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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Mündlichkeit im Zivilprozeß.

einen Vorwurf darus, daß sie die Sicherheit der Urteilsgrundlage der "Wahr¬
heit und Lebendigkeit der Verhandlung" vorziehen. Mit rücksichtsloser Schärfe,
aber unsers Bedünkens mit vollem Recht, wendet sich Bahr gegen diese
"Mündlichkeitsschwärmerei," "welche die Mündlichkeit als Selbstzweck betrachtet,
während sie doch nur eine Form für den Zweck ist, den Inhalt des Streites
dem Gericht zur Anschauung zu bringen." Wir können uns nicht versagen,
die im Anschluß hieran erfolgende Ausführung Bcihrs über die Bedeutung
der Mündlichkeit im Zivilprozeß mit seinen eignen Worten folgen zu lasse",
da diese uns durchaus zutreffend erscheinen und zugleich seine Stellung zu der
Frage am besten bezeichnen. "Überall -- sagt er -- wo man auf das Gefühl
wirken, womöglich Begeisterung erwecken will, mag das gesprochene Wort eine
stärkere Wirksamkeit ausüben. Eine Advokatenrede, zumal in Zivilsachen, hat
diese Bedeutung nicht. Sie hat nicht die Aufgabe, Begeisterung wach zu rufen,
sondern sie soll dem klaren Erkennen und kritischen Denken zur Grundlage
dienen. Dafür leistet das geschriebene Wort sicherlich nicht weniger als das
gesprochene. Im Gegenteil, das geschriebene Wort hat dadurch, daß man es
zum Gegenstände ruhiger Erwägung machen kann, einen entschiednen Vorzug.
Allerdings ist das gesprochene Wort beweglicher, und deshalb ist dasselbe neben
der Schrift sehr geeignet. Dinge, die in der Schrift vielleicht zu schwerfällig
erscheinen würden, näher auszuführen, Erläuterungen zu geben, Ungenaues klar
zu stellen und Mißverständliches zu berichtigen. Ferner kann eine dem Schriften¬
wechsel sich anschließende mündliche Verhandlung dazu dienen, durch Ver¬
ständigung der Parteien Streitpunkte zu vereinfachen, Anträge nach dem Er¬
gebnis der Verhandlung genauer zu formuliren, die rechtlichen Gesichtspunkte
weiter auszuführen und vielleicht noch neue hinzuzufügen u. s. w. Endlich ist
die mündliche Verhandlung auch dadurch höchst wertvoll, daß sie die Möglich¬
keit gewährt, mit der Aufstellung der Behauptungen die Beweisantretung in
unmittelbare Verbindung zu bringen. In allen diesen Beziehungen erkenne ich
den hohen Wert der mündlichen Verhandlung an. Feind bin ich nur eiuer
Mündlichkeit, die sich rühmt, durch den "Eindruck," den sie auf den Richter
macht, zu wirken. Eine Jurisprudenz, die auf Eindrücke urteilt, ist eine schlechte
Jurisprudenz. Es ist die Jurisprudenz der Phrasenmacher. Ich mißbillige es
daher auch, wenn Wach die Neigung der Gerichte beklagt, der Sicherheit der
Urteilsgrundlage die Wahrheit und Lebendigkeit der mündlichen Verhandlung
preiszugeben. Ich bin der Ansicht, daß die Sicherheit der Urteilsgrundlage
unbedingt vorzuziehen ist vor der "Wahrheit und Lebendigkeit," d. h. dem thea¬
tralischen Effekt der Verhandlung."

Das klingt bitter, aber wir können nicht glauben, daß es jemand giebt,
der bei ruhiger Überlegung die innere Wahrheit dieser Sätze bestreitet. Die
vielgerühmte "Wahrheit" oder "Natürlichkeit" des mündlichen Verfahrens ist
entweder eine leere Redensart oder geradezu eine Unrichtigkeit. Wer daran


Die Mündlichkeit im Zivilprozeß.

einen Vorwurf darus, daß sie die Sicherheit der Urteilsgrundlage der „Wahr¬
heit und Lebendigkeit der Verhandlung" vorziehen. Mit rücksichtsloser Schärfe,
aber unsers Bedünkens mit vollem Recht, wendet sich Bahr gegen diese
„Mündlichkeitsschwärmerei," „welche die Mündlichkeit als Selbstzweck betrachtet,
während sie doch nur eine Form für den Zweck ist, den Inhalt des Streites
dem Gericht zur Anschauung zu bringen." Wir können uns nicht versagen,
die im Anschluß hieran erfolgende Ausführung Bcihrs über die Bedeutung
der Mündlichkeit im Zivilprozeß mit seinen eignen Worten folgen zu lasse»,
da diese uns durchaus zutreffend erscheinen und zugleich seine Stellung zu der
Frage am besten bezeichnen. „Überall — sagt er — wo man auf das Gefühl
wirken, womöglich Begeisterung erwecken will, mag das gesprochene Wort eine
stärkere Wirksamkeit ausüben. Eine Advokatenrede, zumal in Zivilsachen, hat
diese Bedeutung nicht. Sie hat nicht die Aufgabe, Begeisterung wach zu rufen,
sondern sie soll dem klaren Erkennen und kritischen Denken zur Grundlage
dienen. Dafür leistet das geschriebene Wort sicherlich nicht weniger als das
gesprochene. Im Gegenteil, das geschriebene Wort hat dadurch, daß man es
zum Gegenstände ruhiger Erwägung machen kann, einen entschiednen Vorzug.
Allerdings ist das gesprochene Wort beweglicher, und deshalb ist dasselbe neben
der Schrift sehr geeignet. Dinge, die in der Schrift vielleicht zu schwerfällig
erscheinen würden, näher auszuführen, Erläuterungen zu geben, Ungenaues klar
zu stellen und Mißverständliches zu berichtigen. Ferner kann eine dem Schriften¬
wechsel sich anschließende mündliche Verhandlung dazu dienen, durch Ver¬
ständigung der Parteien Streitpunkte zu vereinfachen, Anträge nach dem Er¬
gebnis der Verhandlung genauer zu formuliren, die rechtlichen Gesichtspunkte
weiter auszuführen und vielleicht noch neue hinzuzufügen u. s. w. Endlich ist
die mündliche Verhandlung auch dadurch höchst wertvoll, daß sie die Möglich¬
keit gewährt, mit der Aufstellung der Behauptungen die Beweisantretung in
unmittelbare Verbindung zu bringen. In allen diesen Beziehungen erkenne ich
den hohen Wert der mündlichen Verhandlung an. Feind bin ich nur eiuer
Mündlichkeit, die sich rühmt, durch den »Eindruck,« den sie auf den Richter
macht, zu wirken. Eine Jurisprudenz, die auf Eindrücke urteilt, ist eine schlechte
Jurisprudenz. Es ist die Jurisprudenz der Phrasenmacher. Ich mißbillige es
daher auch, wenn Wach die Neigung der Gerichte beklagt, der Sicherheit der
Urteilsgrundlage die Wahrheit und Lebendigkeit der mündlichen Verhandlung
preiszugeben. Ich bin der Ansicht, daß die Sicherheit der Urteilsgrundlage
unbedingt vorzuziehen ist vor der »Wahrheit und Lebendigkeit,« d. h. dem thea¬
tralischen Effekt der Verhandlung."

Das klingt bitter, aber wir können nicht glauben, daß es jemand giebt,
der bei ruhiger Überlegung die innere Wahrheit dieser Sätze bestreitet. Die
vielgerühmte „Wahrheit" oder „Natürlichkeit" des mündlichen Verfahrens ist
entweder eine leere Redensart oder geradezu eine Unrichtigkeit. Wer daran


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[0014] Die Mündlichkeit im Zivilprozeß. einen Vorwurf darus, daß sie die Sicherheit der Urteilsgrundlage der „Wahr¬ heit und Lebendigkeit der Verhandlung" vorziehen. Mit rücksichtsloser Schärfe, aber unsers Bedünkens mit vollem Recht, wendet sich Bahr gegen diese „Mündlichkeitsschwärmerei," „welche die Mündlichkeit als Selbstzweck betrachtet, während sie doch nur eine Form für den Zweck ist, den Inhalt des Streites dem Gericht zur Anschauung zu bringen." Wir können uns nicht versagen, die im Anschluß hieran erfolgende Ausführung Bcihrs über die Bedeutung der Mündlichkeit im Zivilprozeß mit seinen eignen Worten folgen zu lasse», da diese uns durchaus zutreffend erscheinen und zugleich seine Stellung zu der Frage am besten bezeichnen. „Überall — sagt er — wo man auf das Gefühl wirken, womöglich Begeisterung erwecken will, mag das gesprochene Wort eine stärkere Wirksamkeit ausüben. Eine Advokatenrede, zumal in Zivilsachen, hat diese Bedeutung nicht. Sie hat nicht die Aufgabe, Begeisterung wach zu rufen, sondern sie soll dem klaren Erkennen und kritischen Denken zur Grundlage dienen. Dafür leistet das geschriebene Wort sicherlich nicht weniger als das gesprochene. Im Gegenteil, das geschriebene Wort hat dadurch, daß man es zum Gegenstände ruhiger Erwägung machen kann, einen entschiednen Vorzug. Allerdings ist das gesprochene Wort beweglicher, und deshalb ist dasselbe neben der Schrift sehr geeignet. Dinge, die in der Schrift vielleicht zu schwerfällig erscheinen würden, näher auszuführen, Erläuterungen zu geben, Ungenaues klar zu stellen und Mißverständliches zu berichtigen. Ferner kann eine dem Schriften¬ wechsel sich anschließende mündliche Verhandlung dazu dienen, durch Ver¬ ständigung der Parteien Streitpunkte zu vereinfachen, Anträge nach dem Er¬ gebnis der Verhandlung genauer zu formuliren, die rechtlichen Gesichtspunkte weiter auszuführen und vielleicht noch neue hinzuzufügen u. s. w. Endlich ist die mündliche Verhandlung auch dadurch höchst wertvoll, daß sie die Möglich¬ keit gewährt, mit der Aufstellung der Behauptungen die Beweisantretung in unmittelbare Verbindung zu bringen. In allen diesen Beziehungen erkenne ich den hohen Wert der mündlichen Verhandlung an. Feind bin ich nur eiuer Mündlichkeit, die sich rühmt, durch den »Eindruck,« den sie auf den Richter macht, zu wirken. Eine Jurisprudenz, die auf Eindrücke urteilt, ist eine schlechte Jurisprudenz. Es ist die Jurisprudenz der Phrasenmacher. Ich mißbillige es daher auch, wenn Wach die Neigung der Gerichte beklagt, der Sicherheit der Urteilsgrundlage die Wahrheit und Lebendigkeit der mündlichen Verhandlung preiszugeben. Ich bin der Ansicht, daß die Sicherheit der Urteilsgrundlage unbedingt vorzuziehen ist vor der »Wahrheit und Lebendigkeit,« d. h. dem thea¬ tralischen Effekt der Verhandlung." Das klingt bitter, aber wir können nicht glauben, daß es jemand giebt, der bei ruhiger Überlegung die innere Wahrheit dieser Sätze bestreitet. Die vielgerühmte „Wahrheit" oder „Natürlichkeit" des mündlichen Verfahrens ist entweder eine leere Redensart oder geradezu eine Unrichtigkeit. Wer daran

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/14>, abgerufen am 16.05.2024.