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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Mündlichkeit im Zivilprozeß.

an eine solche Vorarbeit des Gerichts knüpft, erscheinen grundlos. Eine ist
darunter, die geradezu eigentümlich wirkt. Er fürchtet nämlich, daß Vorsitzender
und Referent die Sache ganz in der Hand haben und der nicht vorbereitete
Dritte eine Null im Kollegium werden würde. Auf das Gebiet des Thatsäch¬
lichen kann sich diese Besorgnis nicht beziehen, da hierfür ja die mündliche Ver¬
handlung allein maßgebend und nach richtiger Auffassung eine Feststellung des
Vorgebrachten durch Mehrheitsbeschluß unzulässig ist; es kann also nur der Unter¬
schied in der rechtlichen Beherrschung des Stoffes sein, der Wach Bedenken erweckt.
Man sollte aber doch meinen, es sei immer noch besser, daß zwei von den
Richtern die rechtlichen Gesichtspunkte, welche für die Beurteilung der Sache von
Belang sind, reiflich erwogen hätten und vollständig beherrschten, wenn sie dadurch
auch dem dritten Richter gegenüber in Vorteil kommen, als daß keiner von allen
dreien die Sache genau und nach allen Seiten hin durchdacht hat. Zu einem so
sonderbaren Gedankengange verführt die Verteidigung eines verfehlten Prinzips!

Nicht minder eigentümlich ist der Grund, den Wach für die "Nutzlosigkeit"
eingehender Vorarbeiten des Gerichts anführt: sie könnten durch beliebige Nova
jederzeit umgestürzt werden. Vergleicht man hiermit das, was Wach selbst an
andrer Stelle über die Anforderungen sagt, welche man in Bezug aus Voll¬
ständigkeit und Verarbeitung des Stoffes an die vorbereitenden Schriftsätze der
Anwälte stellen müsse, so muß man in der That über den seltsamen Wider¬
spruch, in den Wach gerät, erstaunen.

Um den Terminsverlegungen und der dadurch veranlaßten Prozeßver¬
schleppung zu begegnen, verlangt er von den Schriftsätzen, daß sie den gesamten
Streitstoff knapp und logisch geordnet enthalten sollen; trotzdem aber soll sie
das Gericht zu seiner Vorbereitung nur oberflächlich benutzen, lediglich um der
gewiß nicht gerade häufigen Möglichkeit eines nachträglichen neuen Vordringens
halber. Je sorgfältiger und vollständiger die Schriftsätze sind, umso ruhiger
kann sie doch das Gericht benutzen, denn umso geringer ist die Gefahr, daß
in der Verhandlung plötzlich wesentlich Neues auftauchen kann. Sind dagegen
die Schriftsätze ungenügend, so hält schon dieser Umstand das Gericht von einer
eingehenden Bearbeitung ab.

So erhöht Wach die Gefahren, die an sich der Mündlichkeit eigen sind,
noch dadurch, daß er selbst Wege versperrt, die das Gesetz in keiner Weise
verbietet und die wenigstens zu einer Einschränkung jener Gefahren führen.
Immerhin hat dies das eine Gute, daß er den Widerspruch zwischen den
Konsequenzen des Prinzips und den Anforderungen des wirklichen Lebens
zum klaren Ausdruck bringt und der Erkenntnis jedes Unbefangenen bloßlegt.
Denn hier wie überall offenbart sich die Unwahrheit eines Grundsatzes umso
deutlicher, je reiner er zur Entfaltung gelangt.

Die beiden hauptsächlichsten Bedenken, welche Bähr gegen das Mündlich-
keitsprinzip der Zivilprozeßordnung hegt: die Gefährdung der Sicherheit der


Grenzboten I. 1338. 2
Die Mündlichkeit im Zivilprozeß.

an eine solche Vorarbeit des Gerichts knüpft, erscheinen grundlos. Eine ist
darunter, die geradezu eigentümlich wirkt. Er fürchtet nämlich, daß Vorsitzender
und Referent die Sache ganz in der Hand haben und der nicht vorbereitete
Dritte eine Null im Kollegium werden würde. Auf das Gebiet des Thatsäch¬
lichen kann sich diese Besorgnis nicht beziehen, da hierfür ja die mündliche Ver¬
handlung allein maßgebend und nach richtiger Auffassung eine Feststellung des
Vorgebrachten durch Mehrheitsbeschluß unzulässig ist; es kann also nur der Unter¬
schied in der rechtlichen Beherrschung des Stoffes sein, der Wach Bedenken erweckt.
Man sollte aber doch meinen, es sei immer noch besser, daß zwei von den
Richtern die rechtlichen Gesichtspunkte, welche für die Beurteilung der Sache von
Belang sind, reiflich erwogen hätten und vollständig beherrschten, wenn sie dadurch
auch dem dritten Richter gegenüber in Vorteil kommen, als daß keiner von allen
dreien die Sache genau und nach allen Seiten hin durchdacht hat. Zu einem so
sonderbaren Gedankengange verführt die Verteidigung eines verfehlten Prinzips!

Nicht minder eigentümlich ist der Grund, den Wach für die „Nutzlosigkeit"
eingehender Vorarbeiten des Gerichts anführt: sie könnten durch beliebige Nova
jederzeit umgestürzt werden. Vergleicht man hiermit das, was Wach selbst an
andrer Stelle über die Anforderungen sagt, welche man in Bezug aus Voll¬
ständigkeit und Verarbeitung des Stoffes an die vorbereitenden Schriftsätze der
Anwälte stellen müsse, so muß man in der That über den seltsamen Wider¬
spruch, in den Wach gerät, erstaunen.

Um den Terminsverlegungen und der dadurch veranlaßten Prozeßver¬
schleppung zu begegnen, verlangt er von den Schriftsätzen, daß sie den gesamten
Streitstoff knapp und logisch geordnet enthalten sollen; trotzdem aber soll sie
das Gericht zu seiner Vorbereitung nur oberflächlich benutzen, lediglich um der
gewiß nicht gerade häufigen Möglichkeit eines nachträglichen neuen Vordringens
halber. Je sorgfältiger und vollständiger die Schriftsätze sind, umso ruhiger
kann sie doch das Gericht benutzen, denn umso geringer ist die Gefahr, daß
in der Verhandlung plötzlich wesentlich Neues auftauchen kann. Sind dagegen
die Schriftsätze ungenügend, so hält schon dieser Umstand das Gericht von einer
eingehenden Bearbeitung ab.

So erhöht Wach die Gefahren, die an sich der Mündlichkeit eigen sind,
noch dadurch, daß er selbst Wege versperrt, die das Gesetz in keiner Weise
verbietet und die wenigstens zu einer Einschränkung jener Gefahren führen.
Immerhin hat dies das eine Gute, daß er den Widerspruch zwischen den
Konsequenzen des Prinzips und den Anforderungen des wirklichen Lebens
zum klaren Ausdruck bringt und der Erkenntnis jedes Unbefangenen bloßlegt.
Denn hier wie überall offenbart sich die Unwahrheit eines Grundsatzes umso
deutlicher, je reiner er zur Entfaltung gelangt.

Die beiden hauptsächlichsten Bedenken, welche Bähr gegen das Mündlich-
keitsprinzip der Zivilprozeßordnung hegt: die Gefährdung der Sicherheit der


Grenzboten I. 1338. 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/17>, abgerufen am 16.05.2024.