Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die politische Lage am Jahresschlusse.

Frankreich glücklichen Ausgang kein Zweifel besteht. Die Opportunisten wissen,
daß ein glücklicher Krieg ihnen die Republik auf eine unabsehbare Zeit aus¬
liefert, daß sie dann der Radikalen ebenso Meister werden wie der Monarchisten,
sie wissen aber auch, daß eine Niederlage sie von der Bildfläche hinweg fegt
-- sei es mit Besen oder mit Guillotine --, gleichviel, ob die militärische
Niederwerfung eine Wiedererrichtung der Monarchie oder der Kommune nach
sich zieht. Je nachdem also in Frankreich ein radikales oder ein mehr oppor¬
tunistisches Ministerium an der Spitze steht, ist ein Krieg mit uns in mehr
oder weniger naher Aussicht. Die innern Verhältnisse Frankreichs lassen aber
weder einen Schluß zu, welche Richtung zur Gewalt gelangen wird, noch geben
sie die Sicherheit, ob sich diese Richtung lange an der Gewalt erhalten wird. Von
französischer Seite ist die Bedrohung dauernd, und nur der wirkliche Ausbruch
des Krieges ungewiß.

Was Rußland anlangt, so hat sich hier seit kurzer Zeit ein Wechsel voll¬
zogen, an den auch heute noch viele nicht glauben wollen, weil sie vergeblich
einen verständigen Grund dafür suchen. Denn die deutsch-russische Freundschaft,
ein jahrhundertelanges Erbstück der beiden Völker, schien selbstverständlich; von
Deutschland aus hat Nußland seine Zivilisation und seine Herrscher empfangen,
mit Preußen hat es jahrelang denselben Feind bekämpft, dasselbe Waffenunglück
ertragen und sich derselben Siege erfreut. Wirtschaftlich war der Verkehr der
beiderseitigen Volksgenossen so innig, daß leider Nußland auch seine Finanznot
mit deutschem Gelde beseitigte und seine Kriege mit deutschen Anlehen führte.

So ist es auch geblieben bis zum Tode des Zaren Alexander II. Erst
von da an vollzieht sich ein Wandel, den man wegen des Zeitpunktes seines
Beginnes auf den gegenwärtigen Zaren zurückführen zu müssen glaubt.
Alexander III. gelangte in einem schweren Augenblicke zur Regierung; überall
von gefährlichen Verschwörern umgeben und weder auf der Straße noch im
Palast seines Lebens sicher, glaubte er eine Stütze des Thrones in dem Alt-
russentum zu finden. Dieses ist panslawistisch; ihm schwebt als höchstes Ideal
ein großes Slawenreich vor, welches den Pontus Euxinus wie das Mittelmeer,
den Ganges wie die Donau beherrscht. Gegenüber solchen Zielen sind Fragen
der innern Politik gleichgiltig; der russische Bauer mit seinem phantastischen
Hang zum Mystizismus ist den panslawistischen Gedanken zugänglich. Der
russische Thron gewann zuerst durch diese Richtung eine neue Kraft, die es
ihm möglich machte, fortzubestehen, aber er beschwor zugleich Geister mit herauf,
deren Bundesgenossenschaft immer gefährlicher wird. Denn die panslawistische
Bewegung ist nicht mehr rein, sie ist vielmehr durch nihilistische und revolutionäre
Ziele beeinflußt. Der beste Beweis hierfür ist die Freundschaft zwischen den
Führern des Panslawismus in Se. Petersburg und den radikalen Häuptern in
Paris. Die russische Aristokratie, welche das panslawistische Wappenschild trägt,
ist durch und durch von revolutionären und demokratischen Gedanken zerfressen,


Die politische Lage am Jahresschlusse.

Frankreich glücklichen Ausgang kein Zweifel besteht. Die Opportunisten wissen,
daß ein glücklicher Krieg ihnen die Republik auf eine unabsehbare Zeit aus¬
liefert, daß sie dann der Radikalen ebenso Meister werden wie der Monarchisten,
sie wissen aber auch, daß eine Niederlage sie von der Bildfläche hinweg fegt
— sei es mit Besen oder mit Guillotine —, gleichviel, ob die militärische
Niederwerfung eine Wiedererrichtung der Monarchie oder der Kommune nach
sich zieht. Je nachdem also in Frankreich ein radikales oder ein mehr oppor¬
tunistisches Ministerium an der Spitze steht, ist ein Krieg mit uns in mehr
oder weniger naher Aussicht. Die innern Verhältnisse Frankreichs lassen aber
weder einen Schluß zu, welche Richtung zur Gewalt gelangen wird, noch geben
sie die Sicherheit, ob sich diese Richtung lange an der Gewalt erhalten wird. Von
französischer Seite ist die Bedrohung dauernd, und nur der wirkliche Ausbruch
des Krieges ungewiß.

Was Rußland anlangt, so hat sich hier seit kurzer Zeit ein Wechsel voll¬
zogen, an den auch heute noch viele nicht glauben wollen, weil sie vergeblich
einen verständigen Grund dafür suchen. Denn die deutsch-russische Freundschaft,
ein jahrhundertelanges Erbstück der beiden Völker, schien selbstverständlich; von
Deutschland aus hat Nußland seine Zivilisation und seine Herrscher empfangen,
mit Preußen hat es jahrelang denselben Feind bekämpft, dasselbe Waffenunglück
ertragen und sich derselben Siege erfreut. Wirtschaftlich war der Verkehr der
beiderseitigen Volksgenossen so innig, daß leider Nußland auch seine Finanznot
mit deutschem Gelde beseitigte und seine Kriege mit deutschen Anlehen führte.

So ist es auch geblieben bis zum Tode des Zaren Alexander II. Erst
von da an vollzieht sich ein Wandel, den man wegen des Zeitpunktes seines
Beginnes auf den gegenwärtigen Zaren zurückführen zu müssen glaubt.
Alexander III. gelangte in einem schweren Augenblicke zur Regierung; überall
von gefährlichen Verschwörern umgeben und weder auf der Straße noch im
Palast seines Lebens sicher, glaubte er eine Stütze des Thrones in dem Alt-
russentum zu finden. Dieses ist panslawistisch; ihm schwebt als höchstes Ideal
ein großes Slawenreich vor, welches den Pontus Euxinus wie das Mittelmeer,
den Ganges wie die Donau beherrscht. Gegenüber solchen Zielen sind Fragen
der innern Politik gleichgiltig; der russische Bauer mit seinem phantastischen
Hang zum Mystizismus ist den panslawistischen Gedanken zugänglich. Der
russische Thron gewann zuerst durch diese Richtung eine neue Kraft, die es
ihm möglich machte, fortzubestehen, aber er beschwor zugleich Geister mit herauf,
deren Bundesgenossenschaft immer gefährlicher wird. Denn die panslawistische
Bewegung ist nicht mehr rein, sie ist vielmehr durch nihilistische und revolutionäre
Ziele beeinflußt. Der beste Beweis hierfür ist die Freundschaft zwischen den
Führern des Panslawismus in Se. Petersburg und den radikalen Häuptern in
Paris. Die russische Aristokratie, welche das panslawistische Wappenschild trägt,
ist durch und durch von revolutionären und demokratischen Gedanken zerfressen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0619" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202048"/>
          <fw type="header" place="top"> Die politische Lage am Jahresschlusse.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1794" prev="#ID_1793"> Frankreich glücklichen Ausgang kein Zweifel besteht. Die Opportunisten wissen,<lb/>
daß ein glücklicher Krieg ihnen die Republik auf eine unabsehbare Zeit aus¬<lb/>
liefert, daß sie dann der Radikalen ebenso Meister werden wie der Monarchisten,<lb/>
sie wissen aber auch, daß eine Niederlage sie von der Bildfläche hinweg fegt<lb/>
&#x2014; sei es mit Besen oder mit Guillotine &#x2014;, gleichviel, ob die militärische<lb/>
Niederwerfung eine Wiedererrichtung der Monarchie oder der Kommune nach<lb/>
sich zieht. Je nachdem also in Frankreich ein radikales oder ein mehr oppor¬<lb/>
tunistisches Ministerium an der Spitze steht, ist ein Krieg mit uns in mehr<lb/>
oder weniger naher Aussicht. Die innern Verhältnisse Frankreichs lassen aber<lb/>
weder einen Schluß zu, welche Richtung zur Gewalt gelangen wird, noch geben<lb/>
sie die Sicherheit, ob sich diese Richtung lange an der Gewalt erhalten wird. Von<lb/>
französischer Seite ist die Bedrohung dauernd, und nur der wirkliche Ausbruch<lb/>
des Krieges ungewiß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1795"> Was Rußland anlangt, so hat sich hier seit kurzer Zeit ein Wechsel voll¬<lb/>
zogen, an den auch heute noch viele nicht glauben wollen, weil sie vergeblich<lb/>
einen verständigen Grund dafür suchen. Denn die deutsch-russische Freundschaft,<lb/>
ein jahrhundertelanges Erbstück der beiden Völker, schien selbstverständlich; von<lb/>
Deutschland aus hat Nußland seine Zivilisation und seine Herrscher empfangen,<lb/>
mit Preußen hat es jahrelang denselben Feind bekämpft, dasselbe Waffenunglück<lb/>
ertragen und sich derselben Siege erfreut. Wirtschaftlich war der Verkehr der<lb/>
beiderseitigen Volksgenossen so innig, daß leider Nußland auch seine Finanznot<lb/>
mit deutschem Gelde beseitigte und seine Kriege mit deutschen Anlehen führte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1796" next="#ID_1797"> So ist es auch geblieben bis zum Tode des Zaren Alexander II. Erst<lb/>
von da an vollzieht sich ein Wandel, den man wegen des Zeitpunktes seines<lb/>
Beginnes auf den gegenwärtigen Zaren zurückführen zu müssen glaubt.<lb/>
Alexander III. gelangte in einem schweren Augenblicke zur Regierung; überall<lb/>
von gefährlichen Verschwörern umgeben und weder auf der Straße noch im<lb/>
Palast seines Lebens sicher, glaubte er eine Stütze des Thrones in dem Alt-<lb/>
russentum zu finden. Dieses ist panslawistisch; ihm schwebt als höchstes Ideal<lb/>
ein großes Slawenreich vor, welches den Pontus Euxinus wie das Mittelmeer,<lb/>
den Ganges wie die Donau beherrscht. Gegenüber solchen Zielen sind Fragen<lb/>
der innern Politik gleichgiltig; der russische Bauer mit seinem phantastischen<lb/>
Hang zum Mystizismus ist den panslawistischen Gedanken zugänglich. Der<lb/>
russische Thron gewann zuerst durch diese Richtung eine neue Kraft, die es<lb/>
ihm möglich machte, fortzubestehen, aber er beschwor zugleich Geister mit herauf,<lb/>
deren Bundesgenossenschaft immer gefährlicher wird. Denn die panslawistische<lb/>
Bewegung ist nicht mehr rein, sie ist vielmehr durch nihilistische und revolutionäre<lb/>
Ziele beeinflußt. Der beste Beweis hierfür ist die Freundschaft zwischen den<lb/>
Führern des Panslawismus in Se. Petersburg und den radikalen Häuptern in<lb/>
Paris. Die russische Aristokratie, welche das panslawistische Wappenschild trägt,<lb/>
ist durch und durch von revolutionären und demokratischen Gedanken zerfressen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0619] Die politische Lage am Jahresschlusse. Frankreich glücklichen Ausgang kein Zweifel besteht. Die Opportunisten wissen, daß ein glücklicher Krieg ihnen die Republik auf eine unabsehbare Zeit aus¬ liefert, daß sie dann der Radikalen ebenso Meister werden wie der Monarchisten, sie wissen aber auch, daß eine Niederlage sie von der Bildfläche hinweg fegt — sei es mit Besen oder mit Guillotine —, gleichviel, ob die militärische Niederwerfung eine Wiedererrichtung der Monarchie oder der Kommune nach sich zieht. Je nachdem also in Frankreich ein radikales oder ein mehr oppor¬ tunistisches Ministerium an der Spitze steht, ist ein Krieg mit uns in mehr oder weniger naher Aussicht. Die innern Verhältnisse Frankreichs lassen aber weder einen Schluß zu, welche Richtung zur Gewalt gelangen wird, noch geben sie die Sicherheit, ob sich diese Richtung lange an der Gewalt erhalten wird. Von französischer Seite ist die Bedrohung dauernd, und nur der wirkliche Ausbruch des Krieges ungewiß. Was Rußland anlangt, so hat sich hier seit kurzer Zeit ein Wechsel voll¬ zogen, an den auch heute noch viele nicht glauben wollen, weil sie vergeblich einen verständigen Grund dafür suchen. Denn die deutsch-russische Freundschaft, ein jahrhundertelanges Erbstück der beiden Völker, schien selbstverständlich; von Deutschland aus hat Nußland seine Zivilisation und seine Herrscher empfangen, mit Preußen hat es jahrelang denselben Feind bekämpft, dasselbe Waffenunglück ertragen und sich derselben Siege erfreut. Wirtschaftlich war der Verkehr der beiderseitigen Volksgenossen so innig, daß leider Nußland auch seine Finanznot mit deutschem Gelde beseitigte und seine Kriege mit deutschen Anlehen führte. So ist es auch geblieben bis zum Tode des Zaren Alexander II. Erst von da an vollzieht sich ein Wandel, den man wegen des Zeitpunktes seines Beginnes auf den gegenwärtigen Zaren zurückführen zu müssen glaubt. Alexander III. gelangte in einem schweren Augenblicke zur Regierung; überall von gefährlichen Verschwörern umgeben und weder auf der Straße noch im Palast seines Lebens sicher, glaubte er eine Stütze des Thrones in dem Alt- russentum zu finden. Dieses ist panslawistisch; ihm schwebt als höchstes Ideal ein großes Slawenreich vor, welches den Pontus Euxinus wie das Mittelmeer, den Ganges wie die Donau beherrscht. Gegenüber solchen Zielen sind Fragen der innern Politik gleichgiltig; der russische Bauer mit seinem phantastischen Hang zum Mystizismus ist den panslawistischen Gedanken zugänglich. Der russische Thron gewann zuerst durch diese Richtung eine neue Kraft, die es ihm möglich machte, fortzubestehen, aber er beschwor zugleich Geister mit herauf, deren Bundesgenossenschaft immer gefährlicher wird. Denn die panslawistische Bewegung ist nicht mehr rein, sie ist vielmehr durch nihilistische und revolutionäre Ziele beeinflußt. Der beste Beweis hierfür ist die Freundschaft zwischen den Führern des Panslawismus in Se. Petersburg und den radikalen Häuptern in Paris. Die russische Aristokratie, welche das panslawistische Wappenschild trägt, ist durch und durch von revolutionären und demokratischen Gedanken zerfressen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/619
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/619>, abgerufen am 15.06.2024.