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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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sinnigen in einigen Hauptpunkten aufweisen; und da diese Bestrebungen sich
noch freier und naturwüchsiger in der sessionslvsen Zeit kundzugeben Pflegen,
als da, wo getagt wird und wo also der Hinblick auf sofortige Widerlegung
den Eifer zähmt, so wollen wir die Bestrebungen des Fortschritts, wie sie sich
kurze Zeit vor dem Zusammentreten des Reichstages zur laufenden Session
zeigten, etwas näher betrachten. Der Leser wird sich dann selber sagen können,
ob eine Partei, die, wie die nationalliberale, die Einheit und Ehre des Vater¬
landes über alles stellt und die das Glück des Volkes in einer geordneten, in
den Gesetzen und Sitten des Vaterlandes begründeten maßvollen und edeln
Freiheit sieht, mit dem Geiste des Freisinns noch irgend einen Zusammenhang
haben kaun.

Vor dem Zusammentreten des Reichstages zur jetzigen Session, in der
sessionslosen Zeit, gehörte zur Charakterentwicklung des Freisinns ein immer
näheres Heranrücken an die Sozialdemokratie, was zuletzt derart war, daß ein
Unterschied zwischen beiden Parteien in gewissen Punkten kaum noch erkennbar
war. In Beziehung auf die fortschrittliche Anschauung über Landeigentum z. B.
fehlt gar nichts mehr an der Erklärung: Landeigentum ist außer Wert zu setzen.
So brachte die Volkszeitung in Ur. 254 des vorigen Jahrganges einen Artikel:
Die Landwirtschaft "mit Verlust." Wenn konservative Blätter, um auf den
schlimmen Stand der Landwirtschaft hinzuweisen, Thatsachen anführten, wie die,
daß bei Domänenverpachtuugeu in Mecklenburg-Schwerin für Güter, die vordem
11600 und 6600 Mark Pacht gegeben hatten, jetzt nur 6700 und 3700 Mark
erzielt worden waren, so sieht die Volkszeitung hierin einen Beweis, daß nicht
mit Verlust, sondern im Gegenteil "mit Gewinn" gearbeitet werde. Und um
dies zu erweisen, fährt sie fort: "Wenn ein Gut nicht nur seinen Pächter mit
einer in recht vielen Fällen zahlreichen Familie ernährt, sondern noch darüber
hinaus Erträge abwirft, die der Eigentümer einstreicht, ohne daß er mehr zu
thun hat, als Quittungen zu unterschreiben, so ist es geradezu eine beispiellose
Unver--störenden, der Landwirtschaft nachzusagen, sie arbeite mit Verlust." Also
die Landeigentümer, die ihr Gut verpachtet haben, sind "bloße Quittungs¬
schreiber," deren Gerede von einem Arbeiten der Landwirtschaft mit Verlust
"barer Unsinn" ist. So lange die Landwirtschaft nicht nnr denjenigen ernährt,
der sie betreibt, sondern auch noch Erträge abwirft für einen, der sie nicht be¬
leibt, so lange -- meint die Volkszeitung -- arbeitet die Landwirtschaft nicht
mit Verlust. "Erst wenn die Eigentümer von ländlichem Grundbesitz außer
stände sein werden, Pächter zu finden, welche Pacht zahlen, ja streng genommen
erst dann, wenn auch ohne die Bedingung einer Pachtzahlung sich keine Pächter
mehr finden lassen, weil jedermann fürchtet, das Gut, bez. die auf ihm be¬
triebene Landwirtschaft werde ihn nicht ernähren, erst dann wird es erlaubt
sein, von einem Betriebe der Landwirtschaft "mit Verlust" zu sprechen."

Solche Ansichten bedürfen keines Kommentars. Fehlt doch nicht viel zu


sinnigen in einigen Hauptpunkten aufweisen; und da diese Bestrebungen sich
noch freier und naturwüchsiger in der sessionslvsen Zeit kundzugeben Pflegen,
als da, wo getagt wird und wo also der Hinblick auf sofortige Widerlegung
den Eifer zähmt, so wollen wir die Bestrebungen des Fortschritts, wie sie sich
kurze Zeit vor dem Zusammentreten des Reichstages zur laufenden Session
zeigten, etwas näher betrachten. Der Leser wird sich dann selber sagen können,
ob eine Partei, die, wie die nationalliberale, die Einheit und Ehre des Vater¬
landes über alles stellt und die das Glück des Volkes in einer geordneten, in
den Gesetzen und Sitten des Vaterlandes begründeten maßvollen und edeln
Freiheit sieht, mit dem Geiste des Freisinns noch irgend einen Zusammenhang
haben kaun.

Vor dem Zusammentreten des Reichstages zur jetzigen Session, in der
sessionslosen Zeit, gehörte zur Charakterentwicklung des Freisinns ein immer
näheres Heranrücken an die Sozialdemokratie, was zuletzt derart war, daß ein
Unterschied zwischen beiden Parteien in gewissen Punkten kaum noch erkennbar
war. In Beziehung auf die fortschrittliche Anschauung über Landeigentum z. B.
fehlt gar nichts mehr an der Erklärung: Landeigentum ist außer Wert zu setzen.
So brachte die Volkszeitung in Ur. 254 des vorigen Jahrganges einen Artikel:
Die Landwirtschaft „mit Verlust." Wenn konservative Blätter, um auf den
schlimmen Stand der Landwirtschaft hinzuweisen, Thatsachen anführten, wie die,
daß bei Domänenverpachtuugeu in Mecklenburg-Schwerin für Güter, die vordem
11600 und 6600 Mark Pacht gegeben hatten, jetzt nur 6700 und 3700 Mark
erzielt worden waren, so sieht die Volkszeitung hierin einen Beweis, daß nicht
mit Verlust, sondern im Gegenteil „mit Gewinn" gearbeitet werde. Und um
dies zu erweisen, fährt sie fort: „Wenn ein Gut nicht nur seinen Pächter mit
einer in recht vielen Fällen zahlreichen Familie ernährt, sondern noch darüber
hinaus Erträge abwirft, die der Eigentümer einstreicht, ohne daß er mehr zu
thun hat, als Quittungen zu unterschreiben, so ist es geradezu eine beispiellose
Unver—störenden, der Landwirtschaft nachzusagen, sie arbeite mit Verlust." Also
die Landeigentümer, die ihr Gut verpachtet haben, sind „bloße Quittungs¬
schreiber," deren Gerede von einem Arbeiten der Landwirtschaft mit Verlust
„barer Unsinn" ist. So lange die Landwirtschaft nicht nnr denjenigen ernährt,
der sie betreibt, sondern auch noch Erträge abwirft für einen, der sie nicht be¬
leibt, so lange — meint die Volkszeitung — arbeitet die Landwirtschaft nicht
mit Verlust. „Erst wenn die Eigentümer von ländlichem Grundbesitz außer
stände sein werden, Pächter zu finden, welche Pacht zahlen, ja streng genommen
erst dann, wenn auch ohne die Bedingung einer Pachtzahlung sich keine Pächter
mehr finden lassen, weil jedermann fürchtet, das Gut, bez. die auf ihm be¬
triebene Landwirtschaft werde ihn nicht ernähren, erst dann wird es erlaubt
sein, von einem Betriebe der Landwirtschaft »mit Verlust« zu sprechen."

Solche Ansichten bedürfen keines Kommentars. Fehlt doch nicht viel zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/487>, abgerufen am 15.05.2024.