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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Heilgymnastik im Altertum.

Man verordnete sie, wie sich denken läßt, schwächlichen Leuten, Genesenden, aber
zuweilen auch Fieberkranken, ferner Personen, die an Schlaflosigkeit oder
Lethargie litten, endlich da, wo man eine leichte Vomitivkur anwenden wollte,
statt der sonst üblichen Nieswurz. Das letztere gilt vorzugsweise vou der
Hängematte, dem Schaukelbett und der Segelfahrt. Man verordnete also unter
Umständen dem Patienten eine Portion Seekrankheit. Aber man schrieb den
Segelfahrten auch psychische Wirkungen zu. Durch den Wechsel von Furcht
und Beruhigung, sagt Antyllus, erregen sie in wohlthätiger Weise das Gemüt
und beseitigen so alle möglichen Störungen im Organismus, die sonst zu Krank¬
heiten führen würden. Wer denkt bei solchen Lehrsätzen nicht an die xaS-et^c,'
des Aristoteles?

Noch seltsamer freilich mutet es uns an, wenn wir lesen, daß auch die
Unterhaltung und der mündliche Vortrag als diätetische Mittel empfohlen werden.
Was Hippokrates kurz andeutet, hat auch hier wieder Antyllus breit ausgeführt.
Allzu lebhafte Unterhaltung, fagt er, bewirkt Schwere des Kopfes und erschöpft
die Kräfte, besonders bei Fieberkranken, sie trocknet die Zunge aus und macht
durstig, sie erregt Reiz zum Erbrechen und ist bei gewissen Leiden, wie bei
Augenkrankheiten, Nasenblutungen und Bluthusten, geradezu schädlich. Aber sie
belebt auch wieder und ist daher denen zu empfehlen, die eine übermüßige
Neigung zur Schläfrigkeit haben. Also allzu geschwätzige Leute thun sich nach
Antyllus' Meinung selbst den größten Schaden; daß sie auch andern Leuten
lästig fallen, sagt er nicht. Nun aber gar der mündliche Vortrag! Er ist nicht
allein dienlich bei allgemeiner Abspannung und um den Sprachwerkzeugeu nach
allzu langer Anstrengung oder Ruhe das nötige Gleichgewicht wiederzugeben,
sondern er erregt auch die Eßlust und fördert die Verdauung, ja er ist
besonders Personen zu empfehlen, die zum Schlagfluß, zur Wassersucht oder
zur Kurzatmigkeit neigen. Nur dem Kopfe ist er nicht zuträglich, da er ihn
anstrengt und schwer macht. Daß er schwangern Frauen, wenn sie Verlangen
nach widernatürlichen Speisen haben, verordnet wurde, möchte wohl am meisten
Verwunderung erregen. Wer die Kur mit Erfolg gebrauchen will, soll zuerst
deu Körper erleichtern, dann eine Abreibung oder ein Bad nehmen und wo¬
möglich einen kurzen Spaziergang machen. Auswendig vorzutragen ist besser
als zu lesen. Wer keine epischen Gedichte auswendig weiß, soll Jamben her¬
sagen; an dritter Stelle folgen Elegien, am wenigsten knrgemäß ist der Vor¬
trag lyrischer Gedichte.

Schließlich möge noch ein Wort gesagt werden über die bereits mehrfach
erwähnten Abreibungen, die meist mit einem genau vorgeschriebenen Striche des
Körpers verbunden waren. Heutzutage nennt man das "Massage" und glaubt
mit der Sache eine vollkommen neue Entdeckung gemacht zu haben; und wer
es ganz besonders gut haben will, reist zu Doktor Metzger uach Amsterdam.
Im Altertume bediente man sich gewöhnlich des Oich zu dieser Kur in der


Heilgymnastik im Altertum.

Man verordnete sie, wie sich denken läßt, schwächlichen Leuten, Genesenden, aber
zuweilen auch Fieberkranken, ferner Personen, die an Schlaflosigkeit oder
Lethargie litten, endlich da, wo man eine leichte Vomitivkur anwenden wollte,
statt der sonst üblichen Nieswurz. Das letztere gilt vorzugsweise vou der
Hängematte, dem Schaukelbett und der Segelfahrt. Man verordnete also unter
Umständen dem Patienten eine Portion Seekrankheit. Aber man schrieb den
Segelfahrten auch psychische Wirkungen zu. Durch den Wechsel von Furcht
und Beruhigung, sagt Antyllus, erregen sie in wohlthätiger Weise das Gemüt
und beseitigen so alle möglichen Störungen im Organismus, die sonst zu Krank¬
heiten führen würden. Wer denkt bei solchen Lehrsätzen nicht an die xaS-et^c,'
des Aristoteles?

Noch seltsamer freilich mutet es uns an, wenn wir lesen, daß auch die
Unterhaltung und der mündliche Vortrag als diätetische Mittel empfohlen werden.
Was Hippokrates kurz andeutet, hat auch hier wieder Antyllus breit ausgeführt.
Allzu lebhafte Unterhaltung, fagt er, bewirkt Schwere des Kopfes und erschöpft
die Kräfte, besonders bei Fieberkranken, sie trocknet die Zunge aus und macht
durstig, sie erregt Reiz zum Erbrechen und ist bei gewissen Leiden, wie bei
Augenkrankheiten, Nasenblutungen und Bluthusten, geradezu schädlich. Aber sie
belebt auch wieder und ist daher denen zu empfehlen, die eine übermüßige
Neigung zur Schläfrigkeit haben. Also allzu geschwätzige Leute thun sich nach
Antyllus' Meinung selbst den größten Schaden; daß sie auch andern Leuten
lästig fallen, sagt er nicht. Nun aber gar der mündliche Vortrag! Er ist nicht
allein dienlich bei allgemeiner Abspannung und um den Sprachwerkzeugeu nach
allzu langer Anstrengung oder Ruhe das nötige Gleichgewicht wiederzugeben,
sondern er erregt auch die Eßlust und fördert die Verdauung, ja er ist
besonders Personen zu empfehlen, die zum Schlagfluß, zur Wassersucht oder
zur Kurzatmigkeit neigen. Nur dem Kopfe ist er nicht zuträglich, da er ihn
anstrengt und schwer macht. Daß er schwangern Frauen, wenn sie Verlangen
nach widernatürlichen Speisen haben, verordnet wurde, möchte wohl am meisten
Verwunderung erregen. Wer die Kur mit Erfolg gebrauchen will, soll zuerst
deu Körper erleichtern, dann eine Abreibung oder ein Bad nehmen und wo¬
möglich einen kurzen Spaziergang machen. Auswendig vorzutragen ist besser
als zu lesen. Wer keine epischen Gedichte auswendig weiß, soll Jamben her¬
sagen; an dritter Stelle folgen Elegien, am wenigsten knrgemäß ist der Vor¬
trag lyrischer Gedichte.

Schließlich möge noch ein Wort gesagt werden über die bereits mehrfach
erwähnten Abreibungen, die meist mit einem genau vorgeschriebenen Striche des
Körpers verbunden waren. Heutzutage nennt man das „Massage" und glaubt
mit der Sache eine vollkommen neue Entdeckung gemacht zu haben; und wer
es ganz besonders gut haben will, reist zu Doktor Metzger uach Amsterdam.
Im Altertume bediente man sich gewöhnlich des Oich zu dieser Kur in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/184>, abgerufen am 16.06.2024.