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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Wiegen.

Lcibesverkürzung bis zu abstoßender Häßlichkeit verunstaltet worden: alle Säfte
drangen nach oben, die Haare verdickten zu Strängen, Kopfhaar und Bart sind
von "udurchdringlicher, stachliger Härte. Wegen seiner Häßlichkeit verlor er
die Zuneigung des Vaters und der Schwester, bis Loris in sein Dasein tritt,
seine boshaften Triebe zähmt, durch Herzensgüte erhebt, und ihn, nachdem er
sein geniales Bildnertalent entdeckt hat, in die Lage setzt, wahrhaft große Skulptur¬
werke zu schaffen.

Die dritte Episode, in der sich gleichfalls die zaubervolle Persönlichkeit
des Helden fördernd und klärend bewährt, ist die des neuen Vaters Noah, des
originellen Menschenzüchters Liebherr. Jordan wollte mit dieser Geschichte eine
barocke naturwissenschaftliche Humoreske bieten, die gleichzeitig seinen eignen
maßvollen Standpunkt gegenüber dem der Phantasten veranschaulichen sollte.
Schade nur, daß diese Episode nicht humoristisch genug und zu barock ge¬
raten ist, denn wenige Leser dürften Jordans Absicht erraten. Der "Vater
Noah" hat sich einmal lächerlich gemacht, als er bei einer der häufigen Ver¬
kündigungen des nahe bevorstehenden Weltunterganges in vollem Ernste eine
Arche baute, um sich nach Art des biblischen Stammvaters der Menschheit zu
retten. Die Welt blieb indes von dem vorüberziehenden Kometen unerschüttert,
Liebherr, ein reicher Gutsbesitzer, eine herkulisch riesige Mannesgestalt mit dem
kindlichsten Herzen im Leibe, ergab sich dem Studium der Naturwissenschaften
und brachte es in der praktischen Naturkunde ziemlich weit. Er pfusche der
Natur ins Handwerk, indem er lahmen Störchen hölzerne Füße ansetzt und
dergleichen. Er geht noch weiter: er will auch die Menschen zu lauter Apollos
züchten, der knickerigen Natur nachhelfen. Er will große Männer nur große
Weiber heiraten lasten und zwingt tyrannisch auch Widerspenstige dazu, denn
just liebten die kleinen Männlein die hochaufgeschossener Dirnen und umgekehrt.
Er giebt sich auch redliche Mühe, in seinem Machtbereiche die soziale Frage zu
lösen. Seine Bauern erhalten einen ungleich höhern Lohn als andre draußen,
dafür aber müssen sie zivilisirt leben: täglich baden, dem Schnaps entsagen,
bei Tisch artig mit Messer und Gabel essen, nicht mit den Fingern in die
Teller greifen. Die Knaben werden von einem ehemaligen Seiltänzer und
Trapezkünstler in körperlichen Übungen unterwiesen, und der Wohlthäter ist ebenso
blind für die heimliche Sehnsucht der Bauern nach dem altererbter Schmutz
und Fusel, wie für die verhaltene Wut der jämmerlich gequälten Jugend. Dieser
Karikatur einer pädagogischen Provinz macht Loris Lelands Eintreten ein
fröhliches Ende, da Vater Noah sich von ihm den Kopf zurechtsetzen läßt.

Damit hätten wir in großen Umrissen, mit Auslassung zahlreicher Neben¬
gestalten und Vorgänge, die Handlung des Jordcmschen Romans skizzirt. Man
wird nicht leugnen, daß sie rein als Erfindung wohl darnach beschaffen ist, den
Leser zu interessiren. Man würde sogar die übermenschlichen Tugenden dieser
oder jener Gestalt gern mit in den Kauf nehmen. Unsre Phantasie, die von


Grenzboten I. 1888. 26
Zwei Wiegen.

Lcibesverkürzung bis zu abstoßender Häßlichkeit verunstaltet worden: alle Säfte
drangen nach oben, die Haare verdickten zu Strängen, Kopfhaar und Bart sind
von »udurchdringlicher, stachliger Härte. Wegen seiner Häßlichkeit verlor er
die Zuneigung des Vaters und der Schwester, bis Loris in sein Dasein tritt,
seine boshaften Triebe zähmt, durch Herzensgüte erhebt, und ihn, nachdem er
sein geniales Bildnertalent entdeckt hat, in die Lage setzt, wahrhaft große Skulptur¬
werke zu schaffen.

Die dritte Episode, in der sich gleichfalls die zaubervolle Persönlichkeit
des Helden fördernd und klärend bewährt, ist die des neuen Vaters Noah, des
originellen Menschenzüchters Liebherr. Jordan wollte mit dieser Geschichte eine
barocke naturwissenschaftliche Humoreske bieten, die gleichzeitig seinen eignen
maßvollen Standpunkt gegenüber dem der Phantasten veranschaulichen sollte.
Schade nur, daß diese Episode nicht humoristisch genug und zu barock ge¬
raten ist, denn wenige Leser dürften Jordans Absicht erraten. Der „Vater
Noah" hat sich einmal lächerlich gemacht, als er bei einer der häufigen Ver¬
kündigungen des nahe bevorstehenden Weltunterganges in vollem Ernste eine
Arche baute, um sich nach Art des biblischen Stammvaters der Menschheit zu
retten. Die Welt blieb indes von dem vorüberziehenden Kometen unerschüttert,
Liebherr, ein reicher Gutsbesitzer, eine herkulisch riesige Mannesgestalt mit dem
kindlichsten Herzen im Leibe, ergab sich dem Studium der Naturwissenschaften
und brachte es in der praktischen Naturkunde ziemlich weit. Er pfusche der
Natur ins Handwerk, indem er lahmen Störchen hölzerne Füße ansetzt und
dergleichen. Er geht noch weiter: er will auch die Menschen zu lauter Apollos
züchten, der knickerigen Natur nachhelfen. Er will große Männer nur große
Weiber heiraten lasten und zwingt tyrannisch auch Widerspenstige dazu, denn
just liebten die kleinen Männlein die hochaufgeschossener Dirnen und umgekehrt.
Er giebt sich auch redliche Mühe, in seinem Machtbereiche die soziale Frage zu
lösen. Seine Bauern erhalten einen ungleich höhern Lohn als andre draußen,
dafür aber müssen sie zivilisirt leben: täglich baden, dem Schnaps entsagen,
bei Tisch artig mit Messer und Gabel essen, nicht mit den Fingern in die
Teller greifen. Die Knaben werden von einem ehemaligen Seiltänzer und
Trapezkünstler in körperlichen Übungen unterwiesen, und der Wohlthäter ist ebenso
blind für die heimliche Sehnsucht der Bauern nach dem altererbter Schmutz
und Fusel, wie für die verhaltene Wut der jämmerlich gequälten Jugend. Dieser
Karikatur einer pädagogischen Provinz macht Loris Lelands Eintreten ein
fröhliches Ende, da Vater Noah sich von ihm den Kopf zurechtsetzen läßt.

Damit hätten wir in großen Umrissen, mit Auslassung zahlreicher Neben¬
gestalten und Vorgänge, die Handlung des Jordcmschen Romans skizzirt. Man
wird nicht leugnen, daß sie rein als Erfindung wohl darnach beschaffen ist, den
Leser zu interessiren. Man würde sogar die übermenschlichen Tugenden dieser
oder jener Gestalt gern mit in den Kauf nehmen. Unsre Phantasie, die von


Grenzboten I. 1888. 26
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[0209] Zwei Wiegen. Lcibesverkürzung bis zu abstoßender Häßlichkeit verunstaltet worden: alle Säfte drangen nach oben, die Haare verdickten zu Strängen, Kopfhaar und Bart sind von »udurchdringlicher, stachliger Härte. Wegen seiner Häßlichkeit verlor er die Zuneigung des Vaters und der Schwester, bis Loris in sein Dasein tritt, seine boshaften Triebe zähmt, durch Herzensgüte erhebt, und ihn, nachdem er sein geniales Bildnertalent entdeckt hat, in die Lage setzt, wahrhaft große Skulptur¬ werke zu schaffen. Die dritte Episode, in der sich gleichfalls die zaubervolle Persönlichkeit des Helden fördernd und klärend bewährt, ist die des neuen Vaters Noah, des originellen Menschenzüchters Liebherr. Jordan wollte mit dieser Geschichte eine barocke naturwissenschaftliche Humoreske bieten, die gleichzeitig seinen eignen maßvollen Standpunkt gegenüber dem der Phantasten veranschaulichen sollte. Schade nur, daß diese Episode nicht humoristisch genug und zu barock ge¬ raten ist, denn wenige Leser dürften Jordans Absicht erraten. Der „Vater Noah" hat sich einmal lächerlich gemacht, als er bei einer der häufigen Ver¬ kündigungen des nahe bevorstehenden Weltunterganges in vollem Ernste eine Arche baute, um sich nach Art des biblischen Stammvaters der Menschheit zu retten. Die Welt blieb indes von dem vorüberziehenden Kometen unerschüttert, Liebherr, ein reicher Gutsbesitzer, eine herkulisch riesige Mannesgestalt mit dem kindlichsten Herzen im Leibe, ergab sich dem Studium der Naturwissenschaften und brachte es in der praktischen Naturkunde ziemlich weit. Er pfusche der Natur ins Handwerk, indem er lahmen Störchen hölzerne Füße ansetzt und dergleichen. Er geht noch weiter: er will auch die Menschen zu lauter Apollos züchten, der knickerigen Natur nachhelfen. Er will große Männer nur große Weiber heiraten lasten und zwingt tyrannisch auch Widerspenstige dazu, denn just liebten die kleinen Männlein die hochaufgeschossener Dirnen und umgekehrt. Er giebt sich auch redliche Mühe, in seinem Machtbereiche die soziale Frage zu lösen. Seine Bauern erhalten einen ungleich höhern Lohn als andre draußen, dafür aber müssen sie zivilisirt leben: täglich baden, dem Schnaps entsagen, bei Tisch artig mit Messer und Gabel essen, nicht mit den Fingern in die Teller greifen. Die Knaben werden von einem ehemaligen Seiltänzer und Trapezkünstler in körperlichen Übungen unterwiesen, und der Wohlthäter ist ebenso blind für die heimliche Sehnsucht der Bauern nach dem altererbter Schmutz und Fusel, wie für die verhaltene Wut der jämmerlich gequälten Jugend. Dieser Karikatur einer pädagogischen Provinz macht Loris Lelands Eintreten ein fröhliches Ende, da Vater Noah sich von ihm den Kopf zurechtsetzen läßt. Damit hätten wir in großen Umrissen, mit Auslassung zahlreicher Neben¬ gestalten und Vorgänge, die Handlung des Jordcmschen Romans skizzirt. Man wird nicht leugnen, daß sie rein als Erfindung wohl darnach beschaffen ist, den Leser zu interessiren. Man würde sogar die übermenschlichen Tugenden dieser oder jener Gestalt gern mit in den Kauf nehmen. Unsre Phantasie, die von Grenzboten I. 1888. 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/209>, abgerufen am 05.06.2024.