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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Landwirtschaft und ihre amerikanische Konkurrenz.

glaube. Der vielgerühmte jungfräuliche Boden des Westens bringe keineswegs
höhere, sondern bei der durchgehends schlechtem Bebauung wesentlich niedrigere
Durchschnittserträge als die altbebauten Ländereien im Osten der Union oder
gar in West- und Mitteleuropa. Was das atlantische Nordamerika vor Europa
auszeichne, sei die Leichtigkeit der Bodenbebauung und die Vortrefflichkeit des
natürlichen Verkehrsstraßennetzes. Diese Eigentümlichkeiten begünstigen die rasche
Besiedelung und wirtschaftliche Erschließung des Landes.

Diesen Verhältnissen sind umfassende Untersuchungen gewidmet; die durch
einen Abriß der äußern Besiedlungsgeschichte im neunzehnten Jahrhundert ein¬
geleitet werden.

Die Statistik ergiebt, daß das Farmland, d. h. das zu landwirtschaftlichen
Zwecken verwertete Land, von 93 560 000 Ackern im Jahre 1850 auf 536 082 000
Acker im Jahre 1880 angewachsen ist, also in dreißig Jahren um 242,5 Millionen
Acker, d. i. 93 Millionen Hektaren, eine Fläche, welche beinahe doppelt so groß
ist als das gesamte land- und forstwirtschaftlich bebaute Areal im deutschen
Reich (50 Millionen Hektar). Die größere Hälfte dieser Erweiterung fiel auf das
Jahrzehnt von 1870 bis 1880, nachdem die Stockung in den Westwanderungen,
welche zwischen 1860 und 1870 infolge des Sezessionskrieges eingetreten war,
aufgehört hatte.

Da der Verfasser die letzte Ursache der amerikanischen Konkurrenz in der
raschen Besiedlung und wirtschaftlichen Aufschließung des Landes erblickt, so
widmet er der Frage, ob diese Vorgänge auf dauernden Ursachen beruhen, eine
sorgfältige und sehr lehrreiche Untersuchung. Was die Einwanderung aus
Europa, insbesondre aus Deutschland anlangt, so weist er nach-, daß sie nicht
eine Wirkung von Übervölkerung ist, sondern im Gegenteil aus den am wenigsten
bevölkerten Teilen Deutschlands erfolgt und ihren allgemeinsten Grund in der
Hoffnungslosigkeit des landwirtschaftlichen Arbeiters hat, jemals eignen Grund
und Boden zu erwerben. Diese wohl jetzt ziemlich allgemein anerkannte Wahr¬
heit würde nun auf die dringende Notwendigkeit dessen hinweisen, was wir die
innere Kolonisation nennen. Allein der Verfasser schreibt ihr keine durchschlagende
Heilkraft gegen die Auswanderung zu, weil er, seinem eignen Nachweis ent¬
gegen, für unsre dichtbevölkerten Landesteile nur in der Auswanderung ein
Mittel gegen Übervölkerung sieht, wenn nicht Seuchen, erhöhte Kindersterblich¬
keit, Kriege ze. dem Wachstum der Volkszahl Einhalt geböten. Man sieht, daß
der sonst ganz auf eignen Füßen stehende und nach seinen eignen Erfahrungen
urteilende Verfasser sich hier der Fesseln nicht zu entledigen weiß, in welche ihn die
Malthussche Theorie geschlagen hat.

Wir können die deutsche Einwanderung, vorausgesetzt, daß mit der innern
Kolonisation bei uns wirklicher Ernst gemacht würde, wozu freilich noch wenig
Aussicht ist, nicht als eine dauernde Ursache der raschen wirtschaftlichen Er¬
schließung Nordamerikas anerkennen, wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß


Unsre Landwirtschaft und ihre amerikanische Konkurrenz.

glaube. Der vielgerühmte jungfräuliche Boden des Westens bringe keineswegs
höhere, sondern bei der durchgehends schlechtem Bebauung wesentlich niedrigere
Durchschnittserträge als die altbebauten Ländereien im Osten der Union oder
gar in West- und Mitteleuropa. Was das atlantische Nordamerika vor Europa
auszeichne, sei die Leichtigkeit der Bodenbebauung und die Vortrefflichkeit des
natürlichen Verkehrsstraßennetzes. Diese Eigentümlichkeiten begünstigen die rasche
Besiedelung und wirtschaftliche Erschließung des Landes.

Diesen Verhältnissen sind umfassende Untersuchungen gewidmet; die durch
einen Abriß der äußern Besiedlungsgeschichte im neunzehnten Jahrhundert ein¬
geleitet werden.

Die Statistik ergiebt, daß das Farmland, d. h. das zu landwirtschaftlichen
Zwecken verwertete Land, von 93 560 000 Ackern im Jahre 1850 auf 536 082 000
Acker im Jahre 1880 angewachsen ist, also in dreißig Jahren um 242,5 Millionen
Acker, d. i. 93 Millionen Hektaren, eine Fläche, welche beinahe doppelt so groß
ist als das gesamte land- und forstwirtschaftlich bebaute Areal im deutschen
Reich (50 Millionen Hektar). Die größere Hälfte dieser Erweiterung fiel auf das
Jahrzehnt von 1870 bis 1880, nachdem die Stockung in den Westwanderungen,
welche zwischen 1860 und 1870 infolge des Sezessionskrieges eingetreten war,
aufgehört hatte.

Da der Verfasser die letzte Ursache der amerikanischen Konkurrenz in der
raschen Besiedlung und wirtschaftlichen Aufschließung des Landes erblickt, so
widmet er der Frage, ob diese Vorgänge auf dauernden Ursachen beruhen, eine
sorgfältige und sehr lehrreiche Untersuchung. Was die Einwanderung aus
Europa, insbesondre aus Deutschland anlangt, so weist er nach-, daß sie nicht
eine Wirkung von Übervölkerung ist, sondern im Gegenteil aus den am wenigsten
bevölkerten Teilen Deutschlands erfolgt und ihren allgemeinsten Grund in der
Hoffnungslosigkeit des landwirtschaftlichen Arbeiters hat, jemals eignen Grund
und Boden zu erwerben. Diese wohl jetzt ziemlich allgemein anerkannte Wahr¬
heit würde nun auf die dringende Notwendigkeit dessen hinweisen, was wir die
innere Kolonisation nennen. Allein der Verfasser schreibt ihr keine durchschlagende
Heilkraft gegen die Auswanderung zu, weil er, seinem eignen Nachweis ent¬
gegen, für unsre dichtbevölkerten Landesteile nur in der Auswanderung ein
Mittel gegen Übervölkerung sieht, wenn nicht Seuchen, erhöhte Kindersterblich¬
keit, Kriege ze. dem Wachstum der Volkszahl Einhalt geböten. Man sieht, daß
der sonst ganz auf eignen Füßen stehende und nach seinen eignen Erfahrungen
urteilende Verfasser sich hier der Fesseln nicht zu entledigen weiß, in welche ihn die
Malthussche Theorie geschlagen hat.

Wir können die deutsche Einwanderung, vorausgesetzt, daß mit der innern
Kolonisation bei uns wirklicher Ernst gemacht würde, wozu freilich noch wenig
Aussicht ist, nicht als eine dauernde Ursache der raschen wirtschaftlichen Er¬
schließung Nordamerikas anerkennen, wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß


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[0282] Unsre Landwirtschaft und ihre amerikanische Konkurrenz. glaube. Der vielgerühmte jungfräuliche Boden des Westens bringe keineswegs höhere, sondern bei der durchgehends schlechtem Bebauung wesentlich niedrigere Durchschnittserträge als die altbebauten Ländereien im Osten der Union oder gar in West- und Mitteleuropa. Was das atlantische Nordamerika vor Europa auszeichne, sei die Leichtigkeit der Bodenbebauung und die Vortrefflichkeit des natürlichen Verkehrsstraßennetzes. Diese Eigentümlichkeiten begünstigen die rasche Besiedelung und wirtschaftliche Erschließung des Landes. Diesen Verhältnissen sind umfassende Untersuchungen gewidmet; die durch einen Abriß der äußern Besiedlungsgeschichte im neunzehnten Jahrhundert ein¬ geleitet werden. Die Statistik ergiebt, daß das Farmland, d. h. das zu landwirtschaftlichen Zwecken verwertete Land, von 93 560 000 Ackern im Jahre 1850 auf 536 082 000 Acker im Jahre 1880 angewachsen ist, also in dreißig Jahren um 242,5 Millionen Acker, d. i. 93 Millionen Hektaren, eine Fläche, welche beinahe doppelt so groß ist als das gesamte land- und forstwirtschaftlich bebaute Areal im deutschen Reich (50 Millionen Hektar). Die größere Hälfte dieser Erweiterung fiel auf das Jahrzehnt von 1870 bis 1880, nachdem die Stockung in den Westwanderungen, welche zwischen 1860 und 1870 infolge des Sezessionskrieges eingetreten war, aufgehört hatte. Da der Verfasser die letzte Ursache der amerikanischen Konkurrenz in der raschen Besiedlung und wirtschaftlichen Aufschließung des Landes erblickt, so widmet er der Frage, ob diese Vorgänge auf dauernden Ursachen beruhen, eine sorgfältige und sehr lehrreiche Untersuchung. Was die Einwanderung aus Europa, insbesondre aus Deutschland anlangt, so weist er nach-, daß sie nicht eine Wirkung von Übervölkerung ist, sondern im Gegenteil aus den am wenigsten bevölkerten Teilen Deutschlands erfolgt und ihren allgemeinsten Grund in der Hoffnungslosigkeit des landwirtschaftlichen Arbeiters hat, jemals eignen Grund und Boden zu erwerben. Diese wohl jetzt ziemlich allgemein anerkannte Wahr¬ heit würde nun auf die dringende Notwendigkeit dessen hinweisen, was wir die innere Kolonisation nennen. Allein der Verfasser schreibt ihr keine durchschlagende Heilkraft gegen die Auswanderung zu, weil er, seinem eignen Nachweis ent¬ gegen, für unsre dichtbevölkerten Landesteile nur in der Auswanderung ein Mittel gegen Übervölkerung sieht, wenn nicht Seuchen, erhöhte Kindersterblich¬ keit, Kriege ze. dem Wachstum der Volkszahl Einhalt geböten. Man sieht, daß der sonst ganz auf eignen Füßen stehende und nach seinen eignen Erfahrungen urteilende Verfasser sich hier der Fesseln nicht zu entledigen weiß, in welche ihn die Malthussche Theorie geschlagen hat. Wir können die deutsche Einwanderung, vorausgesetzt, daß mit der innern Kolonisation bei uns wirklicher Ernst gemacht würde, wozu freilich noch wenig Aussicht ist, nicht als eine dauernde Ursache der raschen wirtschaftlichen Er¬ schließung Nordamerikas anerkennen, wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/282>, abgerufen am 29.05.2024.