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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Opposition während und nach der letzten Reichstagssession.

zu derselben Zeit, als Boulanger in seiner Rede an die Offiziere seines Armee¬
korps es für Wahnsinn erklärte, zu glauben, daß der Augenblick einer Entwaff¬
nung für Europa gekommen sei, und den Krieg offen als sein Ziel wiederholt
verkündete. Ganz besonders kehrt sich die Wut der fortschrittlichen Politiker
gegen die Nationalliberalen. Es ist das wenigste, wenn sie einer Heuchelei
bezichtigt werden, gegen deren Fäulnis der englische Carl eine edle Offenheit
sei und die weder Haut noch Fleisch noch Knochen schone. Sie sind "Kautschuk¬
seeleu," die ihre Überzeugungen mit Geschwindigkeit umkehren, sie "starren noch
von Boulanger- und Melinitschwindel," sie sind "Vergewaltiger der Verfassung,
die bald in ihrer nackten Blöße am hellen Tage einherwandeln werden." Das
sind so etliche Liebenswürdigkeiten des Organs für jedermann aus dem Volke.
Die Nationalliberalen werden in solchen Produkten von Volksbelehrung eine Be¬
stätigung dafür finden, daß "der Opposition jedes Gefühl für Billigkeit und
Schicklichkeit abhanden gekommen ist," und werden in ihrer Ansicht fester bestärkt
werden, "daß die Wohlfahrt des deutschen Volkes durch die allzu häufige Wieder¬
kehr der Wahlen in hohem Grade gefährdet ist."

Unerwartet, aber überaus freudig begrüßt von allen, denen der Friede in
der Welt das höchste politische Ziel ist, war das Erscheinen des italienischen
Ministerpräsidenten Crispi in Friedrichsruh. Auch hier müssen Freund wie
Feind sich vor der hohen Stacitsknnst des mächtigen Mannes im Sachsenwald
beugen. Es ist das erstemal, daß ein italienischer Minister über die Alpen
gegange" ist, um dem deutschen Reichskanzler die Hand zum Bunde zu reichen.
Über diesem Ereignis, das einen so freudigen Eindruck auf die friedliebenden
Völker machte, verschwand auch der ungünstige Eindruck, den das fatale Be-
gegnis an der Grenze anfangs hervorrief, als ein deutscher Jäger einen franzö¬
sischen Jagdtreiber erschoß. Wer etwas von den Scherereien weiß, denen unsre
Grenzwächter täglich und stündlich von französischer Seite ausgesetzt sind, wer
insonderheit auch die kecke Wilderei berücksichtigt, die von drüben her betrieben
wird, der wird begreifen, mit welcher ungeheuern Schwierigkeit Zusammenstöße
auch der schwersten Art an der Grenze zu vermeiden sind. Die Volkszeitung
benutzte aber auch diesen Fall, um wenigstens mit einem gewissen Maß von
Verschuldung die deutsche Negierung zu beladen. Sie knüpfte ein die Äußerung
der "Post," daß der Unglücksfall sich als eine unmittelbare Folge unsrer Ein¬
richtung darstelle, in hämischer Weise die Bemerkung, die öffentliche Meinung,
verlange, daß Einrichtungen, bei denen es möglich sei, "daß unschuldige oder
doch nur mit einer geringen Schuld belastete Leute von untergeordneten Be¬
amten oder Soldaten, welchen eine klare Vorstellung über das Maß des
Verschuldens nicht innewohnt, erschossen werden können, geändert werden
müssen." Daß es der französischen Negierung zukomme, zu allererst dem
Chauvinismus zu steuern, der sich so häßlich und aufreizend an der Grenze
geltend macht, dafür hat die Volkszeitung kein Wort.


Die Opposition während und nach der letzten Reichstagssession.

zu derselben Zeit, als Boulanger in seiner Rede an die Offiziere seines Armee¬
korps es für Wahnsinn erklärte, zu glauben, daß der Augenblick einer Entwaff¬
nung für Europa gekommen sei, und den Krieg offen als sein Ziel wiederholt
verkündete. Ganz besonders kehrt sich die Wut der fortschrittlichen Politiker
gegen die Nationalliberalen. Es ist das wenigste, wenn sie einer Heuchelei
bezichtigt werden, gegen deren Fäulnis der englische Carl eine edle Offenheit
sei und die weder Haut noch Fleisch noch Knochen schone. Sie sind „Kautschuk¬
seeleu," die ihre Überzeugungen mit Geschwindigkeit umkehren, sie „starren noch
von Boulanger- und Melinitschwindel," sie sind „Vergewaltiger der Verfassung,
die bald in ihrer nackten Blöße am hellen Tage einherwandeln werden." Das
sind so etliche Liebenswürdigkeiten des Organs für jedermann aus dem Volke.
Die Nationalliberalen werden in solchen Produkten von Volksbelehrung eine Be¬
stätigung dafür finden, daß „der Opposition jedes Gefühl für Billigkeit und
Schicklichkeit abhanden gekommen ist," und werden in ihrer Ansicht fester bestärkt
werden, „daß die Wohlfahrt des deutschen Volkes durch die allzu häufige Wieder¬
kehr der Wahlen in hohem Grade gefährdet ist."

Unerwartet, aber überaus freudig begrüßt von allen, denen der Friede in
der Welt das höchste politische Ziel ist, war das Erscheinen des italienischen
Ministerpräsidenten Crispi in Friedrichsruh. Auch hier müssen Freund wie
Feind sich vor der hohen Stacitsknnst des mächtigen Mannes im Sachsenwald
beugen. Es ist das erstemal, daß ein italienischer Minister über die Alpen
gegange» ist, um dem deutschen Reichskanzler die Hand zum Bunde zu reichen.
Über diesem Ereignis, das einen so freudigen Eindruck auf die friedliebenden
Völker machte, verschwand auch der ungünstige Eindruck, den das fatale Be-
gegnis an der Grenze anfangs hervorrief, als ein deutscher Jäger einen franzö¬
sischen Jagdtreiber erschoß. Wer etwas von den Scherereien weiß, denen unsre
Grenzwächter täglich und stündlich von französischer Seite ausgesetzt sind, wer
insonderheit auch die kecke Wilderei berücksichtigt, die von drüben her betrieben
wird, der wird begreifen, mit welcher ungeheuern Schwierigkeit Zusammenstöße
auch der schwersten Art an der Grenze zu vermeiden sind. Die Volkszeitung
benutzte aber auch diesen Fall, um wenigstens mit einem gewissen Maß von
Verschuldung die deutsche Negierung zu beladen. Sie knüpfte ein die Äußerung
der „Post," daß der Unglücksfall sich als eine unmittelbare Folge unsrer Ein¬
richtung darstelle, in hämischer Weise die Bemerkung, die öffentliche Meinung,
verlange, daß Einrichtungen, bei denen es möglich sei, „daß unschuldige oder
doch nur mit einer geringen Schuld belastete Leute von untergeordneten Be¬
amten oder Soldaten, welchen eine klare Vorstellung über das Maß des
Verschuldens nicht innewohnt, erschossen werden können, geändert werden
müssen." Daß es der französischen Negierung zukomme, zu allererst dem
Chauvinismus zu steuern, der sich so häßlich und aufreizend an der Grenze
geltend macht, dafür hat die Volkszeitung kein Wort.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/316>, abgerufen am 05.06.2024.