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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Eine Fahrt in den Grient.

zugebracht. Ein Aufenthalt an Bord ist bei Nacht nicht gestattet und ver¬
bietet sich von selbst, wenn es, wie in dieser Nacht, mit Strömen vom Himmel
gießt. Als aber aus Abend und Morgen der erste Tag wurde, hatten wir
keineswegs die Genugthuung zu sagen, daß es schön war. Schon um vier Uhr
begann das Aufstehen nud, mit Erlaubnis zu sage", die Reinigung in den zwei
für die gesamte Gesellschaft bestimmten Waschbecken. Jan Steen, Mieris,
Brouwer würden den ausgiebigsten Stoff für Genrebilder voll des köstlichsten
Humors gefunden haben. Wer aber an diesen Szenen thätig teilnehmen soll,
wird jene Empfindung des Missionars haben, wie sie im Tempel des Dalai-
Lama von Platen in seiner "Verhängnisvollen Gabel" so drastisch geschildert
ist. Verhandlungen mit dem Kellner, unterstützt von metallenen Händedruck,
ließen mich in den Besitz einer noch unentweihten Waschschüssel gelangen. O
neuer Tanhciuser, wie empfand ich die tiefe Wahrheit deiner oft geschmähten
Verse:


Sie sah mich an, so kindlich rein,
Hier durste ich der Erste sein!

Nach diesem Siege der Zivilisation über die Barbarei konnte ich auf dem Deck
die frische Morgenluft in vollen Zügen schlürfen. Der Regen war gewichen,
aber noch kämpfte die aufgehende Sonne mit dichtem Nebel, der während der
ersten Stunden die beiden Ufer unsern Blicken entzog. Aber auch in der Natur
siegte das Licht über die Finsternis, und es entwickelte sich ein schöner Tag.
Wir zogen an flachen und öden Ufern entlang; nur ab und zu wurde die tiefe
Stille von Schiffsmühlen und Schleppdampfern unterbrochen, auf dem Lande
unendliche Strecken von Weide- und Wiesenland, dann und wann von Rinder-
und Pferdeherden belebt. Auch diese Landschaftslosigkeit hat einen großen Reiz,
sie wirkt betäubend und träumerisch, man wagt selbst kaum laut zu sprechen
und wird durch jedes heftige Geräusch aufgeschreckt. Auch von den Stationen
bietet keine etwas besondres, nur Mohacs, eine kleine Stadt mit weißen Häusern,
weckt die Erinnerung an die blutige Schlacht, in welcher der jugendliche und
letzte Uugarnkönig Ludwig II. Krone und Leben gegen Soliman II. verlor.
Die Gegend wurde erst belebter, als die Sonne längst gesunken war, die
malerisch gelegene Festung Peterwardcin konnte man uur im Umrisse sehen.
Wir hatten uus schon zur Ruhe gelegt, als wir in Belgrad landeten, von wo
wir wieder nach dem gegenüberliegenden Semlin zurückgekehrten, um hier während
der Nacht Halt zu machen.

Aus Abend und Morgen wurde der zweite Tag unter Wiederholung der
Szenen in der Nacht und beim Aufstehen, wie wir sie tags zuvor schaudernd erlebt
hatten. Bis zum Mittag blieb die Landschaft unverändert, aber schon hatte sich die
Reisegesellschaft in kleine Gruppen gesondert, und wir konnten allerlei von dem
politischen und sozialen Leben hier unten an der Donau erfahren. Die zahl¬
reichen Nationalitäten sind gegeneinander so feindlich gesinnt, daß es hier sicherlich


Eine Fahrt in den Grient.

zugebracht. Ein Aufenthalt an Bord ist bei Nacht nicht gestattet und ver¬
bietet sich von selbst, wenn es, wie in dieser Nacht, mit Strömen vom Himmel
gießt. Als aber aus Abend und Morgen der erste Tag wurde, hatten wir
keineswegs die Genugthuung zu sagen, daß es schön war. Schon um vier Uhr
begann das Aufstehen nud, mit Erlaubnis zu sage», die Reinigung in den zwei
für die gesamte Gesellschaft bestimmten Waschbecken. Jan Steen, Mieris,
Brouwer würden den ausgiebigsten Stoff für Genrebilder voll des köstlichsten
Humors gefunden haben. Wer aber an diesen Szenen thätig teilnehmen soll,
wird jene Empfindung des Missionars haben, wie sie im Tempel des Dalai-
Lama von Platen in seiner „Verhängnisvollen Gabel" so drastisch geschildert
ist. Verhandlungen mit dem Kellner, unterstützt von metallenen Händedruck,
ließen mich in den Besitz einer noch unentweihten Waschschüssel gelangen. O
neuer Tanhciuser, wie empfand ich die tiefe Wahrheit deiner oft geschmähten
Verse:


Sie sah mich an, so kindlich rein,
Hier durste ich der Erste sein!

Nach diesem Siege der Zivilisation über die Barbarei konnte ich auf dem Deck
die frische Morgenluft in vollen Zügen schlürfen. Der Regen war gewichen,
aber noch kämpfte die aufgehende Sonne mit dichtem Nebel, der während der
ersten Stunden die beiden Ufer unsern Blicken entzog. Aber auch in der Natur
siegte das Licht über die Finsternis, und es entwickelte sich ein schöner Tag.
Wir zogen an flachen und öden Ufern entlang; nur ab und zu wurde die tiefe
Stille von Schiffsmühlen und Schleppdampfern unterbrochen, auf dem Lande
unendliche Strecken von Weide- und Wiesenland, dann und wann von Rinder-
und Pferdeherden belebt. Auch diese Landschaftslosigkeit hat einen großen Reiz,
sie wirkt betäubend und träumerisch, man wagt selbst kaum laut zu sprechen
und wird durch jedes heftige Geräusch aufgeschreckt. Auch von den Stationen
bietet keine etwas besondres, nur Mohacs, eine kleine Stadt mit weißen Häusern,
weckt die Erinnerung an die blutige Schlacht, in welcher der jugendliche und
letzte Uugarnkönig Ludwig II. Krone und Leben gegen Soliman II. verlor.
Die Gegend wurde erst belebter, als die Sonne längst gesunken war, die
malerisch gelegene Festung Peterwardcin konnte man uur im Umrisse sehen.
Wir hatten uus schon zur Ruhe gelegt, als wir in Belgrad landeten, von wo
wir wieder nach dem gegenüberliegenden Semlin zurückgekehrten, um hier während
der Nacht Halt zu machen.

Aus Abend und Morgen wurde der zweite Tag unter Wiederholung der
Szenen in der Nacht und beim Aufstehen, wie wir sie tags zuvor schaudernd erlebt
hatten. Bis zum Mittag blieb die Landschaft unverändert, aber schon hatte sich die
Reisegesellschaft in kleine Gruppen gesondert, und wir konnten allerlei von dem
politischen und sozialen Leben hier unten an der Donau erfahren. Die zahl¬
reichen Nationalitäten sind gegeneinander so feindlich gesinnt, daß es hier sicherlich


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[0102] Eine Fahrt in den Grient. zugebracht. Ein Aufenthalt an Bord ist bei Nacht nicht gestattet und ver¬ bietet sich von selbst, wenn es, wie in dieser Nacht, mit Strömen vom Himmel gießt. Als aber aus Abend und Morgen der erste Tag wurde, hatten wir keineswegs die Genugthuung zu sagen, daß es schön war. Schon um vier Uhr begann das Aufstehen nud, mit Erlaubnis zu sage», die Reinigung in den zwei für die gesamte Gesellschaft bestimmten Waschbecken. Jan Steen, Mieris, Brouwer würden den ausgiebigsten Stoff für Genrebilder voll des köstlichsten Humors gefunden haben. Wer aber an diesen Szenen thätig teilnehmen soll, wird jene Empfindung des Missionars haben, wie sie im Tempel des Dalai- Lama von Platen in seiner „Verhängnisvollen Gabel" so drastisch geschildert ist. Verhandlungen mit dem Kellner, unterstützt von metallenen Händedruck, ließen mich in den Besitz einer noch unentweihten Waschschüssel gelangen. O neuer Tanhciuser, wie empfand ich die tiefe Wahrheit deiner oft geschmähten Verse: Sie sah mich an, so kindlich rein, Hier durste ich der Erste sein! Nach diesem Siege der Zivilisation über die Barbarei konnte ich auf dem Deck die frische Morgenluft in vollen Zügen schlürfen. Der Regen war gewichen, aber noch kämpfte die aufgehende Sonne mit dichtem Nebel, der während der ersten Stunden die beiden Ufer unsern Blicken entzog. Aber auch in der Natur siegte das Licht über die Finsternis, und es entwickelte sich ein schöner Tag. Wir zogen an flachen und öden Ufern entlang; nur ab und zu wurde die tiefe Stille von Schiffsmühlen und Schleppdampfern unterbrochen, auf dem Lande unendliche Strecken von Weide- und Wiesenland, dann und wann von Rinder- und Pferdeherden belebt. Auch diese Landschaftslosigkeit hat einen großen Reiz, sie wirkt betäubend und träumerisch, man wagt selbst kaum laut zu sprechen und wird durch jedes heftige Geräusch aufgeschreckt. Auch von den Stationen bietet keine etwas besondres, nur Mohacs, eine kleine Stadt mit weißen Häusern, weckt die Erinnerung an die blutige Schlacht, in welcher der jugendliche und letzte Uugarnkönig Ludwig II. Krone und Leben gegen Soliman II. verlor. Die Gegend wurde erst belebter, als die Sonne längst gesunken war, die malerisch gelegene Festung Peterwardcin konnte man uur im Umrisse sehen. Wir hatten uus schon zur Ruhe gelegt, als wir in Belgrad landeten, von wo wir wieder nach dem gegenüberliegenden Semlin zurückgekehrten, um hier während der Nacht Halt zu machen. Aus Abend und Morgen wurde der zweite Tag unter Wiederholung der Szenen in der Nacht und beim Aufstehen, wie wir sie tags zuvor schaudernd erlebt hatten. Bis zum Mittag blieb die Landschaft unverändert, aber schon hatte sich die Reisegesellschaft in kleine Gruppen gesondert, und wir konnten allerlei von dem politischen und sozialen Leben hier unten an der Donau erfahren. Die zahl¬ reichen Nationalitäten sind gegeneinander so feindlich gesinnt, daß es hier sicherlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/102>, abgerufen am 16.05.2024.