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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Mündlichkeit im Zivilxrozeß.

zweifelt, der braucht, um sich eiues Bessern zu überzeugen, nur die Abschnitte
in der Wachschen Schrift über die "mündliche Verhandlung," besonders die
Unterabteilungen Ur. II und III (der Formalismus der mündlichen Versand-
ung und die sogenannte Einheit und Unteilbarkeit derselben) durchzugehen.
Wach behandelt hier die Praxis in der Behandlung von Rechnungen, Ver¬
zeichnissen, Anschlügen, Protokollen eines vorbereitenden oder Beweisverfahrens,
Vewcisurknnden und bei der Erneuerung der mündlichen Berhandluug. Hier
bangt es ihm selbst vor den Folgen des rein durchgeführte" Mündlichkeits-
Prinzips, die allerdings zu einem geradezu unerträglichen Zustande führen
würden. Den Gerichten, die auch in diesem Punkte die Mündlichkeit streng be¬
obachten, da ja in der That das Gesetz auch nicht den geringsten Anhalt bietet,
welcher erlaubte, hier von dem alles beherrschenden Prinzip abzuweichen, wirft
Wach "formalistische, doktrinäre" Auffassung vor, die dem "Götzen der Münd¬
lichkeit" opfere. Den allgemeinen Satz, aus dem er die Statthaftigkeit dieser
Abweichung von der an sich doch gebotenen Folgerung ableitet, faßt er an
zwei Stellen dahin zusammen, daß "das Mündlichkeitsprinzip überhaupt kein
Rechtssatz, sondern ein allgemeiner Rechtsgedanke" sei, der, wie er an der letzten
Stelle hinzufügt, auf die "Natürlichkeit und Wahrheit" in der Gestaltung der
Urteilsgrundlage gerichtet, die Unmittelbarkeit ihrer Wahrnehmung fordere. Ich
bekenne offen, daß mir trotz längern Nachdenkens unerklärlich geblieben ist, was
dieser Unterschied zwischen Rechtssatz und Nechtsgedanke an dieser Stelle be¬
deuten und inwiefern die Verbreitung seiner Erkenntnis die Praxis fördern soll.
Allerdings beruht das Verfahren der Gerichte, welches sie von einem münd¬
lichen Vortrage der Rechnungen, Urkunden und Protokolle absehen und sich
mit einer Beziehung darauf begnügen läßt, auf einem gesunden Zuge, aber dieser
geht nicht hervor aus der richtigen Erkenntnis der vom Gesetze gewollten Grenze
des Prinzips, er wird vielmehr diesem zum Trotz hervorgetrieben durch das un¬
abweisbare Bedürfnis des wirtlichen Lebens, welches sich stärker erweist als jedes
ideale Prinzip, und daher seine Berücksichtigung erzwingt, mag die Konsequenz
des im Gesetz zum Ausdruck gebrachten Willens ihm noch so sehr widerstreiten.

Man könnte geneigt sein, in ruhiger Zuversicht auf diese Überlegenheit der
Mächte des wirklichen Lebens gegenüber einem ihnen widerstreitenden Prinzip
die Dinge ruhig ihren Gang gehen zu lassen, bis die Entwicklung die innere
Unwahrheit des Prinzips aufgedeckt und seine Beseitigung zur Notwendigkeit
gemacht hat, müßten nicht inzwischen durch ein solches Gehenlassen die höchsten
Interessen der Rechtspflege und das Vertrauen des Volkes auf seine Rechts¬
pflege aufs empfindlichste Schaden leiden, und zeigte sich uicht auch an gewissen
Punkten das wirkliche Leben doch zuweilen schwächer, als man erwarten sollte.

Zu letzterer Bemerkung veranlaßt das Verhalten einiger Gerichte im Ge¬
biete des rheinisch-französischen Rechts, bei denen es ihren an Wach gelangten
eignen Mitteilungen zufolge als Fortsetzung ihrer frühern Gewöhnung auch


Die Mündlichkeit im Zivilxrozeß.

zweifelt, der braucht, um sich eiues Bessern zu überzeugen, nur die Abschnitte
in der Wachschen Schrift über die „mündliche Verhandlung," besonders die
Unterabteilungen Ur. II und III (der Formalismus der mündlichen Versand-
ung und die sogenannte Einheit und Unteilbarkeit derselben) durchzugehen.
Wach behandelt hier die Praxis in der Behandlung von Rechnungen, Ver¬
zeichnissen, Anschlügen, Protokollen eines vorbereitenden oder Beweisverfahrens,
Vewcisurknnden und bei der Erneuerung der mündlichen Berhandluug. Hier
bangt es ihm selbst vor den Folgen des rein durchgeführte« Mündlichkeits-
Prinzips, die allerdings zu einem geradezu unerträglichen Zustande führen
würden. Den Gerichten, die auch in diesem Punkte die Mündlichkeit streng be¬
obachten, da ja in der That das Gesetz auch nicht den geringsten Anhalt bietet,
welcher erlaubte, hier von dem alles beherrschenden Prinzip abzuweichen, wirft
Wach „formalistische, doktrinäre" Auffassung vor, die dem „Götzen der Münd¬
lichkeit" opfere. Den allgemeinen Satz, aus dem er die Statthaftigkeit dieser
Abweichung von der an sich doch gebotenen Folgerung ableitet, faßt er an
zwei Stellen dahin zusammen, daß „das Mündlichkeitsprinzip überhaupt kein
Rechtssatz, sondern ein allgemeiner Rechtsgedanke" sei, der, wie er an der letzten
Stelle hinzufügt, auf die „Natürlichkeit und Wahrheit" in der Gestaltung der
Urteilsgrundlage gerichtet, die Unmittelbarkeit ihrer Wahrnehmung fordere. Ich
bekenne offen, daß mir trotz längern Nachdenkens unerklärlich geblieben ist, was
dieser Unterschied zwischen Rechtssatz und Nechtsgedanke an dieser Stelle be¬
deuten und inwiefern die Verbreitung seiner Erkenntnis die Praxis fördern soll.
Allerdings beruht das Verfahren der Gerichte, welches sie von einem münd¬
lichen Vortrage der Rechnungen, Urkunden und Protokolle absehen und sich
mit einer Beziehung darauf begnügen läßt, auf einem gesunden Zuge, aber dieser
geht nicht hervor aus der richtigen Erkenntnis der vom Gesetze gewollten Grenze
des Prinzips, er wird vielmehr diesem zum Trotz hervorgetrieben durch das un¬
abweisbare Bedürfnis des wirtlichen Lebens, welches sich stärker erweist als jedes
ideale Prinzip, und daher seine Berücksichtigung erzwingt, mag die Konsequenz
des im Gesetz zum Ausdruck gebrachten Willens ihm noch so sehr widerstreiten.

Man könnte geneigt sein, in ruhiger Zuversicht auf diese Überlegenheit der
Mächte des wirklichen Lebens gegenüber einem ihnen widerstreitenden Prinzip
die Dinge ruhig ihren Gang gehen zu lassen, bis die Entwicklung die innere
Unwahrheit des Prinzips aufgedeckt und seine Beseitigung zur Notwendigkeit
gemacht hat, müßten nicht inzwischen durch ein solches Gehenlassen die höchsten
Interessen der Rechtspflege und das Vertrauen des Volkes auf seine Rechts¬
pflege aufs empfindlichste Schaden leiden, und zeigte sich uicht auch an gewissen
Punkten das wirkliche Leben doch zuweilen schwächer, als man erwarten sollte.

Zu letzterer Bemerkung veranlaßt das Verhalten einiger Gerichte im Ge¬
biete des rheinisch-französischen Rechts, bei denen es ihren an Wach gelangten
eignen Mitteilungen zufolge als Fortsetzung ihrer frühern Gewöhnung auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/15>, abgerufen am 22.05.2024.