Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
So schleicht sich sanft und leise
Ins Herzchen unser Schein,
Drum träumt's vom Paradeise
Und von den Engelein.

Mutter, fragte Tippe, als er endlich in sein Bettchen gekommen war und
nun wieder unter den wachsamen Augen des Todes lag und seine kleinen
Hände zum Abendgebete faltete, Mutter, warum habe ich heute eigentlich einen
so wunderschönen Tag gehabt?

Damit du verstehen lernst, wie unendlich gut der liebe Gott ist, antwortete
die Mutter.

Weiter wußte sie ihm nichts auf seine Frage zu antworten -- vielleicht
gab es jemand, der mehr davon wußte.

Als nun auch sie zu Bette gegangen war, und die beiden eine Weile ganz
still gelegen hatten, flüsterten sie plötzlich: schläfst du, mein Herzensjunge?

Nein., antwortete Tippe leise. !

Komm her zu mir und gieb mir noch einen Kuß! bat sie.

Das that er, und dann fühlte er, wie schwer ihm der Kopf ward, und wie
schön es war, ihn auf das weiche Kopfkissen legen und einschlafen zu können.

Warum die Mutter wohl gerade heute abend den Einfall gehabt hatte,
ihn noch um einen letzten Kuß zu bitten, das mochte der liebe Gott wissen.

Die Augen waren dem kleinen Tippe ein wenig schwer, als er am nächsten
Morgen erwachte. Aber die Sonne schien so lustig ins Fenster herein und
hatte so viele Grüße zu bestellen von gestern und zu fragen, ob er sich wohl
noch an dieses oder jenes erinnerte. Und Tippe rieb sich die Augen, um die
Morgensonne besser sehen zu können und um sich darüber klar zu werden, was
sie denn eigentlich von ihm wollte.

Aber als er aufblickte, schaute er gerade in die Augen des Todes, und die
starrten ihn so finster, so hart und strenge an, daß sein Herz laut pochte.

Mutter! rief er leise und ängstlich. Aber die Mutter antwortete nicht.
Als er nach ihrem Bette hinübersah, lag sie noch da und schlief ganz fest, aber
es sah aus, als wenn sie ihm im Schlafe zulächelte! Da legte er sich auch
wieder hin, und plötzlich fiel ihm ein, daß er sich ja nicht vor dein Tode zu
fürchten brauche -- er hatte ja sein Geheimnis. Er riß seine Augen so weit
auf, wie er nur konnte und starrte den Tod an, und der strenge Ausdruck
des Todes wurde milder, seine Zuge verschwamme" mehr und mehr, bis schließlich
nichts mehr davon übrig blieb. Tippes Augenlider senkten sich langsam über
seine Augen, und er war wieder in dem grünen Walde und spielte Haschens
mit der Mutter, aber er konnte ihrer niemals habhaft werden. Hin und her,
zwischen Bäumen und Büschen hindurch, immer mehr von ihr entfernt, so gings
über Stock und Stein und weiter und weiter ohne Ende. Es ward immer dunkler,
schließlich umgab ihn finstere Nacht, und seine Mutter konnte er nicht mehr sehen.


So schleicht sich sanft und leise
Ins Herzchen unser Schein,
Drum träumt's vom Paradeise
Und von den Engelein.

Mutter, fragte Tippe, als er endlich in sein Bettchen gekommen war und
nun wieder unter den wachsamen Augen des Todes lag und seine kleinen
Hände zum Abendgebete faltete, Mutter, warum habe ich heute eigentlich einen
so wunderschönen Tag gehabt?

Damit du verstehen lernst, wie unendlich gut der liebe Gott ist, antwortete
die Mutter.

Weiter wußte sie ihm nichts auf seine Frage zu antworten — vielleicht
gab es jemand, der mehr davon wußte.

Als nun auch sie zu Bette gegangen war, und die beiden eine Weile ganz
still gelegen hatten, flüsterten sie plötzlich: schläfst du, mein Herzensjunge?

Nein., antwortete Tippe leise. !

Komm her zu mir und gieb mir noch einen Kuß! bat sie.

Das that er, und dann fühlte er, wie schwer ihm der Kopf ward, und wie
schön es war, ihn auf das weiche Kopfkissen legen und einschlafen zu können.

Warum die Mutter wohl gerade heute abend den Einfall gehabt hatte,
ihn noch um einen letzten Kuß zu bitten, das mochte der liebe Gott wissen.

Die Augen waren dem kleinen Tippe ein wenig schwer, als er am nächsten
Morgen erwachte. Aber die Sonne schien so lustig ins Fenster herein und
hatte so viele Grüße zu bestellen von gestern und zu fragen, ob er sich wohl
noch an dieses oder jenes erinnerte. Und Tippe rieb sich die Augen, um die
Morgensonne besser sehen zu können und um sich darüber klar zu werden, was
sie denn eigentlich von ihm wollte.

Aber als er aufblickte, schaute er gerade in die Augen des Todes, und die
starrten ihn so finster, so hart und strenge an, daß sein Herz laut pochte.

Mutter! rief er leise und ängstlich. Aber die Mutter antwortete nicht.
Als er nach ihrem Bette hinübersah, lag sie noch da und schlief ganz fest, aber
es sah aus, als wenn sie ihm im Schlafe zulächelte! Da legte er sich auch
wieder hin, und plötzlich fiel ihm ein, daß er sich ja nicht vor dein Tode zu
fürchten brauche — er hatte ja sein Geheimnis. Er riß seine Augen so weit
auf, wie er nur konnte und starrte den Tod an, und der strenge Ausdruck
des Todes wurde milder, seine Zuge verschwamme» mehr und mehr, bis schließlich
nichts mehr davon übrig blieb. Tippes Augenlider senkten sich langsam über
seine Augen, und er war wieder in dem grünen Walde und spielte Haschens
mit der Mutter, aber er konnte ihrer niemals habhaft werden. Hin und her,
zwischen Bäumen und Büschen hindurch, immer mehr von ihr entfernt, so gings
über Stock und Stein und weiter und weiter ohne Ende. Es ward immer dunkler,
schließlich umgab ihn finstere Nacht, und seine Mutter konnte er nicht mehr sehen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0557" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201986"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_119" type="poem">
            <l> So schleicht sich sanft und leise<lb/>
Ins Herzchen unser Schein,<lb/>
Drum träumt's vom Paradeise<lb/>
Und von den Engelein.</l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1518"> Mutter, fragte Tippe, als er endlich in sein Bettchen gekommen war und<lb/>
nun wieder unter den wachsamen Augen des Todes lag und seine kleinen<lb/>
Hände zum Abendgebete faltete, Mutter, warum habe ich heute eigentlich einen<lb/>
so wunderschönen Tag gehabt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1519"> Damit du verstehen lernst, wie unendlich gut der liebe Gott ist, antwortete<lb/>
die Mutter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1520"> Weiter wußte sie ihm nichts auf seine Frage zu antworten &#x2014; vielleicht<lb/>
gab es jemand, der mehr davon wußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1521"> Als nun auch sie zu Bette gegangen war, und die beiden eine Weile ganz<lb/>
still gelegen hatten, flüsterten sie plötzlich: schläfst du, mein Herzensjunge?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1522"> Nein., antwortete Tippe leise. !</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1523"> Komm her zu mir und gieb mir noch einen Kuß! bat sie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1524"> Das that er, und dann fühlte er, wie schwer ihm der Kopf ward, und wie<lb/>
schön es war, ihn auf das weiche Kopfkissen legen und einschlafen zu können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1525"> Warum die Mutter wohl gerade heute abend den Einfall gehabt hatte,<lb/>
ihn noch um einen letzten Kuß zu bitten, das mochte der liebe Gott wissen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1526"> Die Augen waren dem kleinen Tippe ein wenig schwer, als er am nächsten<lb/>
Morgen erwachte. Aber die Sonne schien so lustig ins Fenster herein und<lb/>
hatte so viele Grüße zu bestellen von gestern und zu fragen, ob er sich wohl<lb/>
noch an dieses oder jenes erinnerte. Und Tippe rieb sich die Augen, um die<lb/>
Morgensonne besser sehen zu können und um sich darüber klar zu werden, was<lb/>
sie denn eigentlich von ihm wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1527"> Aber als er aufblickte, schaute er gerade in die Augen des Todes, und die<lb/>
starrten ihn so finster, so hart und strenge an, daß sein Herz laut pochte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1528"> Mutter! rief er leise und ängstlich. Aber die Mutter antwortete nicht.<lb/>
Als er nach ihrem Bette hinübersah, lag sie noch da und schlief ganz fest, aber<lb/>
es sah aus, als wenn sie ihm im Schlafe zulächelte! Da legte er sich auch<lb/>
wieder hin, und plötzlich fiel ihm ein, daß er sich ja nicht vor dein Tode zu<lb/>
fürchten brauche &#x2014; er hatte ja sein Geheimnis. Er riß seine Augen so weit<lb/>
auf, wie er nur konnte und starrte den Tod an, und der strenge Ausdruck<lb/>
des Todes wurde milder, seine Zuge verschwamme» mehr und mehr, bis schließlich<lb/>
nichts mehr davon übrig blieb. Tippes Augenlider senkten sich langsam über<lb/>
seine Augen, und er war wieder in dem grünen Walde und spielte Haschens<lb/>
mit der Mutter, aber er konnte ihrer niemals habhaft werden. Hin und her,<lb/>
zwischen Bäumen und Büschen hindurch, immer mehr von ihr entfernt, so gings<lb/>
über Stock und Stein und weiter und weiter ohne Ende. Es ward immer dunkler,<lb/>
schließlich umgab ihn finstere Nacht, und seine Mutter konnte er nicht mehr sehen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0557] So schleicht sich sanft und leise Ins Herzchen unser Schein, Drum träumt's vom Paradeise Und von den Engelein. Mutter, fragte Tippe, als er endlich in sein Bettchen gekommen war und nun wieder unter den wachsamen Augen des Todes lag und seine kleinen Hände zum Abendgebete faltete, Mutter, warum habe ich heute eigentlich einen so wunderschönen Tag gehabt? Damit du verstehen lernst, wie unendlich gut der liebe Gott ist, antwortete die Mutter. Weiter wußte sie ihm nichts auf seine Frage zu antworten — vielleicht gab es jemand, der mehr davon wußte. Als nun auch sie zu Bette gegangen war, und die beiden eine Weile ganz still gelegen hatten, flüsterten sie plötzlich: schläfst du, mein Herzensjunge? Nein., antwortete Tippe leise. ! Komm her zu mir und gieb mir noch einen Kuß! bat sie. Das that er, und dann fühlte er, wie schwer ihm der Kopf ward, und wie schön es war, ihn auf das weiche Kopfkissen legen und einschlafen zu können. Warum die Mutter wohl gerade heute abend den Einfall gehabt hatte, ihn noch um einen letzten Kuß zu bitten, das mochte der liebe Gott wissen. Die Augen waren dem kleinen Tippe ein wenig schwer, als er am nächsten Morgen erwachte. Aber die Sonne schien so lustig ins Fenster herein und hatte so viele Grüße zu bestellen von gestern und zu fragen, ob er sich wohl noch an dieses oder jenes erinnerte. Und Tippe rieb sich die Augen, um die Morgensonne besser sehen zu können und um sich darüber klar zu werden, was sie denn eigentlich von ihm wollte. Aber als er aufblickte, schaute er gerade in die Augen des Todes, und die starrten ihn so finster, so hart und strenge an, daß sein Herz laut pochte. Mutter! rief er leise und ängstlich. Aber die Mutter antwortete nicht. Als er nach ihrem Bette hinübersah, lag sie noch da und schlief ganz fest, aber es sah aus, als wenn sie ihm im Schlafe zulächelte! Da legte er sich auch wieder hin, und plötzlich fiel ihm ein, daß er sich ja nicht vor dein Tode zu fürchten brauche — er hatte ja sein Geheimnis. Er riß seine Augen so weit auf, wie er nur konnte und starrte den Tod an, und der strenge Ausdruck des Todes wurde milder, seine Zuge verschwamme» mehr und mehr, bis schließlich nichts mehr davon übrig blieb. Tippes Augenlider senkten sich langsam über seine Augen, und er war wieder in dem grünen Walde und spielte Haschens mit der Mutter, aber er konnte ihrer niemals habhaft werden. Hin und her, zwischen Bäumen und Büschen hindurch, immer mehr von ihr entfernt, so gings über Stock und Stein und weiter und weiter ohne Ende. Es ward immer dunkler, schließlich umgab ihn finstere Nacht, und seine Mutter konnte er nicht mehr sehen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/557
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/557>, abgerufen am 16.05.2024.