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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Nationalliberalen und die Deutschfreisinnigen,

dem Nusspruche Proudhons: Eigentum ist Diebstahl. Und da verlästern die
Herren noch Vismarck, wenn er ihre Partei als eine Vorfrucht für die Sozial¬
demokratie bezeichnet!

Mit der beschleunigten Vorwärtsbewegung, welche der Fortschritt nach
seinem Gravitationspunkte hin genommen hat, hängt es zusammen, wenn den¬
jenigen Liberalen, welche die Eile der Waschechten nicht immer teilen, gelegentlich
der Text gelesen wird. Das that z. B. die Volkszeitung, die, als die Staats-
kunst Bismarcks die italienische Freundschaft dauernd für das europäische
Friedensbündnis gewonnen hatte, es für notwendig hielt, in einem umfang¬
reichen Leitartikel sich "gegen die unverständliche Überschwänglichkeit Sinnacher
Liberalen^ zu wenden, mit welcher der Name des Fürsten Bismarck deshalb
Dvegen der segensreichen Wirkungen des Friedensbundes^ verherrlicht wird."
Die begeisterte Bewunderung, die Crispi in seiner Turiner Rede für den Fürsten
Bismarck an den Tag gelegt hatte, passe vortrefflich in den Rahmen der aus¬
wärtigen Politik Crispis, und darum habe er die Farben recht stark aufgetragen;
sie dagegen, die Liberalen, müßten, wenn sie nicht die Fahne des Liberalismus
nur zum Scheine hoch hielten, eine Reform der deutschen Gesetze nach italienischen
Mustern wünschen, aber sie ahnten nicht, "wie sehr sie diese durch ihre über-
schwänglichen Bismarckhymnen erschwerten." Das ist deutschsrcisinniger Patrio¬
tismus, ein Paroxysmus der Verachtung alles Großen im Vaterlande und
Herabsetzung desselben vor dem Auslande wie im Inlands. Wenn doch diese
jammervolle Nörgelei an dem Verhalten der Italiener in der Massaua-Sache
lernen wollte, was Liebe zum Vaterlande ist! Der Hinblick darauf könnte
vielleicht besser auf ihre ganze sittliche Begriffsverwirrung wirken, als der auf
die italienischen Gesetzmuster.

Welche Verwirrung der sittlichen Begriffe unter unsern fortschrittlichen
Humcmitätsduslern herrscht, zeigte der Fall mit den Anarchisten in Chicago.
Die vier "erklärten Gegner des Anarchismus," wie sich die Herren Bebel,
Liebknecht, Singer und Grillenberger selbst nennen, hatten an den Gouverneur
von Illinois ein Telegramm gerichtet, worin sie baten, "im Namen der Mensch¬
lichkeit das Leben der sieben Verurteilten zu schonen." Daß die vier Herren
die Menschlichkeit zum Schutze vou Unmenschen anrufen, die wegen eines feigen
Verbrechens unschädlich gemacht werden sollten, darüber darf man sich nicht
wundern. Aber daß auch fortschrittliche Blätter sich dazu verstiegen, die
reißenden Raubtiere, in deren Herzen leine Spur von menschlichem Erbarmen
wohnte, geschont zu sehen, ist doch ein starker Beitrag zur sittlichen Beurteilung
dieser Partei. Die Volkszeitung fand in einem Artikel über die Bitte der
Herren Bebel :c., daß die gefällten Todesurteile nach der rechtlichen Seite hin
sich "mit erheblichen Bedenken anfechten lassen." Die Beweisführung gegen die
einzelnen Angeklagten "stehe auf recht schwache" Füßen, soweit es auf ihre
konkrete Beteiligung an den bestimmten, mit Todesstrafen bedrohten Handlungen


Die Nationalliberalen und die Deutschfreisinnigen,

dem Nusspruche Proudhons: Eigentum ist Diebstahl. Und da verlästern die
Herren noch Vismarck, wenn er ihre Partei als eine Vorfrucht für die Sozial¬
demokratie bezeichnet!

Mit der beschleunigten Vorwärtsbewegung, welche der Fortschritt nach
seinem Gravitationspunkte hin genommen hat, hängt es zusammen, wenn den¬
jenigen Liberalen, welche die Eile der Waschechten nicht immer teilen, gelegentlich
der Text gelesen wird. Das that z. B. die Volkszeitung, die, als die Staats-
kunst Bismarcks die italienische Freundschaft dauernd für das europäische
Friedensbündnis gewonnen hatte, es für notwendig hielt, in einem umfang¬
reichen Leitartikel sich „gegen die unverständliche Überschwänglichkeit Sinnacher
Liberalen^ zu wenden, mit welcher der Name des Fürsten Bismarck deshalb
Dvegen der segensreichen Wirkungen des Friedensbundes^ verherrlicht wird."
Die begeisterte Bewunderung, die Crispi in seiner Turiner Rede für den Fürsten
Bismarck an den Tag gelegt hatte, passe vortrefflich in den Rahmen der aus¬
wärtigen Politik Crispis, und darum habe er die Farben recht stark aufgetragen;
sie dagegen, die Liberalen, müßten, wenn sie nicht die Fahne des Liberalismus
nur zum Scheine hoch hielten, eine Reform der deutschen Gesetze nach italienischen
Mustern wünschen, aber sie ahnten nicht, „wie sehr sie diese durch ihre über-
schwänglichen Bismarckhymnen erschwerten." Das ist deutschsrcisinniger Patrio¬
tismus, ein Paroxysmus der Verachtung alles Großen im Vaterlande und
Herabsetzung desselben vor dem Auslande wie im Inlands. Wenn doch diese
jammervolle Nörgelei an dem Verhalten der Italiener in der Massaua-Sache
lernen wollte, was Liebe zum Vaterlande ist! Der Hinblick darauf könnte
vielleicht besser auf ihre ganze sittliche Begriffsverwirrung wirken, als der auf
die italienischen Gesetzmuster.

Welche Verwirrung der sittlichen Begriffe unter unsern fortschrittlichen
Humcmitätsduslern herrscht, zeigte der Fall mit den Anarchisten in Chicago.
Die vier „erklärten Gegner des Anarchismus," wie sich die Herren Bebel,
Liebknecht, Singer und Grillenberger selbst nennen, hatten an den Gouverneur
von Illinois ein Telegramm gerichtet, worin sie baten, „im Namen der Mensch¬
lichkeit das Leben der sieben Verurteilten zu schonen." Daß die vier Herren
die Menschlichkeit zum Schutze vou Unmenschen anrufen, die wegen eines feigen
Verbrechens unschädlich gemacht werden sollten, darüber darf man sich nicht
wundern. Aber daß auch fortschrittliche Blätter sich dazu verstiegen, die
reißenden Raubtiere, in deren Herzen leine Spur von menschlichem Erbarmen
wohnte, geschont zu sehen, ist doch ein starker Beitrag zur sittlichen Beurteilung
dieser Partei. Die Volkszeitung fand in einem Artikel über die Bitte der
Herren Bebel :c., daß die gefällten Todesurteile nach der rechtlichen Seite hin
sich „mit erheblichen Bedenken anfechten lassen." Die Beweisführung gegen die
einzelnen Angeklagten „stehe auf recht schwache» Füßen, soweit es auf ihre
konkrete Beteiligung an den bestimmten, mit Todesstrafen bedrohten Handlungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/488>, abgerufen am 29.05.2024.