa folgendermaßen analysiren: -y Selbstüberschätzung.............25 Prozent. Auf jeder Seite der Bücher zu finden; besteht fast in jeder Beziehung, in poetischer, philosophischer, politischer, sozialer :c. b) Überschüssige Sinnlichkeit.......... . 20 » Sehr stark vorhanden, besonders in geschlechtlicher Beziehung; scheint oft das ganze Denken ze. zu beherrschen, e,) Poetische Anlage..............12 » Wird niemand leugnen; ist auch in den prosaischen Stücken überall sichtbar. et) Formtalent................ 7 » Beschränkt sich fast ausschließlich auf die reimlose Lyrik nach Goethischen Muster. Hier sind Schwung und Gefühl für das Rhythmische zu finden. e) Sprachbeherrschung............. 7 » Verleitet sehr häufig zu unschönen Um- und Neubildungen^__ 71 Prozent. Grenzboten III. 1887. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/97>, abgerufen am 31.05.2024.