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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Nationcilliberaleii und die Deuischfreisinnigen.

die große Masse des deutschen Volkes leider an dem infamen Denunziantentum
beteiligt ist, welches die deutsche Gegenwart in so uintthmlicher Weise vor fast
allen andern geschichtlichen Epochen kennzeichnet." Natürlich: Es giebt gar kein
infameres Denunziantentum in der ganzen Geschichte als das des deutschen
Volkes, seit jener Zeit, wo es durch die Wahlen erklärte, daß es von dem
edeln Fortschritt nichts mehr wissen will.

Diese Erklärung wird aber noch verschärft werden, wenn erst einmal das
arbeitende Volk die Stellung durchschaut, welche die Freisinnigen zur Sozial¬
reform einnehmen. Hier wird die Hohlheit der Partei nicht nur, sondern auch
der Hohn, mit dem sie die ernstesten Fragen behandeln, schließlich auch für die
zu Tage treten, deren Auge bis jetzt durch Phrasennebel verdunkelt worden ist.
Weß Geistes-Kind ist doch anch hier der Freisinn! Nachdem die Grundzüge
zur Alters- und Jnvalidenversorgung erschienen waren, sah diese selbe Volks¬
zeitung, die so laut das Wort für die Partei führt, in ihnen ein Objekt, aus
das, wie auf kein andres, die Worte paßten: I^rwriunt, uroutss, usseetur
näioulus mus. Da sollte in aktenmäßiger Nüchternheit vorliege", daß die Alters¬
und Invalidenrente zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel wäre.
Etwas hatte sich das Urteil der Partei doch geändert; denn die Freisinnige
Zeitung hatte früher entdeckt, daß die Rente auch zum Sterben "nicht zu viel"
wäre. Was doch die Herren vom Fortschritt auf ihrem hohen Pferde alles
wissen! Daß 120 bezw. 250 Mark eine Summe sind, die zumal in kleinern
Flecken und auf dem Laude bedeutend im Haushalt mitzählt, daß unendlich
viele Haushalte den alten oder invaliden Mann gern dafür aufnehmen; daß
dieser zumal auf dem Lande dabei noch mancherlei Beschäftigung und Verdienst
finden wird und die ganze Einrichtung dazu dienen kann, manchen zu einer Rück¬
wanderung aus den großen Städten aufs Land zu bestimmen, wo ihm Wieder¬
gesundung an Leib und Seele möglich ist; daß die Maßregel aus solchen
und andern Gründen überhaupt mächtig zur Lösung der sozialen Frage bei¬
tragen kann, das soll nun einmal nicht gelten. In dieser Alters- und Invaliden-
Versorgung sieht der Fortschritt vielmehr nur ein lumpiges Geschenk, um "des¬
willen sich die deutschen Arbeiter einverstanden erklären sollen mit dem Verlust
der Preß- und Vereins-, mit der polizeilichen Einschränkung der Koalitions¬
freiheit." Mit all diesen schönen Freiheiten, die übrigens kein Mensch dem
Arbeiter, der zugleich deutscher Staatsbürger sein will, je zu nehmen beabsichtigt,
mit ihnen soll sich dieser die Taube vom Dache holen und den Sperling in
der Hand lassen. Denn die Taube sitzt auf dem Dache, "nicht, weil sie an sich
unerreichbar ist, sondern weil die Hände der deutschen Arbeiter dnrch lästige
Fesseln gehindert werden." Natürlich, die Gewerkvereine werden nicht in ihrer
Glorie gewürdigt. Aber trotz aller hämischen Witzeleien Richters und seiner
freisinnigen Genossen über die "Pfennigrentner" wird sich doch der großartige
Zug des ganzen Unternehmens auch im Volke immer mehr geltend machen, und


Die Nationcilliberaleii und die Deuischfreisinnigen.

die große Masse des deutschen Volkes leider an dem infamen Denunziantentum
beteiligt ist, welches die deutsche Gegenwart in so uintthmlicher Weise vor fast
allen andern geschichtlichen Epochen kennzeichnet." Natürlich: Es giebt gar kein
infameres Denunziantentum in der ganzen Geschichte als das des deutschen
Volkes, seit jener Zeit, wo es durch die Wahlen erklärte, daß es von dem
edeln Fortschritt nichts mehr wissen will.

Diese Erklärung wird aber noch verschärft werden, wenn erst einmal das
arbeitende Volk die Stellung durchschaut, welche die Freisinnigen zur Sozial¬
reform einnehmen. Hier wird die Hohlheit der Partei nicht nur, sondern auch
der Hohn, mit dem sie die ernstesten Fragen behandeln, schließlich auch für die
zu Tage treten, deren Auge bis jetzt durch Phrasennebel verdunkelt worden ist.
Weß Geistes-Kind ist doch anch hier der Freisinn! Nachdem die Grundzüge
zur Alters- und Jnvalidenversorgung erschienen waren, sah diese selbe Volks¬
zeitung, die so laut das Wort für die Partei führt, in ihnen ein Objekt, aus
das, wie auf kein andres, die Worte paßten: I^rwriunt, uroutss, usseetur
näioulus mus. Da sollte in aktenmäßiger Nüchternheit vorliege», daß die Alters¬
und Invalidenrente zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel wäre.
Etwas hatte sich das Urteil der Partei doch geändert; denn die Freisinnige
Zeitung hatte früher entdeckt, daß die Rente auch zum Sterben „nicht zu viel"
wäre. Was doch die Herren vom Fortschritt auf ihrem hohen Pferde alles
wissen! Daß 120 bezw. 250 Mark eine Summe sind, die zumal in kleinern
Flecken und auf dem Laude bedeutend im Haushalt mitzählt, daß unendlich
viele Haushalte den alten oder invaliden Mann gern dafür aufnehmen; daß
dieser zumal auf dem Lande dabei noch mancherlei Beschäftigung und Verdienst
finden wird und die ganze Einrichtung dazu dienen kann, manchen zu einer Rück¬
wanderung aus den großen Städten aufs Land zu bestimmen, wo ihm Wieder¬
gesundung an Leib und Seele möglich ist; daß die Maßregel aus solchen
und andern Gründen überhaupt mächtig zur Lösung der sozialen Frage bei¬
tragen kann, das soll nun einmal nicht gelten. In dieser Alters- und Invaliden-
Versorgung sieht der Fortschritt vielmehr nur ein lumpiges Geschenk, um „des¬
willen sich die deutschen Arbeiter einverstanden erklären sollen mit dem Verlust
der Preß- und Vereins-, mit der polizeilichen Einschränkung der Koalitions¬
freiheit." Mit all diesen schönen Freiheiten, die übrigens kein Mensch dem
Arbeiter, der zugleich deutscher Staatsbürger sein will, je zu nehmen beabsichtigt,
mit ihnen soll sich dieser die Taube vom Dache holen und den Sperling in
der Hand lassen. Denn die Taube sitzt auf dem Dache, „nicht, weil sie an sich
unerreichbar ist, sondern weil die Hände der deutschen Arbeiter dnrch lästige
Fesseln gehindert werden." Natürlich, die Gewerkvereine werden nicht in ihrer
Glorie gewürdigt. Aber trotz aller hämischen Witzeleien Richters und seiner
freisinnigen Genossen über die „Pfennigrentner" wird sich doch der großartige
Zug des ganzen Unternehmens auch im Volke immer mehr geltend machen, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/491>, abgerufen am 15.06.2024.