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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

Aber der Mutter Recht ist es, ihres Kindes Schritte zu kennen und zu
leiten, flüsterte die alte Frau vor sich hin, und sie beschloß, demgemäß zu handeln.

Nicht in der Stadt, vor allem nicht in dem Hause, wo jedes Wort ge¬
hört werden würde, wollte sie mit ihm reden. Leicht konnte ja eins der ge¬
wechselten Worte für ihn Unheil herauf beschwören. Es sollte niemand wissen,
niemand hören, was sie fragen wollte, ja niemand ahnen, was sie ihm zu sagen
hatte. War er nicht, wenn sie mit ihm allein war, noch immer wie ein Kind,
das sich ihren Worten fügte, ihnen ehrfurchtsvoll lauschte und ihren Befehlen
gehorsam folgte?

Langsam ging Rebekka hinaus vor die Stadt und schlug den Weg nach
dem Teiche ein. Sie kam an der Karcütenhütte vorüber, vor welcher Jeschka
saß, die ihr erstaunt nachblickte. War es doch selten und ungewöhnlich, die
Frauen der Israeliten im Freien vor der Stadt zu sehen. Das weiße Kopftuch
schützte Rebekka kaum gegen die Sonnenstrahlen, aber sie achtete nicht darauf;
die Worte, die sie zu ihrem Sohne sprechen wollte, lagen schwer auf ihrem
Herzen und raubten ihr den Atem.

Es war die Zeit, um welche David das Haus zu verlassen pflegte, und
Rebekka hoffte ihm hier am Teiche entgegentreten zu können. Aber er kam nicht
allein. Rebekka verbarg sich hinter einem Strauche, als sie David mit Rüben
daherkommen sah.

Ich werde dem Herrn sagen, ich wisse jetzt genug. Ich sehne mich fort!
Wir können ihm sein Buch zurückgeben, sagte Rüben, indem er bei den letzten
Worten Davids gesenktes Antlitz scharf beobachtete.

Staunend sah die alte Frau auf Rüben. Hatte sie ihn vergessen, oder
so lange nicht gesehen, daß er ihr fremd geworden war? Das war nicht mehr
der scheue Knabe, der nur verstohlen durch die Gassen zu schreiten gewagt, den
zu mißhandeln sich jedermann berechtigt geglaubt hatte. Kräftigen, festen Schrittes
trat er auf, stolz und frei hob sich sein Haupt. Ja freier, stolzer als das Davids,
der mit gesenktem Kopfe und düsterer Stirn neben ihm ging.

Ja, du weißt genug. Versuche dein Glück, befriedige deines Herzens Sehnen
und gehe fort. Das Buch braucht dich nicht zu kümmern. Weißt du auch,
was wir gelesen haben?

David war stehen geblieben, und indem er seine Hand auf Rubens Brust
legte, sah er ihn durchdringend an.

Über Rubens Antlitz zog ein höhnisches Lächeln.

Du sagtest, ich würde das Buch nie gebrauchen, ich habe mir nichts weiter
von den Sätzen gemerkt, die du mir aufgeschrieben. Es hat sie -- fügte er nach
kurzem Zögern hinzu -- auch niemand gesehen, nur meine Schwester hat mir
manchmal dabei geholfen.

David seufzte, nickte zerstreut, daun gingen beide rasch weiter.

Jeschka, welche Rebekka nicht aus den Augen verloren, hatte Rubens Worte


David Beronski.

Aber der Mutter Recht ist es, ihres Kindes Schritte zu kennen und zu
leiten, flüsterte die alte Frau vor sich hin, und sie beschloß, demgemäß zu handeln.

Nicht in der Stadt, vor allem nicht in dem Hause, wo jedes Wort ge¬
hört werden würde, wollte sie mit ihm reden. Leicht konnte ja eins der ge¬
wechselten Worte für ihn Unheil herauf beschwören. Es sollte niemand wissen,
niemand hören, was sie fragen wollte, ja niemand ahnen, was sie ihm zu sagen
hatte. War er nicht, wenn sie mit ihm allein war, noch immer wie ein Kind,
das sich ihren Worten fügte, ihnen ehrfurchtsvoll lauschte und ihren Befehlen
gehorsam folgte?

Langsam ging Rebekka hinaus vor die Stadt und schlug den Weg nach
dem Teiche ein. Sie kam an der Karcütenhütte vorüber, vor welcher Jeschka
saß, die ihr erstaunt nachblickte. War es doch selten und ungewöhnlich, die
Frauen der Israeliten im Freien vor der Stadt zu sehen. Das weiße Kopftuch
schützte Rebekka kaum gegen die Sonnenstrahlen, aber sie achtete nicht darauf;
die Worte, die sie zu ihrem Sohne sprechen wollte, lagen schwer auf ihrem
Herzen und raubten ihr den Atem.

Es war die Zeit, um welche David das Haus zu verlassen pflegte, und
Rebekka hoffte ihm hier am Teiche entgegentreten zu können. Aber er kam nicht
allein. Rebekka verbarg sich hinter einem Strauche, als sie David mit Rüben
daherkommen sah.

Ich werde dem Herrn sagen, ich wisse jetzt genug. Ich sehne mich fort!
Wir können ihm sein Buch zurückgeben, sagte Rüben, indem er bei den letzten
Worten Davids gesenktes Antlitz scharf beobachtete.

Staunend sah die alte Frau auf Rüben. Hatte sie ihn vergessen, oder
so lange nicht gesehen, daß er ihr fremd geworden war? Das war nicht mehr
der scheue Knabe, der nur verstohlen durch die Gassen zu schreiten gewagt, den
zu mißhandeln sich jedermann berechtigt geglaubt hatte. Kräftigen, festen Schrittes
trat er auf, stolz und frei hob sich sein Haupt. Ja freier, stolzer als das Davids,
der mit gesenktem Kopfe und düsterer Stirn neben ihm ging.

Ja, du weißt genug. Versuche dein Glück, befriedige deines Herzens Sehnen
und gehe fort. Das Buch braucht dich nicht zu kümmern. Weißt du auch,
was wir gelesen haben?

David war stehen geblieben, und indem er seine Hand auf Rubens Brust
legte, sah er ihn durchdringend an.

Über Rubens Antlitz zog ein höhnisches Lächeln.

Du sagtest, ich würde das Buch nie gebrauchen, ich habe mir nichts weiter
von den Sätzen gemerkt, die du mir aufgeschrieben. Es hat sie — fügte er nach
kurzem Zögern hinzu — auch niemand gesehen, nur meine Schwester hat mir
manchmal dabei geholfen.

David seufzte, nickte zerstreut, daun gingen beide rasch weiter.

Jeschka, welche Rebekka nicht aus den Augen verloren, hatte Rubens Worte


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[0158] David Beronski. Aber der Mutter Recht ist es, ihres Kindes Schritte zu kennen und zu leiten, flüsterte die alte Frau vor sich hin, und sie beschloß, demgemäß zu handeln. Nicht in der Stadt, vor allem nicht in dem Hause, wo jedes Wort ge¬ hört werden würde, wollte sie mit ihm reden. Leicht konnte ja eins der ge¬ wechselten Worte für ihn Unheil herauf beschwören. Es sollte niemand wissen, niemand hören, was sie fragen wollte, ja niemand ahnen, was sie ihm zu sagen hatte. War er nicht, wenn sie mit ihm allein war, noch immer wie ein Kind, das sich ihren Worten fügte, ihnen ehrfurchtsvoll lauschte und ihren Befehlen gehorsam folgte? Langsam ging Rebekka hinaus vor die Stadt und schlug den Weg nach dem Teiche ein. Sie kam an der Karcütenhütte vorüber, vor welcher Jeschka saß, die ihr erstaunt nachblickte. War es doch selten und ungewöhnlich, die Frauen der Israeliten im Freien vor der Stadt zu sehen. Das weiße Kopftuch schützte Rebekka kaum gegen die Sonnenstrahlen, aber sie achtete nicht darauf; die Worte, die sie zu ihrem Sohne sprechen wollte, lagen schwer auf ihrem Herzen und raubten ihr den Atem. Es war die Zeit, um welche David das Haus zu verlassen pflegte, und Rebekka hoffte ihm hier am Teiche entgegentreten zu können. Aber er kam nicht allein. Rebekka verbarg sich hinter einem Strauche, als sie David mit Rüben daherkommen sah. Ich werde dem Herrn sagen, ich wisse jetzt genug. Ich sehne mich fort! Wir können ihm sein Buch zurückgeben, sagte Rüben, indem er bei den letzten Worten Davids gesenktes Antlitz scharf beobachtete. Staunend sah die alte Frau auf Rüben. Hatte sie ihn vergessen, oder so lange nicht gesehen, daß er ihr fremd geworden war? Das war nicht mehr der scheue Knabe, der nur verstohlen durch die Gassen zu schreiten gewagt, den zu mißhandeln sich jedermann berechtigt geglaubt hatte. Kräftigen, festen Schrittes trat er auf, stolz und frei hob sich sein Haupt. Ja freier, stolzer als das Davids, der mit gesenktem Kopfe und düsterer Stirn neben ihm ging. Ja, du weißt genug. Versuche dein Glück, befriedige deines Herzens Sehnen und gehe fort. Das Buch braucht dich nicht zu kümmern. Weißt du auch, was wir gelesen haben? David war stehen geblieben, und indem er seine Hand auf Rubens Brust legte, sah er ihn durchdringend an. Über Rubens Antlitz zog ein höhnisches Lächeln. Du sagtest, ich würde das Buch nie gebrauchen, ich habe mir nichts weiter von den Sätzen gemerkt, die du mir aufgeschrieben. Es hat sie — fügte er nach kurzem Zögern hinzu — auch niemand gesehen, nur meine Schwester hat mir manchmal dabei geholfen. David seufzte, nickte zerstreut, daun gingen beide rasch weiter. Jeschka, welche Rebekka nicht aus den Augen verloren, hatte Rubens Worte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/158>, abgerufen am 16.06.2024.