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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Mutter! Ich hab dich so lieb! Komm doch wieder zu mir! rief er laut
in seiner Herzensangst, und die Thränen flössen über seine Wangen hinab.

In demselben Augenblicke erwachte er und sah, daß sich ein Antlitz über
sein Bett herabbengte. Aber seiner Mutter Antlitz war es nicht. Er kannte
es wohl, es war das Gesicht der jungen Frau des Schulmeisters, die den
kleinen Knaben hatte, der noch nicht sprechen und laufen, sondern nur auf
seiner Mutter Schooß strampeln konnte, und der immer so laut lachte, wenn
Tippe ihm Kunststücke vormachte. Tippe machte dem kleinen Jungen gerne
Kunststücke vor, denn dann fühlte er, daß er selber schon ein sehr großer Junge
war; und auch die Mutter des kleinen Knaben mochte er gern leiden, denn sie
war immer so freundlich gegen ihn. Aber trotz alledem war er doch nicht
damit einverstanden, daß sie es war und nicht seine Mutter, die jetzt ihr Antlitz
über ihn beugte.

Still, Tippe! Die Mutter schläft! flüsterte sie, und nun wußte Tippe,
weshalb die Frau des Schulmeisters an seinem Bette stand.

Aber warum sah sie denn so verweint aus, und warum fielen ihre Thränen
auf sein Gesicht, während sie ihn ankleidete und ihn dann an die Hand nahm
und ohne ein Wort zu sagen aus der Schlafkammer führte? Und warum saß
der alte Jens da draußen, den Kopf in beide Hände gestützt, und warum wollte
er nicht aufsehen und verließ das Zimmer, als ihm Tippe guten Morgen sagen
wollte? Und warum war es schon Mittag? Tippe war ja eben erst auf¬
gestanden. Und warum wollte die Frau des Schulmeisters ihn durchaus mit
sich nehmen, warum sollte er dort zu Mittag essen, ohne auf die Mutter zu
warten? Warum sprachen sie alle so leise, als er hinkam? und warum klang
alles, was sie zu ihm sagten, so wunderbar mild und sanft, daß er am liebsten
darüber hätte weinen mögen?

Da war so viel, worüber er sich wundern mußte, und sein Kopf war so
merkwürdig schwer, und es summte so eigentümlich darin, daß es ihm unmöglich
war, etwas von alledem zu verstehen.

Er saß am Tische und konnte keinen Bissen hinunterbringen. Dann nahm
die Mutter ihren kleinen Sohn auf den Schooß, und der war so lustig und
streckte die kleinen Ärmchen nach Tippe aus, als wollte er fragen, wo denn die
Kunststücke blieben; aber Tippe fühlte, daß es ihm heute ganz unmöglich sei,
auch nur ein einziges Kunststück zu machen.

Aber woher soll denn die Mutter etwas zu essen bekommen, wenn sie
aufwacht? fragte er plötzlich und blickte die Mutter des kleinen Knaben mit
seinen großen, kummervollen Augen an. Warum antwortete sie ihm nicht,
sondern schlang die Arme um ihren kleinen Sohn und verließ schnell das Zimmer?

Tippe setzte sich auf einen Schemel in eine Ecke, lehnte sein müdes Haupt
an die Wand und schloß die Augen, als schliefe er. Aber er schlief nicht.
Er saß nur da, und es war ihm, als sei alles um ihn her nur ein Traum,


Gevatter Tod.

Mutter! Ich hab dich so lieb! Komm doch wieder zu mir! rief er laut
in seiner Herzensangst, und die Thränen flössen über seine Wangen hinab.

In demselben Augenblicke erwachte er und sah, daß sich ein Antlitz über
sein Bett herabbengte. Aber seiner Mutter Antlitz war es nicht. Er kannte
es wohl, es war das Gesicht der jungen Frau des Schulmeisters, die den
kleinen Knaben hatte, der noch nicht sprechen und laufen, sondern nur auf
seiner Mutter Schooß strampeln konnte, und der immer so laut lachte, wenn
Tippe ihm Kunststücke vormachte. Tippe machte dem kleinen Jungen gerne
Kunststücke vor, denn dann fühlte er, daß er selber schon ein sehr großer Junge
war; und auch die Mutter des kleinen Knaben mochte er gern leiden, denn sie
war immer so freundlich gegen ihn. Aber trotz alledem war er doch nicht
damit einverstanden, daß sie es war und nicht seine Mutter, die jetzt ihr Antlitz
über ihn beugte.

Still, Tippe! Die Mutter schläft! flüsterte sie, und nun wußte Tippe,
weshalb die Frau des Schulmeisters an seinem Bette stand.

Aber warum sah sie denn so verweint aus, und warum fielen ihre Thränen
auf sein Gesicht, während sie ihn ankleidete und ihn dann an die Hand nahm
und ohne ein Wort zu sagen aus der Schlafkammer führte? Und warum saß
der alte Jens da draußen, den Kopf in beide Hände gestützt, und warum wollte
er nicht aufsehen und verließ das Zimmer, als ihm Tippe guten Morgen sagen
wollte? Und warum war es schon Mittag? Tippe war ja eben erst auf¬
gestanden. Und warum wollte die Frau des Schulmeisters ihn durchaus mit
sich nehmen, warum sollte er dort zu Mittag essen, ohne auf die Mutter zu
warten? Warum sprachen sie alle so leise, als er hinkam? und warum klang
alles, was sie zu ihm sagten, so wunderbar mild und sanft, daß er am liebsten
darüber hätte weinen mögen?

Da war so viel, worüber er sich wundern mußte, und sein Kopf war so
merkwürdig schwer, und es summte so eigentümlich darin, daß es ihm unmöglich
war, etwas von alledem zu verstehen.

Er saß am Tische und konnte keinen Bissen hinunterbringen. Dann nahm
die Mutter ihren kleinen Sohn auf den Schooß, und der war so lustig und
streckte die kleinen Ärmchen nach Tippe aus, als wollte er fragen, wo denn die
Kunststücke blieben; aber Tippe fühlte, daß es ihm heute ganz unmöglich sei,
auch nur ein einziges Kunststück zu machen.

Aber woher soll denn die Mutter etwas zu essen bekommen, wenn sie
aufwacht? fragte er plötzlich und blickte die Mutter des kleinen Knaben mit
seinen großen, kummervollen Augen an. Warum antwortete sie ihm nicht,
sondern schlang die Arme um ihren kleinen Sohn und verließ schnell das Zimmer?

Tippe setzte sich auf einen Schemel in eine Ecke, lehnte sein müdes Haupt
an die Wand und schloß die Augen, als schliefe er. Aber er schlief nicht.
Er saß nur da, und es war ihm, als sei alles um ihn her nur ein Traum,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/558>, abgerufen am 05.06.2024.