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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

4.

Viele, viele Tage lag Jeschka neben der blühenden Hecke, horchte auf den
Gesang der Nachtigall, bis die Vögelstimmen verstummten, sah auf die Blüten,
bis sie abfielen und eine grüne Blätterfülle alle Zweige bedeckte, und ihre großen
Augen voll Sehnsucht und Unruhe suchten nach David; sie wollte wissen, welche
Lüge es sei, der er nachforschen wollte.

Das Gras der Steppe war lang geworden, und wenn das Mädchen aus
ihrem Versteck hinausschaute, wogte es im Winde wie lange Wellen, und bei
jedem Beugen und Senken schimmerte das Goldgelb der Kornbreiten darüber
her, bis es eines Tages in langen Reihen vor der nahenden Sense niedersank.
Hinter den Mähenden standen die Frauen, welche das Getreide in Garben banden
und zu Haufen zusammentrugen. Ihre bunten Kopftücher, ihre Gewänder flat¬
terten im Winde, der abgerissene Bruchstücke ihres Gesanges herüber trug. Dann
kamen die Wagenreihen herangezogen, welche das Getreide an die Häfen und
Gestade des Schwarzen Meeres führen sollten. Auf der sonst so einsamen Steppe
herrschte buntes, rühriges Leben und Treiben. Die Händler riefen und
trieben die schwerfälligen großen Zugochsen mit Geschrei und Peitschenknall an,
und von einer ihr selbst unerklärlichen Wehmut erfaßt, verhüllte Jeschka ihr
Antlitz mit dem Ärmel ihres Gewandes und weinte heiße Thränen, indes der
Wind mit ihren lichtbraunen Haaren spielte. Unter den Getreidehaufen huschte
das braune Feldhuhn hervor und suchte Schutz in der Nähe des Gehölzes, bis
die Händler mit ihren Gespannen weiter zogen, und die weite Ebene wieder still,
aber flimmernd und blendend unter den sengenden Sonnenstrahlen dalag.

Und Jeschka wartete auf den Tag, an dem sie Mut genug finden würde,
David, den Gelehrten, den Weisen, anzureden, wenn er an dem Teiche vorüber¬
eilen würde, der Gegend zu, wo das Gehöft des fremden Herrn lag, dessen Dach
wie ein dunkler Strich über das Steppengras hinwegragte.

In dem Leben der Bewohner des Fleckens machte der Wechsel der Jahres¬
zeiten keinen Unterschied, die Haufen von Kehricht und Unrat auf den Straßen
verpesteten die Sommerluft, und dick und dunstig zog sie in die niedrigen Hütten,
wo sie sich in die Lehmwände festsetzte und Leben und Gesundheit bedrohende
Dünste erzeugte. Der Herbst mit seinem reichen Segen, seiner Fülle, seinem
Glanz wird von den Menschen hier nur nach der Höhe ihres Gewinnes ge¬
schätzt, den dieser Segen abwerfen würde; alles andre war wertlos. Doch nicht
für alle!

Wo ist mein Sohn? Wohin ist David gegangen? fragte die alte Rebekka
ihres Sohnes Gattin, Salome. Wohin wendet er seine Schritte, wenn er das
Haus auf viele Stunden verläßt?

Er sagt, es zieme der Frau nicht, die Wege ihres Mannes zu überwachen,
antwortete die jüngere Frau mit schlecht verhehlter Bitterkeit.


David Beronski.

4.

Viele, viele Tage lag Jeschka neben der blühenden Hecke, horchte auf den
Gesang der Nachtigall, bis die Vögelstimmen verstummten, sah auf die Blüten,
bis sie abfielen und eine grüne Blätterfülle alle Zweige bedeckte, und ihre großen
Augen voll Sehnsucht und Unruhe suchten nach David; sie wollte wissen, welche
Lüge es sei, der er nachforschen wollte.

Das Gras der Steppe war lang geworden, und wenn das Mädchen aus
ihrem Versteck hinausschaute, wogte es im Winde wie lange Wellen, und bei
jedem Beugen und Senken schimmerte das Goldgelb der Kornbreiten darüber
her, bis es eines Tages in langen Reihen vor der nahenden Sense niedersank.
Hinter den Mähenden standen die Frauen, welche das Getreide in Garben banden
und zu Haufen zusammentrugen. Ihre bunten Kopftücher, ihre Gewänder flat¬
terten im Winde, der abgerissene Bruchstücke ihres Gesanges herüber trug. Dann
kamen die Wagenreihen herangezogen, welche das Getreide an die Häfen und
Gestade des Schwarzen Meeres führen sollten. Auf der sonst so einsamen Steppe
herrschte buntes, rühriges Leben und Treiben. Die Händler riefen und
trieben die schwerfälligen großen Zugochsen mit Geschrei und Peitschenknall an,
und von einer ihr selbst unerklärlichen Wehmut erfaßt, verhüllte Jeschka ihr
Antlitz mit dem Ärmel ihres Gewandes und weinte heiße Thränen, indes der
Wind mit ihren lichtbraunen Haaren spielte. Unter den Getreidehaufen huschte
das braune Feldhuhn hervor und suchte Schutz in der Nähe des Gehölzes, bis
die Händler mit ihren Gespannen weiter zogen, und die weite Ebene wieder still,
aber flimmernd und blendend unter den sengenden Sonnenstrahlen dalag.

Und Jeschka wartete auf den Tag, an dem sie Mut genug finden würde,
David, den Gelehrten, den Weisen, anzureden, wenn er an dem Teiche vorüber¬
eilen würde, der Gegend zu, wo das Gehöft des fremden Herrn lag, dessen Dach
wie ein dunkler Strich über das Steppengras hinwegragte.

In dem Leben der Bewohner des Fleckens machte der Wechsel der Jahres¬
zeiten keinen Unterschied, die Haufen von Kehricht und Unrat auf den Straßen
verpesteten die Sommerluft, und dick und dunstig zog sie in die niedrigen Hütten,
wo sie sich in die Lehmwände festsetzte und Leben und Gesundheit bedrohende
Dünste erzeugte. Der Herbst mit seinem reichen Segen, seiner Fülle, seinem
Glanz wird von den Menschen hier nur nach der Höhe ihres Gewinnes ge¬
schätzt, den dieser Segen abwerfen würde; alles andre war wertlos. Doch nicht
für alle!

Wo ist mein Sohn? Wohin ist David gegangen? fragte die alte Rebekka
ihres Sohnes Gattin, Salome. Wohin wendet er seine Schritte, wenn er das
Haus auf viele Stunden verläßt?

Er sagt, es zieme der Frau nicht, die Wege ihres Mannes zu überwachen,
antwortete die jüngere Frau mit schlecht verhehlter Bitterkeit.


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[0157] David Beronski. 4. Viele, viele Tage lag Jeschka neben der blühenden Hecke, horchte auf den Gesang der Nachtigall, bis die Vögelstimmen verstummten, sah auf die Blüten, bis sie abfielen und eine grüne Blätterfülle alle Zweige bedeckte, und ihre großen Augen voll Sehnsucht und Unruhe suchten nach David; sie wollte wissen, welche Lüge es sei, der er nachforschen wollte. Das Gras der Steppe war lang geworden, und wenn das Mädchen aus ihrem Versteck hinausschaute, wogte es im Winde wie lange Wellen, und bei jedem Beugen und Senken schimmerte das Goldgelb der Kornbreiten darüber her, bis es eines Tages in langen Reihen vor der nahenden Sense niedersank. Hinter den Mähenden standen die Frauen, welche das Getreide in Garben banden und zu Haufen zusammentrugen. Ihre bunten Kopftücher, ihre Gewänder flat¬ terten im Winde, der abgerissene Bruchstücke ihres Gesanges herüber trug. Dann kamen die Wagenreihen herangezogen, welche das Getreide an die Häfen und Gestade des Schwarzen Meeres führen sollten. Auf der sonst so einsamen Steppe herrschte buntes, rühriges Leben und Treiben. Die Händler riefen und trieben die schwerfälligen großen Zugochsen mit Geschrei und Peitschenknall an, und von einer ihr selbst unerklärlichen Wehmut erfaßt, verhüllte Jeschka ihr Antlitz mit dem Ärmel ihres Gewandes und weinte heiße Thränen, indes der Wind mit ihren lichtbraunen Haaren spielte. Unter den Getreidehaufen huschte das braune Feldhuhn hervor und suchte Schutz in der Nähe des Gehölzes, bis die Händler mit ihren Gespannen weiter zogen, und die weite Ebene wieder still, aber flimmernd und blendend unter den sengenden Sonnenstrahlen dalag. Und Jeschka wartete auf den Tag, an dem sie Mut genug finden würde, David, den Gelehrten, den Weisen, anzureden, wenn er an dem Teiche vorüber¬ eilen würde, der Gegend zu, wo das Gehöft des fremden Herrn lag, dessen Dach wie ein dunkler Strich über das Steppengras hinwegragte. In dem Leben der Bewohner des Fleckens machte der Wechsel der Jahres¬ zeiten keinen Unterschied, die Haufen von Kehricht und Unrat auf den Straßen verpesteten die Sommerluft, und dick und dunstig zog sie in die niedrigen Hütten, wo sie sich in die Lehmwände festsetzte und Leben und Gesundheit bedrohende Dünste erzeugte. Der Herbst mit seinem reichen Segen, seiner Fülle, seinem Glanz wird von den Menschen hier nur nach der Höhe ihres Gewinnes ge¬ schätzt, den dieser Segen abwerfen würde; alles andre war wertlos. Doch nicht für alle! Wo ist mein Sohn? Wohin ist David gegangen? fragte die alte Rebekka ihres Sohnes Gattin, Salome. Wohin wendet er seine Schritte, wenn er das Haus auf viele Stunden verläßt? Er sagt, es zieme der Frau nicht, die Wege ihres Mannes zu überwachen, antwortete die jüngere Frau mit schlecht verhehlter Bitterkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/157>, abgerufen am 15.06.2024.