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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Arzt und der Kranke.

stecke das Kind ins Bett und setze es auf knappe Kost, daran lasse sie sich bis
zum Erscheinen des Arztes genügen. Sie mag sich inzwischen mit der Er¬
fahrung beruhigen, daß jedes Ding Weile haben will. Eine Krankheit kann
sich schnell entwickeln, aber einige Stunden haben denn doch, wenn es sich nicht
gerade um Cholera handelt, keine solche Bedeutung, daß inzwischen ein medi¬
zinisches Einschreiten gebieterisch gefordert würde. Man bedenke nur, daß bei
den ansteckenden Krankheiten zum Beispiel, wenn wir die ersten Störungen des
Wohlbefindens bemerken, der böse Feind oft schon seit Stunden oder gar Tagen
mitten im Lager ist, und daß davon keine Rede sein kann, ihn etwa noch recht¬
zeitig zu verscheuchen. Auch darf man die Zeitdauer nicht unterschätzen, die ein
selbst recht frühzeitig verabreichtes Arzneimittel im günstigsten Falle bedarf,
um überhaupt eine Wirkung zu äußern. Selbst der infolge eines plötzlichen
Schüttelfrostes, wie er manche schwereren Krankheiten einleitet, in Eile herbei¬
gerufene Arzt wird oft auch nur in der Lage sein, das Kind für krank, viel¬
leicht für sehr krank zu erklären, ohne zu wissen, welche Krankheit in der Ent¬
wicklung begriffen ist. Man kann sich denken, daß die unter solchen Umständen
zur Anwendung gebrachten Mittel nicht gerade zu den heroischen gehören werden,
und auch gegen das kaum erst entstandene Fieber einzuschreiten, wird der Arzt
meistens weder imstande noch geneigt sein, und wenn er offen sein darf, sich
auch nicht den Anschein geben, als wäre es anders.

Über den Bau und die Verrichtungen des gesunden menschlichen Körpers
möge sich jeder Gebildete einigermaßen unterrichten und die Lehren der Ge¬
sundheitspflege sich nach Kräften zu eigen machen. Das wird viel Segen
bringen und kaum Schaden anrichten können. Aber die sogenannte Sympto¬
matologie, die Lehre von den Anzeichen der Krankheiten, und die Behandlung
der Krankheiten überlasse man denen, die es verstehen.

Wer es nicht erfahren hat, macht sich keine Vorstellung von der Ver¬
wirrung, welche die bestgemeinten allgemeinen Erfahrungen der Art anzurichten
imstande sind. Der zu einer sachlichen Kritik nicht befähigte Leser bekommt es
fertig, in seinem gedruckten Ratgebers ein Blatt zu überschlagen, ohne es nur
zu bemerken. Ich habe es erlebt, daß ein halbwegs gebildeter Mensch sein
kränkelndes kleines Kind, dem nach seinem Lehrbuche warme Bäder gut thun
mußten, in Wasser von 18 Grad R. badete, weil diese Temperatur an einer
Stelle, wo von Flußbädern die Rede war, als warm bezeichnet war.

Die modernste Blüte der populären Medizin (den deutschen Ausdruck "all¬
gemein verständlich" vermeidet man, weil der innere Widerspruch darin gleich
zu Tage träte) ist die Samariterschule. Ans dem schönen Gedanken, daß jeder
gute Mensch den Drang empfindet, einem verunglückten Mitmenschen beizu¬
springen, und aus der Überzeugung, daß auch Laien in richtiger Hilfsleistung
mit Erfolg unterwiesen werden können, ist der Esmarchsche Samariterdienst
bei uns hervorgegangen. segensreich wird dieser aber nur wirken, wenn er


Der Arzt und der Kranke.

stecke das Kind ins Bett und setze es auf knappe Kost, daran lasse sie sich bis
zum Erscheinen des Arztes genügen. Sie mag sich inzwischen mit der Er¬
fahrung beruhigen, daß jedes Ding Weile haben will. Eine Krankheit kann
sich schnell entwickeln, aber einige Stunden haben denn doch, wenn es sich nicht
gerade um Cholera handelt, keine solche Bedeutung, daß inzwischen ein medi¬
zinisches Einschreiten gebieterisch gefordert würde. Man bedenke nur, daß bei
den ansteckenden Krankheiten zum Beispiel, wenn wir die ersten Störungen des
Wohlbefindens bemerken, der böse Feind oft schon seit Stunden oder gar Tagen
mitten im Lager ist, und daß davon keine Rede sein kann, ihn etwa noch recht¬
zeitig zu verscheuchen. Auch darf man die Zeitdauer nicht unterschätzen, die ein
selbst recht frühzeitig verabreichtes Arzneimittel im günstigsten Falle bedarf,
um überhaupt eine Wirkung zu äußern. Selbst der infolge eines plötzlichen
Schüttelfrostes, wie er manche schwereren Krankheiten einleitet, in Eile herbei¬
gerufene Arzt wird oft auch nur in der Lage sein, das Kind für krank, viel¬
leicht für sehr krank zu erklären, ohne zu wissen, welche Krankheit in der Ent¬
wicklung begriffen ist. Man kann sich denken, daß die unter solchen Umständen
zur Anwendung gebrachten Mittel nicht gerade zu den heroischen gehören werden,
und auch gegen das kaum erst entstandene Fieber einzuschreiten, wird der Arzt
meistens weder imstande noch geneigt sein, und wenn er offen sein darf, sich
auch nicht den Anschein geben, als wäre es anders.

Über den Bau und die Verrichtungen des gesunden menschlichen Körpers
möge sich jeder Gebildete einigermaßen unterrichten und die Lehren der Ge¬
sundheitspflege sich nach Kräften zu eigen machen. Das wird viel Segen
bringen und kaum Schaden anrichten können. Aber die sogenannte Sympto¬
matologie, die Lehre von den Anzeichen der Krankheiten, und die Behandlung
der Krankheiten überlasse man denen, die es verstehen.

Wer es nicht erfahren hat, macht sich keine Vorstellung von der Ver¬
wirrung, welche die bestgemeinten allgemeinen Erfahrungen der Art anzurichten
imstande sind. Der zu einer sachlichen Kritik nicht befähigte Leser bekommt es
fertig, in seinem gedruckten Ratgebers ein Blatt zu überschlagen, ohne es nur
zu bemerken. Ich habe es erlebt, daß ein halbwegs gebildeter Mensch sein
kränkelndes kleines Kind, dem nach seinem Lehrbuche warme Bäder gut thun
mußten, in Wasser von 18 Grad R. badete, weil diese Temperatur an einer
Stelle, wo von Flußbädern die Rede war, als warm bezeichnet war.

Die modernste Blüte der populären Medizin (den deutschen Ausdruck „all¬
gemein verständlich" vermeidet man, weil der innere Widerspruch darin gleich
zu Tage träte) ist die Samariterschule. Ans dem schönen Gedanken, daß jeder
gute Mensch den Drang empfindet, einem verunglückten Mitmenschen beizu¬
springen, und aus der Überzeugung, daß auch Laien in richtiger Hilfsleistung
mit Erfolg unterwiesen werden können, ist der Esmarchsche Samariterdienst
bei uns hervorgegangen. segensreich wird dieser aber nur wirken, wenn er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/35>, abgerufen am 22.05.2024.