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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Arzt und der Kranke.

man aber auf Seiten des Kranken die Zuziehung eines andern Arztes für
nötig, so sei man offen und erkläre es frei heraus. Nichts ist verletzender,
als der verheimlichten Thätigkeit eines neuen Ratgebers auf die Spur zu
kommen, während die freimütige Beratung zweier Sachverständigen nur eiteln
Ärzten peinlich sein kann. Übrigens will ich nicht verschweigen, daß bei solchen
Befragungen, die nicht vom Wunsche des Arztes ausgehen, selten viel heraus¬
kommt. Es handelt sich dann meistens um schwere, hoffnungslose Fälle, welche
weniger der Diagnose als der Behandlung hartnäckige Schwierigkeiten bereiten.
Der zweite Arzt kommt, untersucht und gelaugt zu demselben Ergebnis; für die
Kenntnis des Vorangegangenen ist er gewöhnlich auf die Mitteilungen seines
Kollegen angewiesen. Vielleicht hätte er ein andres Arzneimittel vorgezogen,
aber ohne bessere Aussichten daran knüpfen zu können. Die Erfahrung lehrt,
daß bei etwas Hartnäckigkeit und etwas Nachgiebigkeit auf beiden Seiten das
Ergebnis der Beratung sich in diesem Parallelogramm der Kräfte auf der
üblichen Diagonale bewegt. Aber soll man nicht einen "Spezialisten" zuziehen?
Aus der allgemeinen Medizin sind im Laufe der Zeit so viele Spezialwissen-
schaften hervorgegangen, daß fast jeder Kranke seine Hoffnung auf eine der¬
selben setzen kann. Es ist ja kein Wort über den Segen zu verlieren, den
die gesteigerte Kenntnis und Erfahrung eines Spezialisier, zu stiften vermag.
Aber auch hier soll vor allem Offenheit herrschen. Der Kranke soll sich mit
seinem Arzte beraten, ob ein Spczialarzt zu wählen sei und welcher. Das
scheint selbstverständlich, und doch wird mit der Befragung von Spezialisten
hinter dem Rücken des behandelnden Arztes recht viel Unfug getrieben. Mit
welchen Kleinigkeiten werden diese Herren oft belästigt! Es ist, als wenn man
den kleinsten Diebstahl vor das Forum des Reichsgerichts ziehe" oder für den
Bau einer Feldscheune ein Gutachten der Akademie für das Bauwesen einholen
wollte. Der befragte Professor lächelt, er weiß, daß er in solchen Fällen auch
nur mit Wasser kocht, und wenn diese Leute sich in seinem Vorzimmer anhäufen
sollten, so werden sie durch die Hände der Assistenten befördert, um für die
Fälle wichtigerer Thätigkeit Zeit zu gewinnen. Sie kehren dann heim, nachdem
sie bei andern Spezialisten vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben, mit der
unzufriedenen Meinung, es seien dort recht unliebenswürdige Leute in der Resi¬
denz, falls sie nicht in dem Bewußtsein Befriedigung finden, sich mit der ersten
Autorität für ihren Fall in eine kostspielige Verbindung gesetzt zu haben. Es
giebt Familien, von denen ans reiner Vornehmthuerei bei jeder Gelegenheit
"der Herr Professor" um Rat gefragt wird.

Diese Mode hat aber noch weitere häßliche Folgen. Die dem Hausarzte
verheimlichte Befragung des Spezialarztcs schließt für den Hausarzt außer der
Rücksichtslosigkeit auch einen Mangel an Vertrauen ein, welcher manchen Arzt
veranlassen wird, seine ärztliche Thätigkeit in derartigen Häusern überhaupt ein>
zustellen. Erlangt der Mißbrauch aber weitere Verbreitung, so werden die


Der Arzt und der Kranke.

man aber auf Seiten des Kranken die Zuziehung eines andern Arztes für
nötig, so sei man offen und erkläre es frei heraus. Nichts ist verletzender,
als der verheimlichten Thätigkeit eines neuen Ratgebers auf die Spur zu
kommen, während die freimütige Beratung zweier Sachverständigen nur eiteln
Ärzten peinlich sein kann. Übrigens will ich nicht verschweigen, daß bei solchen
Befragungen, die nicht vom Wunsche des Arztes ausgehen, selten viel heraus¬
kommt. Es handelt sich dann meistens um schwere, hoffnungslose Fälle, welche
weniger der Diagnose als der Behandlung hartnäckige Schwierigkeiten bereiten.
Der zweite Arzt kommt, untersucht und gelaugt zu demselben Ergebnis; für die
Kenntnis des Vorangegangenen ist er gewöhnlich auf die Mitteilungen seines
Kollegen angewiesen. Vielleicht hätte er ein andres Arzneimittel vorgezogen,
aber ohne bessere Aussichten daran knüpfen zu können. Die Erfahrung lehrt,
daß bei etwas Hartnäckigkeit und etwas Nachgiebigkeit auf beiden Seiten das
Ergebnis der Beratung sich in diesem Parallelogramm der Kräfte auf der
üblichen Diagonale bewegt. Aber soll man nicht einen „Spezialisten" zuziehen?
Aus der allgemeinen Medizin sind im Laufe der Zeit so viele Spezialwissen-
schaften hervorgegangen, daß fast jeder Kranke seine Hoffnung auf eine der¬
selben setzen kann. Es ist ja kein Wort über den Segen zu verlieren, den
die gesteigerte Kenntnis und Erfahrung eines Spezialisier, zu stiften vermag.
Aber auch hier soll vor allem Offenheit herrschen. Der Kranke soll sich mit
seinem Arzte beraten, ob ein Spczialarzt zu wählen sei und welcher. Das
scheint selbstverständlich, und doch wird mit der Befragung von Spezialisten
hinter dem Rücken des behandelnden Arztes recht viel Unfug getrieben. Mit
welchen Kleinigkeiten werden diese Herren oft belästigt! Es ist, als wenn man
den kleinsten Diebstahl vor das Forum des Reichsgerichts ziehe» oder für den
Bau einer Feldscheune ein Gutachten der Akademie für das Bauwesen einholen
wollte. Der befragte Professor lächelt, er weiß, daß er in solchen Fällen auch
nur mit Wasser kocht, und wenn diese Leute sich in seinem Vorzimmer anhäufen
sollten, so werden sie durch die Hände der Assistenten befördert, um für die
Fälle wichtigerer Thätigkeit Zeit zu gewinnen. Sie kehren dann heim, nachdem
sie bei andern Spezialisten vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben, mit der
unzufriedenen Meinung, es seien dort recht unliebenswürdige Leute in der Resi¬
denz, falls sie nicht in dem Bewußtsein Befriedigung finden, sich mit der ersten
Autorität für ihren Fall in eine kostspielige Verbindung gesetzt zu haben. Es
giebt Familien, von denen ans reiner Vornehmthuerei bei jeder Gelegenheit
„der Herr Professor" um Rat gefragt wird.

Diese Mode hat aber noch weitere häßliche Folgen. Die dem Hausarzte
verheimlichte Befragung des Spezialarztcs schließt für den Hausarzt außer der
Rücksichtslosigkeit auch einen Mangel an Vertrauen ein, welcher manchen Arzt
veranlassen wird, seine ärztliche Thätigkeit in derartigen Häusern überhaupt ein>
zustellen. Erlangt der Mißbrauch aber weitere Verbreitung, so werden die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/30>, abgerufen am 15.05.2024.