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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Tage am Jahresschlusse."

Seite; überall ist die Autorität erschüttert; ein unbändiges, an keine Zucht und
Ordnung gewöhntes Geschlecht wird herangezogen, und die Schreier auf der
Straße sind es, welche die gemäßigten und anständigen Elemente verdrängen.
Die Grevysche Ministerkrisis hat ein trauriges Bild der Verhältnisse enthüllt;
die herrschenden Klassen, angefressen von Gier nach Geld und Gut, um selbst
das Amt in verbrecherischer Weise auszubeuten, das niedere Volk zuchtlos und
zu Gewaltthätigkeiten geneigt. Man konnte zweifeln, ob die Wahl des Präsi¬
denten der Republik ruhig vor sich gehen würde; daß es noch in letzter Stunde
geschehen ist, muß dem glücklichen Umstände zugeschrieben werden, daß sich die
Truppen in Paris als zuverlässig bewiesen, und daß der Straßcnmeute willig
ein Opfer gebracht wurde. Ohne das Wutgeschrei der Radikalen und ohne die
Drohungen der Anarchisten würde Jules Ferrh, der fähigste Mann der dritten
Republik, gewählt worden sein. Soweit erstreckt sich schon der Einfluß des
Pariser Straßenpöbels auf die Geschicke Frankreichs.

Daß diese Zustände ungünstig auf Handel und Industrie wirken, bedarf
keiner Ausführung; die Militär- und Steuerlast wird unerschwinglich, und selbst
der friedliebende Teil der Bevölkerung fürchtet schon nicht mehr in dem Maße
den Krieg wie früher. Und dieser Teil fällt für die politische Entscheidung gar
nicht ins Gewicht; denn Krieg mit Deutschland wollen die französischen Parteien
sämtlich, Republikaner wie Monarchisten und Anarchisten. Soweit es sich um
Rache für die erlittene Niederlage und um Wiedereroberung von Elsaß-Loth¬
ringen handelt, hört in Frankreich jeder Parteiunterschied auf, und dieser
-- wenn auch nach falscher Richtung hinneigende -- Patriotismus ist ein
kräftiges Band, welches Frankreich zusammenhält und den Neid der Nachbar¬
völker wachzurufen geeignet ist. Der französische Legitimist, der sich kein Ge¬
wissen daraus machen würde, den Bürgerkrieg heraufzubeschwören -- wenn Aus¬
sicht vorhanden wäre, die Republik zu vernichten --, er würde sich nicht einen
Augenblick besinnen, sich unter die Fahne des verhaßten Generals Boulanger
zu stellen. Der Anarchist, welcher täglich das Bürgertum bedroht und es durch
die Aussicht auf gewaltsamen Umsturz einschüchtert, er schmäht Deutschland als
den Nationalfeind. Während der deutsche Sozialdemokrat sich mit seiner vater¬
landslosen Gesinnung brüstet, der Abgeordnete Bebel nicht ansteht, von der
Tribüne des Reichstages herab alles zu thun, was dem deutschen Reiche auch
dem Auslande gegenüber schaden kann, ruft der Pariser Sozialrevolutionäre:
"Nieder mit Preußen, es lebe Nußland." Die Parteien wollen alle den Krieg und
wollen Elsaß-Lothringen, auch die Opportunisten, welche den Frieden im Munde
sühren, wollen ihn; nur über die Frage des Beginnes besteht eine Verschieden¬
heit der Auffassung. Der rote Teil der Republikaner ist zu einem Losschlagen,
schlimmstenfalls auch ohne Bündnis, geneigt, er hat größere Zuversicht in die
Tüchtigkeit seiner republikanischen Generale und der Armee. Die gemäßigtere
Richtung will ganz sicher gehen; sie will den Krieg, nur wenn über den für


Die politische Tage am Jahresschlusse."

Seite; überall ist die Autorität erschüttert; ein unbändiges, an keine Zucht und
Ordnung gewöhntes Geschlecht wird herangezogen, und die Schreier auf der
Straße sind es, welche die gemäßigten und anständigen Elemente verdrängen.
Die Grevysche Ministerkrisis hat ein trauriges Bild der Verhältnisse enthüllt;
die herrschenden Klassen, angefressen von Gier nach Geld und Gut, um selbst
das Amt in verbrecherischer Weise auszubeuten, das niedere Volk zuchtlos und
zu Gewaltthätigkeiten geneigt. Man konnte zweifeln, ob die Wahl des Präsi¬
denten der Republik ruhig vor sich gehen würde; daß es noch in letzter Stunde
geschehen ist, muß dem glücklichen Umstände zugeschrieben werden, daß sich die
Truppen in Paris als zuverlässig bewiesen, und daß der Straßcnmeute willig
ein Opfer gebracht wurde. Ohne das Wutgeschrei der Radikalen und ohne die
Drohungen der Anarchisten würde Jules Ferrh, der fähigste Mann der dritten
Republik, gewählt worden sein. Soweit erstreckt sich schon der Einfluß des
Pariser Straßenpöbels auf die Geschicke Frankreichs.

Daß diese Zustände ungünstig auf Handel und Industrie wirken, bedarf
keiner Ausführung; die Militär- und Steuerlast wird unerschwinglich, und selbst
der friedliebende Teil der Bevölkerung fürchtet schon nicht mehr in dem Maße
den Krieg wie früher. Und dieser Teil fällt für die politische Entscheidung gar
nicht ins Gewicht; denn Krieg mit Deutschland wollen die französischen Parteien
sämtlich, Republikaner wie Monarchisten und Anarchisten. Soweit es sich um
Rache für die erlittene Niederlage und um Wiedereroberung von Elsaß-Loth¬
ringen handelt, hört in Frankreich jeder Parteiunterschied auf, und dieser
— wenn auch nach falscher Richtung hinneigende — Patriotismus ist ein
kräftiges Band, welches Frankreich zusammenhält und den Neid der Nachbar¬
völker wachzurufen geeignet ist. Der französische Legitimist, der sich kein Ge¬
wissen daraus machen würde, den Bürgerkrieg heraufzubeschwören — wenn Aus¬
sicht vorhanden wäre, die Republik zu vernichten —, er würde sich nicht einen
Augenblick besinnen, sich unter die Fahne des verhaßten Generals Boulanger
zu stellen. Der Anarchist, welcher täglich das Bürgertum bedroht und es durch
die Aussicht auf gewaltsamen Umsturz einschüchtert, er schmäht Deutschland als
den Nationalfeind. Während der deutsche Sozialdemokrat sich mit seiner vater¬
landslosen Gesinnung brüstet, der Abgeordnete Bebel nicht ansteht, von der
Tribüne des Reichstages herab alles zu thun, was dem deutschen Reiche auch
dem Auslande gegenüber schaden kann, ruft der Pariser Sozialrevolutionäre:
„Nieder mit Preußen, es lebe Nußland." Die Parteien wollen alle den Krieg und
wollen Elsaß-Lothringen, auch die Opportunisten, welche den Frieden im Munde
sühren, wollen ihn; nur über die Frage des Beginnes besteht eine Verschieden¬
heit der Auffassung. Der rote Teil der Republikaner ist zu einem Losschlagen,
schlimmstenfalls auch ohne Bündnis, geneigt, er hat größere Zuversicht in die
Tüchtigkeit seiner republikanischen Generale und der Armee. Die gemäßigtere
Richtung will ganz sicher gehen; sie will den Krieg, nur wenn über den für


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[0618] Die politische Tage am Jahresschlusse." Seite; überall ist die Autorität erschüttert; ein unbändiges, an keine Zucht und Ordnung gewöhntes Geschlecht wird herangezogen, und die Schreier auf der Straße sind es, welche die gemäßigten und anständigen Elemente verdrängen. Die Grevysche Ministerkrisis hat ein trauriges Bild der Verhältnisse enthüllt; die herrschenden Klassen, angefressen von Gier nach Geld und Gut, um selbst das Amt in verbrecherischer Weise auszubeuten, das niedere Volk zuchtlos und zu Gewaltthätigkeiten geneigt. Man konnte zweifeln, ob die Wahl des Präsi¬ denten der Republik ruhig vor sich gehen würde; daß es noch in letzter Stunde geschehen ist, muß dem glücklichen Umstände zugeschrieben werden, daß sich die Truppen in Paris als zuverlässig bewiesen, und daß der Straßcnmeute willig ein Opfer gebracht wurde. Ohne das Wutgeschrei der Radikalen und ohne die Drohungen der Anarchisten würde Jules Ferrh, der fähigste Mann der dritten Republik, gewählt worden sein. Soweit erstreckt sich schon der Einfluß des Pariser Straßenpöbels auf die Geschicke Frankreichs. Daß diese Zustände ungünstig auf Handel und Industrie wirken, bedarf keiner Ausführung; die Militär- und Steuerlast wird unerschwinglich, und selbst der friedliebende Teil der Bevölkerung fürchtet schon nicht mehr in dem Maße den Krieg wie früher. Und dieser Teil fällt für die politische Entscheidung gar nicht ins Gewicht; denn Krieg mit Deutschland wollen die französischen Parteien sämtlich, Republikaner wie Monarchisten und Anarchisten. Soweit es sich um Rache für die erlittene Niederlage und um Wiedereroberung von Elsaß-Loth¬ ringen handelt, hört in Frankreich jeder Parteiunterschied auf, und dieser — wenn auch nach falscher Richtung hinneigende — Patriotismus ist ein kräftiges Band, welches Frankreich zusammenhält und den Neid der Nachbar¬ völker wachzurufen geeignet ist. Der französische Legitimist, der sich kein Ge¬ wissen daraus machen würde, den Bürgerkrieg heraufzubeschwören — wenn Aus¬ sicht vorhanden wäre, die Republik zu vernichten —, er würde sich nicht einen Augenblick besinnen, sich unter die Fahne des verhaßten Generals Boulanger zu stellen. Der Anarchist, welcher täglich das Bürgertum bedroht und es durch die Aussicht auf gewaltsamen Umsturz einschüchtert, er schmäht Deutschland als den Nationalfeind. Während der deutsche Sozialdemokrat sich mit seiner vater¬ landslosen Gesinnung brüstet, der Abgeordnete Bebel nicht ansteht, von der Tribüne des Reichstages herab alles zu thun, was dem deutschen Reiche auch dem Auslande gegenüber schaden kann, ruft der Pariser Sozialrevolutionäre: „Nieder mit Preußen, es lebe Nußland." Die Parteien wollen alle den Krieg und wollen Elsaß-Lothringen, auch die Opportunisten, welche den Frieden im Munde sühren, wollen ihn; nur über die Frage des Beginnes besteht eine Verschieden¬ heit der Auffassung. Der rote Teil der Republikaner ist zu einem Losschlagen, schlimmstenfalls auch ohne Bündnis, geneigt, er hat größere Zuversicht in die Tüchtigkeit seiner republikanischen Generale und der Armee. Die gemäßigtere Richtung will ganz sicher gehen; sie will den Krieg, nur wenn über den für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/618>, abgerufen am 22.05.2024.