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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski,

gewesen wäre. Statt dessen hatte er ihm geholfen und wollte ihm noch helfen,
ja sein Leben gern für ihn einsetzen, wenn er ihm damit einen wesentlichen
Dienst erwiese. Und sein Leben erschien ihm als kein großes Opfer, mich ver¬
langte Alexei es nicht von ihm, er verlangte nur, daß er dem Karciitcn einen
Dienst erweisen solle. Davids Herz hatte sich bei jeder Verspottung, bei jedem
Hohne, der die Karaiten getroffen, empört, er hatte mit ihnen gelitten -- hieß es
nicht, die Last, die jene tragen mußten, bis zur Unerträglichkeit steigern, wenn
er seine Hilfe jetzt versagte? Alexei hatte ihm beigestanden, als er wehrlos den
andern Knaben gegenüber gewesen war -- denselben Edelmut verlangte er jetzt
von ihm, ja setzte ihn als unzweifelhaft bei ihm voraus. Sollte er ihn ent¬
täuschen? seine Freundschaft vielleicht verlieren, jetzt, wo er erst wieder das
Glück empfand, ihn zu sehen, zu haben, zu genießen?

Immer wieder sagte sich David, daß Alexei Recht habe, man müsse das
Nichtige thun, ohne Rücksicht auf andre. Er fühlte, daß ihn nnr die Furcht
vor diesen andern zurückhielt.

Furcht wovor? Was konnten sie ihm thun? Wovor fürchtete er sich, wenn
ihm sein Leben wirklich als ein so wertloses, geringfügiges Ding erschien?

Und doch wußte er, daß er im Grunde Alexeis Spott und Verachtung
weit mehr fürchtete, als den Zorn seiner Glaubensgenossen.

O, welche elende Schwachheit! rief er aus. So unselbständig zu sein!
Hat Alexei denn Recht, daß ich unter dem Einflüsse und dem Drucke von
Vorurteilen stehe, die mich hindern, die Dinge zu sehen, wie sie sind? Ja ich
muß mich frei machen, muß mich darüber erheben! Alexci hat Recht, es wäre
eine unverzeihliche Schwäche, dem nachzugeben.

Er holte das kleine, schwarze Buch hervor, barg es auf seiner Brust und
ging mit raschen, starken Schritten an den Teich, wo er sich im Schatten einer
Hecke niederlegte und es aufschlug. Er wollte sich zu dem Unterrichte vorbe¬
reiten, er konnte ja nicht gleich mit Rüben anfangen zu lesen, er mußte an
einzelne Worte und Sätze anknüpfen und, von ihnen ausgehend, ihn nach und
nach in die geheimnisvollen, schwierigen Pfade dieser Sprache einführen. Und
um die richtigen Worte, die passendsten Sätze zu finden, mußte er das Buch
lesen; er mußte es schon thun, um sich das früher wohl gekannte, jetzt schon
wieder halb vergessene reine Deutsch selbst erst wieder ganz zu eigen zu machen.

Ganz im Hintergrunde seiner Seele regte sich auch eine noch uneinge-
standene, aber ununterdrückbare Neugier, einmal genau die Lehre jener kennen
zu lernen, die man hier Edomiter und die sich selber Christen nannten. Er
freute sich ganz im Innersten seiner Seele darauf, zu erfahren, auf welche selt¬
samen Gründe sie ihre Lehre stützten, und warum gerade diese Lehre bei den
Gelehrten und Weisen in Israel solch heiligen Zorn, solch brennenden Eifer
erregte. Das Verbotene lockte auch ihn.

Er hatte sich auf der Schule so fern als es ging von jeder Möglichkeit


David Beronski,

gewesen wäre. Statt dessen hatte er ihm geholfen und wollte ihm noch helfen,
ja sein Leben gern für ihn einsetzen, wenn er ihm damit einen wesentlichen
Dienst erwiese. Und sein Leben erschien ihm als kein großes Opfer, mich ver¬
langte Alexei es nicht von ihm, er verlangte nur, daß er dem Karciitcn einen
Dienst erweisen solle. Davids Herz hatte sich bei jeder Verspottung, bei jedem
Hohne, der die Karaiten getroffen, empört, er hatte mit ihnen gelitten — hieß es
nicht, die Last, die jene tragen mußten, bis zur Unerträglichkeit steigern, wenn
er seine Hilfe jetzt versagte? Alexei hatte ihm beigestanden, als er wehrlos den
andern Knaben gegenüber gewesen war — denselben Edelmut verlangte er jetzt
von ihm, ja setzte ihn als unzweifelhaft bei ihm voraus. Sollte er ihn ent¬
täuschen? seine Freundschaft vielleicht verlieren, jetzt, wo er erst wieder das
Glück empfand, ihn zu sehen, zu haben, zu genießen?

Immer wieder sagte sich David, daß Alexei Recht habe, man müsse das
Nichtige thun, ohne Rücksicht auf andre. Er fühlte, daß ihn nnr die Furcht
vor diesen andern zurückhielt.

Furcht wovor? Was konnten sie ihm thun? Wovor fürchtete er sich, wenn
ihm sein Leben wirklich als ein so wertloses, geringfügiges Ding erschien?

Und doch wußte er, daß er im Grunde Alexeis Spott und Verachtung
weit mehr fürchtete, als den Zorn seiner Glaubensgenossen.

O, welche elende Schwachheit! rief er aus. So unselbständig zu sein!
Hat Alexei denn Recht, daß ich unter dem Einflüsse und dem Drucke von
Vorurteilen stehe, die mich hindern, die Dinge zu sehen, wie sie sind? Ja ich
muß mich frei machen, muß mich darüber erheben! Alexci hat Recht, es wäre
eine unverzeihliche Schwäche, dem nachzugeben.

Er holte das kleine, schwarze Buch hervor, barg es auf seiner Brust und
ging mit raschen, starken Schritten an den Teich, wo er sich im Schatten einer
Hecke niederlegte und es aufschlug. Er wollte sich zu dem Unterrichte vorbe¬
reiten, er konnte ja nicht gleich mit Rüben anfangen zu lesen, er mußte an
einzelne Worte und Sätze anknüpfen und, von ihnen ausgehend, ihn nach und
nach in die geheimnisvollen, schwierigen Pfade dieser Sprache einführen. Und
um die richtigen Worte, die passendsten Sätze zu finden, mußte er das Buch
lesen; er mußte es schon thun, um sich das früher wohl gekannte, jetzt schon
wieder halb vergessene reine Deutsch selbst erst wieder ganz zu eigen zu machen.

Ganz im Hintergrunde seiner Seele regte sich auch eine noch uneinge-
standene, aber ununterdrückbare Neugier, einmal genau die Lehre jener kennen
zu lernen, die man hier Edomiter und die sich selber Christen nannten. Er
freute sich ganz im Innersten seiner Seele darauf, zu erfahren, auf welche selt¬
samen Gründe sie ihre Lehre stützten, und warum gerade diese Lehre bei den
Gelehrten und Weisen in Israel solch heiligen Zorn, solch brennenden Eifer
erregte. Das Verbotene lockte auch ihn.

Er hatte sich auf der Schule so fern als es ging von jeder Möglichkeit


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[0154] David Beronski, gewesen wäre. Statt dessen hatte er ihm geholfen und wollte ihm noch helfen, ja sein Leben gern für ihn einsetzen, wenn er ihm damit einen wesentlichen Dienst erwiese. Und sein Leben erschien ihm als kein großes Opfer, mich ver¬ langte Alexei es nicht von ihm, er verlangte nur, daß er dem Karciitcn einen Dienst erweisen solle. Davids Herz hatte sich bei jeder Verspottung, bei jedem Hohne, der die Karaiten getroffen, empört, er hatte mit ihnen gelitten — hieß es nicht, die Last, die jene tragen mußten, bis zur Unerträglichkeit steigern, wenn er seine Hilfe jetzt versagte? Alexei hatte ihm beigestanden, als er wehrlos den andern Knaben gegenüber gewesen war — denselben Edelmut verlangte er jetzt von ihm, ja setzte ihn als unzweifelhaft bei ihm voraus. Sollte er ihn ent¬ täuschen? seine Freundschaft vielleicht verlieren, jetzt, wo er erst wieder das Glück empfand, ihn zu sehen, zu haben, zu genießen? Immer wieder sagte sich David, daß Alexei Recht habe, man müsse das Nichtige thun, ohne Rücksicht auf andre. Er fühlte, daß ihn nnr die Furcht vor diesen andern zurückhielt. Furcht wovor? Was konnten sie ihm thun? Wovor fürchtete er sich, wenn ihm sein Leben wirklich als ein so wertloses, geringfügiges Ding erschien? Und doch wußte er, daß er im Grunde Alexeis Spott und Verachtung weit mehr fürchtete, als den Zorn seiner Glaubensgenossen. O, welche elende Schwachheit! rief er aus. So unselbständig zu sein! Hat Alexei denn Recht, daß ich unter dem Einflüsse und dem Drucke von Vorurteilen stehe, die mich hindern, die Dinge zu sehen, wie sie sind? Ja ich muß mich frei machen, muß mich darüber erheben! Alexci hat Recht, es wäre eine unverzeihliche Schwäche, dem nachzugeben. Er holte das kleine, schwarze Buch hervor, barg es auf seiner Brust und ging mit raschen, starken Schritten an den Teich, wo er sich im Schatten einer Hecke niederlegte und es aufschlug. Er wollte sich zu dem Unterrichte vorbe¬ reiten, er konnte ja nicht gleich mit Rüben anfangen zu lesen, er mußte an einzelne Worte und Sätze anknüpfen und, von ihnen ausgehend, ihn nach und nach in die geheimnisvollen, schwierigen Pfade dieser Sprache einführen. Und um die richtigen Worte, die passendsten Sätze zu finden, mußte er das Buch lesen; er mußte es schon thun, um sich das früher wohl gekannte, jetzt schon wieder halb vergessene reine Deutsch selbst erst wieder ganz zu eigen zu machen. Ganz im Hintergrunde seiner Seele regte sich auch eine noch uneinge- standene, aber ununterdrückbare Neugier, einmal genau die Lehre jener kennen zu lernen, die man hier Edomiter und die sich selber Christen nannten. Er freute sich ganz im Innersten seiner Seele darauf, zu erfahren, auf welche selt¬ samen Gründe sie ihre Lehre stützten, und warum gerade diese Lehre bei den Gelehrten und Weisen in Israel solch heiligen Zorn, solch brennenden Eifer erregte. Das Verbotene lockte auch ihn. Er hatte sich auf der Schule so fern als es ging von jeder Möglichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/154>, abgerufen am 16.05.2024.