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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Heilgymnastik im Altertum.

Schriften aus ziemlich später Zeit -- denn Plutarch wie der mehr als ein
halbes Jahrhundert jüngere Lucian gehören dem zweiten Jahrhundert nach
Christus an -- und mögen also für die Sitte der klassischen Zeit des Hellenen-
tums nicht unbedingt beweiskräftig sein. Umso erwünschter ist es, in diesem
Falle das Zeugnis der Ärzte zu hören, die sich, wie oben gezeigt, auf eine
lauge Überlieferung stützen. Da wird um freilich des Tanzes, der Orchestik
schlechtweg, nirgends Erwähnung gethan. Wohl aber reden sie -- und zwar
schon Hippokrates -- von der xe/^ol^t", einem vieldeutigen Worte, welches
von Anthllus erklärt wird. Die Cheironomie, sagt er, hält die Mitte zwischen
dem Tanz und dem Scheinkampf (o^/."/""//"), aber sie nähert sich mehr dem
letztern. Sie nützt in denselben Fällen wie der Scheinkampf, aber sie verdient
den Vorzug bei Kindern, Frauen, ältlichen Leuten und besonders leibarmen oder
kraftlosen Personen. Gemeine ist also der wesentlichste Bestandteil der Orchestik,
in welchem auch namentlich die pantomimische Kraft derselben lag, das freie
Spiel der Arme und der Hände und das Beugen des Oberkörpers. Darum
wird das Wort ^e^ovo/"/" auch oft geradezu für Tanzkunst gebraucht, wie
der Römer denselben Begriff durch das bekannte w-g-ven^ movers auszudrücken
liebt: "Hast du Stimme, sagt Ovid -- in der "Kunst zu lieben" --, so singe, hast
du geschmeidige Arme, so tanze," und in demselben Gedichte rät der Dichter
dem Liebhaber, die Arme der Geliebten zu bewundern, wenn sie tanzt, ihre
Stimme, wenn sie singt. Wer aber im Horciz Bescheid weiß, erinnert sich vielleicht
der Verse der neunten Satire des ersten Buches, wo der aufdringliche Mensch
sich dem Dichter mit den Worten empfiehlt:


Hülf rllvmdra movors
mvllins? inviäol>,t <>uoä ot Hormoxonos, sg'o ohn^o.

Demnach ist es begreiflich, wenn die eben beschriebene Art der Bewegung be¬
sonders Kindern und schwächlichen Leuten empfohlen wird. Sokrates aber hat den
Spöttern gegenüber Recht behalten; denn was beim Tanzen die Hauptsache war,
ist wirklich in den ärztlichen Kanon der Heilgymnastik aufgenommen worden.

Auffallend kann es scheinen, daß die Cheironomie anderseits mit dem
Scheinkämpfe zusammengestellt wird. Allein man muß sich klar machen, was
die <7x,."^et//" den Griechen bedeutete. Man verstand darunter die Lnfthicbe
des Faustkcimpfcrs, also ebenfalls Bewegungen der Arme und des Oberkörpers,
die jedoch mit weit größerm Kraftaufwande ausgeführt wurden als die Ge-
berden des Tänzers und darum auch nur kräftigen Personen verordnet wurden.
Im Grunde war die Sache die gleiche, und so erklärt es sich, daß auch für
diese Art von Gymnastik das Wort x-^o^s^ in Anwendung kam. Auch
Charmidcs gebraucht es in der oben mitgeteilten Erzählung des Xenophon, und
ich habe das i/c^o^o^ desselben durch "ich schlug Lufthiebe" übersetzt, weil
doch wohl der Gegensatz zu den Tanzübuugen des Sokrates bezeichnet werden


Heilgymnastik im Altertum.

Schriften aus ziemlich später Zeit — denn Plutarch wie der mehr als ein
halbes Jahrhundert jüngere Lucian gehören dem zweiten Jahrhundert nach
Christus an — und mögen also für die Sitte der klassischen Zeit des Hellenen-
tums nicht unbedingt beweiskräftig sein. Umso erwünschter ist es, in diesem
Falle das Zeugnis der Ärzte zu hören, die sich, wie oben gezeigt, auf eine
lauge Überlieferung stützen. Da wird um freilich des Tanzes, der Orchestik
schlechtweg, nirgends Erwähnung gethan. Wohl aber reden sie — und zwar
schon Hippokrates — von der xe/^ol^t«, einem vieldeutigen Worte, welches
von Anthllus erklärt wird. Die Cheironomie, sagt er, hält die Mitte zwischen
dem Tanz und dem Scheinkampf (o^/.«/««//«), aber sie nähert sich mehr dem
letztern. Sie nützt in denselben Fällen wie der Scheinkampf, aber sie verdient
den Vorzug bei Kindern, Frauen, ältlichen Leuten und besonders leibarmen oder
kraftlosen Personen. Gemeine ist also der wesentlichste Bestandteil der Orchestik,
in welchem auch namentlich die pantomimische Kraft derselben lag, das freie
Spiel der Arme und der Hände und das Beugen des Oberkörpers. Darum
wird das Wort ^e^ovo/«/« auch oft geradezu für Tanzkunst gebraucht, wie
der Römer denselben Begriff durch das bekannte w-g-ven^ movers auszudrücken
liebt: „Hast du Stimme, sagt Ovid — in der „Kunst zu lieben" —, so singe, hast
du geschmeidige Arme, so tanze," und in demselben Gedichte rät der Dichter
dem Liebhaber, die Arme der Geliebten zu bewundern, wenn sie tanzt, ihre
Stimme, wenn sie singt. Wer aber im Horciz Bescheid weiß, erinnert sich vielleicht
der Verse der neunten Satire des ersten Buches, wo der aufdringliche Mensch
sich dem Dichter mit den Worten empfiehlt:


Hülf rllvmdra movors
mvllins? inviäol>,t <>uoä ot Hormoxonos, sg'o ohn^o.

Demnach ist es begreiflich, wenn die eben beschriebene Art der Bewegung be¬
sonders Kindern und schwächlichen Leuten empfohlen wird. Sokrates aber hat den
Spöttern gegenüber Recht behalten; denn was beim Tanzen die Hauptsache war,
ist wirklich in den ärztlichen Kanon der Heilgymnastik aufgenommen worden.

Auffallend kann es scheinen, daß die Cheironomie anderseits mit dem
Scheinkämpfe zusammengestellt wird. Allein man muß sich klar machen, was
die <7x,.«^et//« den Griechen bedeutete. Man verstand darunter die Lnfthicbe
des Faustkcimpfcrs, also ebenfalls Bewegungen der Arme und des Oberkörpers,
die jedoch mit weit größerm Kraftaufwande ausgeführt wurden als die Ge-
berden des Tänzers und darum auch nur kräftigen Personen verordnet wurden.
Im Grunde war die Sache die gleiche, und so erklärt es sich, daß auch für
diese Art von Gymnastik das Wort x-^o^s^ in Anwendung kam. Auch
Charmidcs gebraucht es in der oben mitgeteilten Erzählung des Xenophon, und
ich habe das i/c^o^o^ desselben durch „ich schlug Lufthiebe" übersetzt, weil
doch wohl der Gegensatz zu den Tanzübuugen des Sokrates bezeichnet werden


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[0182] Heilgymnastik im Altertum. Schriften aus ziemlich später Zeit — denn Plutarch wie der mehr als ein halbes Jahrhundert jüngere Lucian gehören dem zweiten Jahrhundert nach Christus an — und mögen also für die Sitte der klassischen Zeit des Hellenen- tums nicht unbedingt beweiskräftig sein. Umso erwünschter ist es, in diesem Falle das Zeugnis der Ärzte zu hören, die sich, wie oben gezeigt, auf eine lauge Überlieferung stützen. Da wird um freilich des Tanzes, der Orchestik schlechtweg, nirgends Erwähnung gethan. Wohl aber reden sie — und zwar schon Hippokrates — von der xe/^ol^t«, einem vieldeutigen Worte, welches von Anthllus erklärt wird. Die Cheironomie, sagt er, hält die Mitte zwischen dem Tanz und dem Scheinkampf (o^/.«/««//«), aber sie nähert sich mehr dem letztern. Sie nützt in denselben Fällen wie der Scheinkampf, aber sie verdient den Vorzug bei Kindern, Frauen, ältlichen Leuten und besonders leibarmen oder kraftlosen Personen. Gemeine ist also der wesentlichste Bestandteil der Orchestik, in welchem auch namentlich die pantomimische Kraft derselben lag, das freie Spiel der Arme und der Hände und das Beugen des Oberkörpers. Darum wird das Wort ^e^ovo/«/« auch oft geradezu für Tanzkunst gebraucht, wie der Römer denselben Begriff durch das bekannte w-g-ven^ movers auszudrücken liebt: „Hast du Stimme, sagt Ovid — in der „Kunst zu lieben" —, so singe, hast du geschmeidige Arme, so tanze," und in demselben Gedichte rät der Dichter dem Liebhaber, die Arme der Geliebten zu bewundern, wenn sie tanzt, ihre Stimme, wenn sie singt. Wer aber im Horciz Bescheid weiß, erinnert sich vielleicht der Verse der neunten Satire des ersten Buches, wo der aufdringliche Mensch sich dem Dichter mit den Worten empfiehlt: Hülf rllvmdra movors mvllins? inviäol>,t <>uoä ot Hormoxonos, sg'o ohn^o. Demnach ist es begreiflich, wenn die eben beschriebene Art der Bewegung be¬ sonders Kindern und schwächlichen Leuten empfohlen wird. Sokrates aber hat den Spöttern gegenüber Recht behalten; denn was beim Tanzen die Hauptsache war, ist wirklich in den ärztlichen Kanon der Heilgymnastik aufgenommen worden. Auffallend kann es scheinen, daß die Cheironomie anderseits mit dem Scheinkämpfe zusammengestellt wird. Allein man muß sich klar machen, was die <7x,.«^et//« den Griechen bedeutete. Man verstand darunter die Lnfthicbe des Faustkcimpfcrs, also ebenfalls Bewegungen der Arme und des Oberkörpers, die jedoch mit weit größerm Kraftaufwande ausgeführt wurden als die Ge- berden des Tänzers und darum auch nur kräftigen Personen verordnet wurden. Im Grunde war die Sache die gleiche, und so erklärt es sich, daß auch für diese Art von Gymnastik das Wort x-^o^s^ in Anwendung kam. Auch Charmidcs gebraucht es in der oben mitgeteilten Erzählung des Xenophon, und ich habe das i/c^o^o^ desselben durch „ich schlug Lufthiebe" übersetzt, weil doch wohl der Gegensatz zu den Tanzübuugen des Sokrates bezeichnet werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/182>, abgerufen am 16.06.2024.