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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Arzt und der Kranke.

sein, darf man nur wenigen zumuten, weil der in der Apotheke zubereiteten
Arznei mehr Wirkung beigemessen zu werden pflegt, als der einfachen Beobach¬
tung einer gesundheitsmäßigen Lebensweise. Namentlich giebt es nicht viele
Kranke, welche in langwieriger Krankheit die nötige Charakterstärke besitzen, um
auf die Dauer den Verlockungen von Kurpfuschern zu widerstehen. Sie würden
lächeln, wenn sie hörten, daß jemand sein Thürschloß vom Bäcker ausbessern
oder seinen Hausbau einem Winkelkonsulenten übertragen wolle, und so lange
sie persönlich unbeteiligt sind, geben sie gern zu, daß die Kurpfuscherei viel Un¬
heil anrichte. Aber scheint eine Zeitungsanzeige oder ein Bericht über an¬
geblich glänzende Kurpfuschererfolge auf ihren seit langer Zeit ohne rechte Besse¬
rung sich hinschleppenden Fall zu passen, so fallen sie doch dem Charlatan, dem
Naturheilkünstler anheim oder lassen sich die Rose von einer alten Frau be¬
sprechen.

Kranken, die nach Genesung schmachten und jeden Schimmer von Hoff¬
nung begrüßen, ist ja vieles nachzusehen. Aber ihre Angehörigen sollten sie
von solchen falschen Wegen zurückhalten, und einflußreiche Personen sollten
nicht, wie es leider auf dem Lande vorzüglich von Geistlichen und Lehrern und
von einzelnen Mitgliedern selbst der höchsten Gesellschaft zuweilen fast gewerbs¬
mäßig betrieben wird, einer solchen Verwirrung der Begriffe Vorschub leisten.
Und doch wird in diesem angesehenen Hause ein altes Familienrezept gegen
Magenkrebs, von jener vornehmen Dame ein aus verkohlten Elstern bereitetes
Mittel gegen Epilepsie gern verabreicht. Was denkt man sich wohl dabei, wenn
man sogar das Interesse des Arztes für solche Mittelchen in Anspruch zu
nehmen sucht?

Leider wird diese Verwirrung auch von entgegengesetzter Seite durch eine
Erscheinung vermehrt, von der man eher eine Aufklärung erwartete. Ich meine
die zunehmende Neigung zur Popularisirung der Heilkunde durch eine Literatur
welche dem laienhaften Drange, in bisher verschlossene Gebiete des Wissens und
Könnens einzudringen, entgegenkommt. Da werden die Mütter belehrt, wie
Masern oder Scharlach sich äußern, wie man eine im Anzüge begriffene Diph-
theritis erkennt und welche Arzneien bis zur Ankunft des Arztes angewendet
werden müssen, damit doch ja im Anfange der Krankheit nichts versäumt werde.
Ein Mediziner studirt neun oder zehn Semester, und nachdem er alle Prüfungen
glücklich bestanden hat, steht er doch noch oft genug befangen vor einfachen
Fällen seiner jungen Praxis, weil ihm die Übung fehlt. Und eine um ihr
eignes Kind besorgte Mutter glaubt man durch das Lesen eines Buches soweit
medizinisch bilden zu können, daß sie durch das Labyrinth aller der wechselnden
und vieldeutigen Krankheitsanzeichen sich zu der Klarheit der Auffassung durch¬
zuarbeiten vermag, um nützlich zu handeln? Nein, entweder Sorglosigkeit oder
maßlos übertriebene Angst ist die Frucht dieser Lektüre. Ob ihr Kind über¬
haupt krank ist, wird'jede Mutter auch ohne besondre Belehrung erkennen, sie


Der Arzt und der Kranke.

sein, darf man nur wenigen zumuten, weil der in der Apotheke zubereiteten
Arznei mehr Wirkung beigemessen zu werden pflegt, als der einfachen Beobach¬
tung einer gesundheitsmäßigen Lebensweise. Namentlich giebt es nicht viele
Kranke, welche in langwieriger Krankheit die nötige Charakterstärke besitzen, um
auf die Dauer den Verlockungen von Kurpfuschern zu widerstehen. Sie würden
lächeln, wenn sie hörten, daß jemand sein Thürschloß vom Bäcker ausbessern
oder seinen Hausbau einem Winkelkonsulenten übertragen wolle, und so lange
sie persönlich unbeteiligt sind, geben sie gern zu, daß die Kurpfuscherei viel Un¬
heil anrichte. Aber scheint eine Zeitungsanzeige oder ein Bericht über an¬
geblich glänzende Kurpfuschererfolge auf ihren seit langer Zeit ohne rechte Besse¬
rung sich hinschleppenden Fall zu passen, so fallen sie doch dem Charlatan, dem
Naturheilkünstler anheim oder lassen sich die Rose von einer alten Frau be¬
sprechen.

Kranken, die nach Genesung schmachten und jeden Schimmer von Hoff¬
nung begrüßen, ist ja vieles nachzusehen. Aber ihre Angehörigen sollten sie
von solchen falschen Wegen zurückhalten, und einflußreiche Personen sollten
nicht, wie es leider auf dem Lande vorzüglich von Geistlichen und Lehrern und
von einzelnen Mitgliedern selbst der höchsten Gesellschaft zuweilen fast gewerbs¬
mäßig betrieben wird, einer solchen Verwirrung der Begriffe Vorschub leisten.
Und doch wird in diesem angesehenen Hause ein altes Familienrezept gegen
Magenkrebs, von jener vornehmen Dame ein aus verkohlten Elstern bereitetes
Mittel gegen Epilepsie gern verabreicht. Was denkt man sich wohl dabei, wenn
man sogar das Interesse des Arztes für solche Mittelchen in Anspruch zu
nehmen sucht?

Leider wird diese Verwirrung auch von entgegengesetzter Seite durch eine
Erscheinung vermehrt, von der man eher eine Aufklärung erwartete. Ich meine
die zunehmende Neigung zur Popularisirung der Heilkunde durch eine Literatur
welche dem laienhaften Drange, in bisher verschlossene Gebiete des Wissens und
Könnens einzudringen, entgegenkommt. Da werden die Mütter belehrt, wie
Masern oder Scharlach sich äußern, wie man eine im Anzüge begriffene Diph-
theritis erkennt und welche Arzneien bis zur Ankunft des Arztes angewendet
werden müssen, damit doch ja im Anfange der Krankheit nichts versäumt werde.
Ein Mediziner studirt neun oder zehn Semester, und nachdem er alle Prüfungen
glücklich bestanden hat, steht er doch noch oft genug befangen vor einfachen
Fällen seiner jungen Praxis, weil ihm die Übung fehlt. Und eine um ihr
eignes Kind besorgte Mutter glaubt man durch das Lesen eines Buches soweit
medizinisch bilden zu können, daß sie durch das Labyrinth aller der wechselnden
und vieldeutigen Krankheitsanzeichen sich zu der Klarheit der Auffassung durch¬
zuarbeiten vermag, um nützlich zu handeln? Nein, entweder Sorglosigkeit oder
maßlos übertriebene Angst ist die Frucht dieser Lektüre. Ob ihr Kind über¬
haupt krank ist, wird'jede Mutter auch ohne besondre Belehrung erkennen, sie


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[0034] Der Arzt und der Kranke. sein, darf man nur wenigen zumuten, weil der in der Apotheke zubereiteten Arznei mehr Wirkung beigemessen zu werden pflegt, als der einfachen Beobach¬ tung einer gesundheitsmäßigen Lebensweise. Namentlich giebt es nicht viele Kranke, welche in langwieriger Krankheit die nötige Charakterstärke besitzen, um auf die Dauer den Verlockungen von Kurpfuschern zu widerstehen. Sie würden lächeln, wenn sie hörten, daß jemand sein Thürschloß vom Bäcker ausbessern oder seinen Hausbau einem Winkelkonsulenten übertragen wolle, und so lange sie persönlich unbeteiligt sind, geben sie gern zu, daß die Kurpfuscherei viel Un¬ heil anrichte. Aber scheint eine Zeitungsanzeige oder ein Bericht über an¬ geblich glänzende Kurpfuschererfolge auf ihren seit langer Zeit ohne rechte Besse¬ rung sich hinschleppenden Fall zu passen, so fallen sie doch dem Charlatan, dem Naturheilkünstler anheim oder lassen sich die Rose von einer alten Frau be¬ sprechen. Kranken, die nach Genesung schmachten und jeden Schimmer von Hoff¬ nung begrüßen, ist ja vieles nachzusehen. Aber ihre Angehörigen sollten sie von solchen falschen Wegen zurückhalten, und einflußreiche Personen sollten nicht, wie es leider auf dem Lande vorzüglich von Geistlichen und Lehrern und von einzelnen Mitgliedern selbst der höchsten Gesellschaft zuweilen fast gewerbs¬ mäßig betrieben wird, einer solchen Verwirrung der Begriffe Vorschub leisten. Und doch wird in diesem angesehenen Hause ein altes Familienrezept gegen Magenkrebs, von jener vornehmen Dame ein aus verkohlten Elstern bereitetes Mittel gegen Epilepsie gern verabreicht. Was denkt man sich wohl dabei, wenn man sogar das Interesse des Arztes für solche Mittelchen in Anspruch zu nehmen sucht? Leider wird diese Verwirrung auch von entgegengesetzter Seite durch eine Erscheinung vermehrt, von der man eher eine Aufklärung erwartete. Ich meine die zunehmende Neigung zur Popularisirung der Heilkunde durch eine Literatur welche dem laienhaften Drange, in bisher verschlossene Gebiete des Wissens und Könnens einzudringen, entgegenkommt. Da werden die Mütter belehrt, wie Masern oder Scharlach sich äußern, wie man eine im Anzüge begriffene Diph- theritis erkennt und welche Arzneien bis zur Ankunft des Arztes angewendet werden müssen, damit doch ja im Anfange der Krankheit nichts versäumt werde. Ein Mediziner studirt neun oder zehn Semester, und nachdem er alle Prüfungen glücklich bestanden hat, steht er doch noch oft genug befangen vor einfachen Fällen seiner jungen Praxis, weil ihm die Übung fehlt. Und eine um ihr eignes Kind besorgte Mutter glaubt man durch das Lesen eines Buches soweit medizinisch bilden zu können, daß sie durch das Labyrinth aller der wechselnden und vieldeutigen Krankheitsanzeichen sich zu der Klarheit der Auffassung durch¬ zuarbeiten vermag, um nützlich zu handeln? Nein, entweder Sorglosigkeit oder maßlos übertriebene Angst ist die Frucht dieser Lektüre. Ob ihr Kind über¬ haupt krank ist, wird'jede Mutter auch ohne besondre Belehrung erkennen, sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/34>, abgerufen am 15.05.2024.