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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Mündlichkeit im Zivilprozeß.

jetzt noch üblich ist, daß keins der Mitglieder des Gerichts, selbst der Vor¬
sitzende nicht, vor dem Verhandlungstermine von den bei den Akten befindlichen
Schriftsätzen der Parteien überhaupt nnr Kenntnis nimmt. Wie eine solche
Praxis mit einer gedeihlichen Handhabung des Fragerechts dnrch den Vor¬
sitzenden vereinbar ist, vermag man sich schwer vorzustellen. Pflegen doch die
meisten nur einigermaßen verwickelten Sachvcrhalte eine Unterstellung unter
mehrere rechtliche Gesichtspunkte (Klagen, Einredercchte) zuzulassen, und muß
sich dann doch die Ausübung des Fragerechts für jeden dieser verschiednen Unter¬
stellungsfälle regelmäßig auch verschieden gestalten, während die Anwälte ge¬
wöhnlich nur einen dieser Fälle herausgegriffen haben und in genügender Weise
thatsächlich ausführen. Freilich entspricht die Geschäftsbehandlung, wie sie von
jenen rheinischen Gerichten beobachtet wird, dem Ideal der Zivilprozeßordnung
am meisten. Denn der Richter, wie ihn diese sich denkt, ist ein Jurist, in dessen
Gehirn sich auch ohne jede vorbereitende Kenntnis von der Sache selbst die
verwickeltsten und dunkelsten Thatbestände sofort in logisch klarer Weise sondern
und unter die Rechtssätze, unter denen sie stehen, ordnen, sodaß nun der Schluß
aus den beiden damit gegebenen Vordersätzen, das Urteil, ein Werk ist, zu
dessen Vollbringung es allerdings nur ausnahmsweise einer Frist vou einer
Woche bedarf.

Während insofern, was die Art der Vorbereitung zum Verhandlungstermine
anlangt, jene rheinischen Juristen dem Ideal der Zivilprozeßordnung ohne Zweifel
am nächsten kommen, weichen sie allerdings wieder insofern von ihm ab, als
die Urteilsanfertigung offenbar nicht bloß auf Grund des mündlich Gehörten,
sondern der Schriftsätze, ja selbst der Hcmdaktcn der Anwälte stattfindet.

Wach billigt freilich beides nicht, ebensowenig aber findet es seinen Beifall,
daß noch in einigen Gerichten des gemeinen und preußischen Rechts auf Grund
der vorbereitenden Schriftsätze der Parteien vor dem Termine durch ein oder
mehrere Mitglieder des Gerichts eine sorgfältige, eingehende Begutachtung des
Falles in schriftlicher Form erfolgt. Eine solche Vorarbeit hält Wach sowohl
für nutzlos als für gefährlich. Die Ausführungen Bührs gegen diese Auffassung
dürften wieder bei einem jeden unparteilichen Urteiler auf Zustimmung rechnen
dürfen.

Über den Wert der Schrift als Mittel zur scharfen Fixirung der Ge¬
danken hat sich Bähr bereits in seiner die Fehde einleitenden Abhandlung aus¬
gesprochen, und es kann in der That keinem Zweifel unterliegen, daß das klare
und allseitige Durchdenken eines Stoffes durch die Notwendigkeit schriftlicher
Niederlegung des Gedankenganges ganz hervorragend gefördert wird, daß es
daher im Interesse einer wirklich gediegenen Sachbearbeitung und Rechtspflege
nur mit Freuden zu begrüßen ist, wenn man von seiten des Gerichts eine ein¬
gehende schriftliche Begutachtung des Falles eintreten läßt, obgleich das Gesetz
eine solche nicht mehr ausdrücklich verlangt. Die Befürchtungen, welche Wach


Die Mündlichkeit im Zivilprozeß.

jetzt noch üblich ist, daß keins der Mitglieder des Gerichts, selbst der Vor¬
sitzende nicht, vor dem Verhandlungstermine von den bei den Akten befindlichen
Schriftsätzen der Parteien überhaupt nnr Kenntnis nimmt. Wie eine solche
Praxis mit einer gedeihlichen Handhabung des Fragerechts dnrch den Vor¬
sitzenden vereinbar ist, vermag man sich schwer vorzustellen. Pflegen doch die
meisten nur einigermaßen verwickelten Sachvcrhalte eine Unterstellung unter
mehrere rechtliche Gesichtspunkte (Klagen, Einredercchte) zuzulassen, und muß
sich dann doch die Ausübung des Fragerechts für jeden dieser verschiednen Unter¬
stellungsfälle regelmäßig auch verschieden gestalten, während die Anwälte ge¬
wöhnlich nur einen dieser Fälle herausgegriffen haben und in genügender Weise
thatsächlich ausführen. Freilich entspricht die Geschäftsbehandlung, wie sie von
jenen rheinischen Gerichten beobachtet wird, dem Ideal der Zivilprozeßordnung
am meisten. Denn der Richter, wie ihn diese sich denkt, ist ein Jurist, in dessen
Gehirn sich auch ohne jede vorbereitende Kenntnis von der Sache selbst die
verwickeltsten und dunkelsten Thatbestände sofort in logisch klarer Weise sondern
und unter die Rechtssätze, unter denen sie stehen, ordnen, sodaß nun der Schluß
aus den beiden damit gegebenen Vordersätzen, das Urteil, ein Werk ist, zu
dessen Vollbringung es allerdings nur ausnahmsweise einer Frist vou einer
Woche bedarf.

Während insofern, was die Art der Vorbereitung zum Verhandlungstermine
anlangt, jene rheinischen Juristen dem Ideal der Zivilprozeßordnung ohne Zweifel
am nächsten kommen, weichen sie allerdings wieder insofern von ihm ab, als
die Urteilsanfertigung offenbar nicht bloß auf Grund des mündlich Gehörten,
sondern der Schriftsätze, ja selbst der Hcmdaktcn der Anwälte stattfindet.

Wach billigt freilich beides nicht, ebensowenig aber findet es seinen Beifall,
daß noch in einigen Gerichten des gemeinen und preußischen Rechts auf Grund
der vorbereitenden Schriftsätze der Parteien vor dem Termine durch ein oder
mehrere Mitglieder des Gerichts eine sorgfältige, eingehende Begutachtung des
Falles in schriftlicher Form erfolgt. Eine solche Vorarbeit hält Wach sowohl
für nutzlos als für gefährlich. Die Ausführungen Bührs gegen diese Auffassung
dürften wieder bei einem jeden unparteilichen Urteiler auf Zustimmung rechnen
dürfen.

Über den Wert der Schrift als Mittel zur scharfen Fixirung der Ge¬
danken hat sich Bähr bereits in seiner die Fehde einleitenden Abhandlung aus¬
gesprochen, und es kann in der That keinem Zweifel unterliegen, daß das klare
und allseitige Durchdenken eines Stoffes durch die Notwendigkeit schriftlicher
Niederlegung des Gedankenganges ganz hervorragend gefördert wird, daß es
daher im Interesse einer wirklich gediegenen Sachbearbeitung und Rechtspflege
nur mit Freuden zu begrüßen ist, wenn man von seiten des Gerichts eine ein¬
gehende schriftliche Begutachtung des Falles eintreten läßt, obgleich das Gesetz
eine solche nicht mehr ausdrücklich verlangt. Die Befürchtungen, welche Wach


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[0016] Die Mündlichkeit im Zivilprozeß. jetzt noch üblich ist, daß keins der Mitglieder des Gerichts, selbst der Vor¬ sitzende nicht, vor dem Verhandlungstermine von den bei den Akten befindlichen Schriftsätzen der Parteien überhaupt nnr Kenntnis nimmt. Wie eine solche Praxis mit einer gedeihlichen Handhabung des Fragerechts dnrch den Vor¬ sitzenden vereinbar ist, vermag man sich schwer vorzustellen. Pflegen doch die meisten nur einigermaßen verwickelten Sachvcrhalte eine Unterstellung unter mehrere rechtliche Gesichtspunkte (Klagen, Einredercchte) zuzulassen, und muß sich dann doch die Ausübung des Fragerechts für jeden dieser verschiednen Unter¬ stellungsfälle regelmäßig auch verschieden gestalten, während die Anwälte ge¬ wöhnlich nur einen dieser Fälle herausgegriffen haben und in genügender Weise thatsächlich ausführen. Freilich entspricht die Geschäftsbehandlung, wie sie von jenen rheinischen Gerichten beobachtet wird, dem Ideal der Zivilprozeßordnung am meisten. Denn der Richter, wie ihn diese sich denkt, ist ein Jurist, in dessen Gehirn sich auch ohne jede vorbereitende Kenntnis von der Sache selbst die verwickeltsten und dunkelsten Thatbestände sofort in logisch klarer Weise sondern und unter die Rechtssätze, unter denen sie stehen, ordnen, sodaß nun der Schluß aus den beiden damit gegebenen Vordersätzen, das Urteil, ein Werk ist, zu dessen Vollbringung es allerdings nur ausnahmsweise einer Frist vou einer Woche bedarf. Während insofern, was die Art der Vorbereitung zum Verhandlungstermine anlangt, jene rheinischen Juristen dem Ideal der Zivilprozeßordnung ohne Zweifel am nächsten kommen, weichen sie allerdings wieder insofern von ihm ab, als die Urteilsanfertigung offenbar nicht bloß auf Grund des mündlich Gehörten, sondern der Schriftsätze, ja selbst der Hcmdaktcn der Anwälte stattfindet. Wach billigt freilich beides nicht, ebensowenig aber findet es seinen Beifall, daß noch in einigen Gerichten des gemeinen und preußischen Rechts auf Grund der vorbereitenden Schriftsätze der Parteien vor dem Termine durch ein oder mehrere Mitglieder des Gerichts eine sorgfältige, eingehende Begutachtung des Falles in schriftlicher Form erfolgt. Eine solche Vorarbeit hält Wach sowohl für nutzlos als für gefährlich. Die Ausführungen Bührs gegen diese Auffassung dürften wieder bei einem jeden unparteilichen Urteiler auf Zustimmung rechnen dürfen. Über den Wert der Schrift als Mittel zur scharfen Fixirung der Ge¬ danken hat sich Bähr bereits in seiner die Fehde einleitenden Abhandlung aus¬ gesprochen, und es kann in der That keinem Zweifel unterliegen, daß das klare und allseitige Durchdenken eines Stoffes durch die Notwendigkeit schriftlicher Niederlegung des Gedankenganges ganz hervorragend gefördert wird, daß es daher im Interesse einer wirklich gediegenen Sachbearbeitung und Rechtspflege nur mit Freuden zu begrüßen ist, wenn man von seiten des Gerichts eine ein¬ gehende schriftliche Begutachtung des Falles eintreten läßt, obgleich das Gesetz eine solche nicht mehr ausdrücklich verlangt. Die Befürchtungen, welche Wach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/16>, abgerufen am 22.05.2024.