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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Wiegen.

dem "jämmerlichen Gelichter der Realisten," wie Loris-Jordan zornig sagt, bis
zur gänzlichen Apathie mit Bildern menschlicher Schlechtigkeit, Gemeinheit, All¬
täglichkeit erfüllt wurden ist, lechzt förmlich darnach, sich an einem begeisterten
Gemälde menschlicher Größe, Kraft und Herrlichkeit zu erbauen und zu erheben.
Die bis zum Ekel übertriebene Lebenswahrheit des modernen Naturalismus
ruft einen natürlichen Rückschlag hervor, den des künstlerischen Idealismus.
Und wenn man überhaupt der Kunst einen volkserzieherischcn Zweck zuschreiben
darf, so ist jedenfalls die idealistische von höherm nationalen Nutzen als die
pessimistisch-realistische. Denn es ist gar nicht wahr, daß die Kunst die Einsicht
und Erkenntnis bei der Menge fördere; die Kunst wirkt nur auf die Ein¬
bildungskraft und mittels derselben auf das menschliche Gemüt. Die pessi¬
mistische Kunst aber vergiftet dieses durch die endlose Darstellung des Bösen,
sie drückt es darnieder, sie benimmt ihm jede Lebensfreude, sie schwächt seinen
Mut, sie zerrüttet seinen naiven moralischen Instinkt und Glauben. Darum
verschlägt es gar nichts, wenn der Idealist ein klein wenig mit der nüchternen
Wahrscheinlichkeit in Streit gerät, wenn nur der Geist, der ihn erfüllt, gesund,
männlich und wahrhaft ist. Auch diesen Geist muß man Wilhelm Jordan ge-
rechterweise zugestehen. Die Ethik seines Romans ist edel, keine schwärmerisch
verstiegne, sondern eine fest auf der Elkenntnis der Wirklichkeit gegründete
Sittenlehre. Die bedingungslose Erfüllung der Pflicht, das ist ihr höchster
Lehrsatz, und trotz aller metaphysischen Gegensätze zur Neflexionsphilvsophie
stimmt sie hierin mit der des strengsten deutschen Ethikers, mit Kant, dem
Schöpfer der Neflexionsphilosvphie, überein. Es ist auch jedenfalls ein Verdienst,
sich und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften in der Weise zu erfüllen,
wie es Jordan gethan hat. Denn diese Erkenntnisse lassen sich nicht länger
umgehen, sie dringen langsam, aber stetig in alle Poren des nationalen Lebens
ein, und der Roman, in seiner ästhetischen Mittelstellung zwischen reiner Kunst
und dichterisch unaufgelöster Prosa, ist noch immer der einzige Boden, auf
welchem neue Bildungselemente verarbeitet werden können. Denn er ist die
einzige litterarische Form, welche beim großen Publikum heutzutage Eingang
findet, und wenn ein Roman wie diese "Zwei Wiegen" von Wilhelm Jordan
zahlreiche Auflagen erleben sollte, so müßte man eigentlich ganz zufrieden sein.

Allein daß dies so unwahrscheinlich als nur möglich geworden ist, dafür
hat Jordan leider selbst am meisten gesorgt, und damit kommen wir auf
die Klagen zurück, mit denen wir diesen kritischen Bericht eingeleitet haben.
Wir gestehen gern zu, daß er bemüht gewesen ist, den spröden, wissenschaftlichen
Stoff in künstlerischer Form zu gestalten, auch den großen Fortschritt über
die "Sebalds" in dieser Beziehung zögern wir nicht anzuerkennen. Aber noch
immer sprechen die Nomangestaltcn lange Abhandlungen, oder vielmehr Jordan
tritt in seltenen Fällen das Wort an seine Menschen ab, sein Roman ist mit
wenigen Unterbrechungen ein einziger, riesiger Monolog. Er, der auf seine


Zwei Wiegen.

dem „jämmerlichen Gelichter der Realisten," wie Loris-Jordan zornig sagt, bis
zur gänzlichen Apathie mit Bildern menschlicher Schlechtigkeit, Gemeinheit, All¬
täglichkeit erfüllt wurden ist, lechzt förmlich darnach, sich an einem begeisterten
Gemälde menschlicher Größe, Kraft und Herrlichkeit zu erbauen und zu erheben.
Die bis zum Ekel übertriebene Lebenswahrheit des modernen Naturalismus
ruft einen natürlichen Rückschlag hervor, den des künstlerischen Idealismus.
Und wenn man überhaupt der Kunst einen volkserzieherischcn Zweck zuschreiben
darf, so ist jedenfalls die idealistische von höherm nationalen Nutzen als die
pessimistisch-realistische. Denn es ist gar nicht wahr, daß die Kunst die Einsicht
und Erkenntnis bei der Menge fördere; die Kunst wirkt nur auf die Ein¬
bildungskraft und mittels derselben auf das menschliche Gemüt. Die pessi¬
mistische Kunst aber vergiftet dieses durch die endlose Darstellung des Bösen,
sie drückt es darnieder, sie benimmt ihm jede Lebensfreude, sie schwächt seinen
Mut, sie zerrüttet seinen naiven moralischen Instinkt und Glauben. Darum
verschlägt es gar nichts, wenn der Idealist ein klein wenig mit der nüchternen
Wahrscheinlichkeit in Streit gerät, wenn nur der Geist, der ihn erfüllt, gesund,
männlich und wahrhaft ist. Auch diesen Geist muß man Wilhelm Jordan ge-
rechterweise zugestehen. Die Ethik seines Romans ist edel, keine schwärmerisch
verstiegne, sondern eine fest auf der Elkenntnis der Wirklichkeit gegründete
Sittenlehre. Die bedingungslose Erfüllung der Pflicht, das ist ihr höchster
Lehrsatz, und trotz aller metaphysischen Gegensätze zur Neflexionsphilvsophie
stimmt sie hierin mit der des strengsten deutschen Ethikers, mit Kant, dem
Schöpfer der Neflexionsphilosvphie, überein. Es ist auch jedenfalls ein Verdienst,
sich und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften in der Weise zu erfüllen,
wie es Jordan gethan hat. Denn diese Erkenntnisse lassen sich nicht länger
umgehen, sie dringen langsam, aber stetig in alle Poren des nationalen Lebens
ein, und der Roman, in seiner ästhetischen Mittelstellung zwischen reiner Kunst
und dichterisch unaufgelöster Prosa, ist noch immer der einzige Boden, auf
welchem neue Bildungselemente verarbeitet werden können. Denn er ist die
einzige litterarische Form, welche beim großen Publikum heutzutage Eingang
findet, und wenn ein Roman wie diese „Zwei Wiegen" von Wilhelm Jordan
zahlreiche Auflagen erleben sollte, so müßte man eigentlich ganz zufrieden sein.

Allein daß dies so unwahrscheinlich als nur möglich geworden ist, dafür
hat Jordan leider selbst am meisten gesorgt, und damit kommen wir auf
die Klagen zurück, mit denen wir diesen kritischen Bericht eingeleitet haben.
Wir gestehen gern zu, daß er bemüht gewesen ist, den spröden, wissenschaftlichen
Stoff in künstlerischer Form zu gestalten, auch den großen Fortschritt über
die „Sebalds" in dieser Beziehung zögern wir nicht anzuerkennen. Aber noch
immer sprechen die Nomangestaltcn lange Abhandlungen, oder vielmehr Jordan
tritt in seltenen Fällen das Wort an seine Menschen ab, sein Roman ist mit
wenigen Unterbrechungen ein einziger, riesiger Monolog. Er, der auf seine


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[0210] Zwei Wiegen. dem „jämmerlichen Gelichter der Realisten," wie Loris-Jordan zornig sagt, bis zur gänzlichen Apathie mit Bildern menschlicher Schlechtigkeit, Gemeinheit, All¬ täglichkeit erfüllt wurden ist, lechzt förmlich darnach, sich an einem begeisterten Gemälde menschlicher Größe, Kraft und Herrlichkeit zu erbauen und zu erheben. Die bis zum Ekel übertriebene Lebenswahrheit des modernen Naturalismus ruft einen natürlichen Rückschlag hervor, den des künstlerischen Idealismus. Und wenn man überhaupt der Kunst einen volkserzieherischcn Zweck zuschreiben darf, so ist jedenfalls die idealistische von höherm nationalen Nutzen als die pessimistisch-realistische. Denn es ist gar nicht wahr, daß die Kunst die Einsicht und Erkenntnis bei der Menge fördere; die Kunst wirkt nur auf die Ein¬ bildungskraft und mittels derselben auf das menschliche Gemüt. Die pessi¬ mistische Kunst aber vergiftet dieses durch die endlose Darstellung des Bösen, sie drückt es darnieder, sie benimmt ihm jede Lebensfreude, sie schwächt seinen Mut, sie zerrüttet seinen naiven moralischen Instinkt und Glauben. Darum verschlägt es gar nichts, wenn der Idealist ein klein wenig mit der nüchternen Wahrscheinlichkeit in Streit gerät, wenn nur der Geist, der ihn erfüllt, gesund, männlich und wahrhaft ist. Auch diesen Geist muß man Wilhelm Jordan ge- rechterweise zugestehen. Die Ethik seines Romans ist edel, keine schwärmerisch verstiegne, sondern eine fest auf der Elkenntnis der Wirklichkeit gegründete Sittenlehre. Die bedingungslose Erfüllung der Pflicht, das ist ihr höchster Lehrsatz, und trotz aller metaphysischen Gegensätze zur Neflexionsphilvsophie stimmt sie hierin mit der des strengsten deutschen Ethikers, mit Kant, dem Schöpfer der Neflexionsphilosvphie, überein. Es ist auch jedenfalls ein Verdienst, sich und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften in der Weise zu erfüllen, wie es Jordan gethan hat. Denn diese Erkenntnisse lassen sich nicht länger umgehen, sie dringen langsam, aber stetig in alle Poren des nationalen Lebens ein, und der Roman, in seiner ästhetischen Mittelstellung zwischen reiner Kunst und dichterisch unaufgelöster Prosa, ist noch immer der einzige Boden, auf welchem neue Bildungselemente verarbeitet werden können. Denn er ist die einzige litterarische Form, welche beim großen Publikum heutzutage Eingang findet, und wenn ein Roman wie diese „Zwei Wiegen" von Wilhelm Jordan zahlreiche Auflagen erleben sollte, so müßte man eigentlich ganz zufrieden sein. Allein daß dies so unwahrscheinlich als nur möglich geworden ist, dafür hat Jordan leider selbst am meisten gesorgt, und damit kommen wir auf die Klagen zurück, mit denen wir diesen kritischen Bericht eingeleitet haben. Wir gestehen gern zu, daß er bemüht gewesen ist, den spröden, wissenschaftlichen Stoff in künstlerischer Form zu gestalten, auch den großen Fortschritt über die „Sebalds" in dieser Beziehung zögern wir nicht anzuerkennen. Aber noch immer sprechen die Nomangestaltcn lange Abhandlungen, oder vielmehr Jordan tritt in seltenen Fällen das Wort an seine Menschen ab, sein Roman ist mit wenigen Unterbrechungen ein einziger, riesiger Monolog. Er, der auf seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/210>, abgerufen am 16.05.2024.