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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Lebenserinnerungen des Grafen von Schack.

rungen die ästhetischen, namentlich die litterarischen Urteile des Verfassers in
Anspruch, Sie haben sicher ein Recht, vernommen und beachtet zu werden,
denn Schack besitzt außer einer umfassenden und in laugen Jahren erworbenen
Belesenheit in allen Sprachen und Litteraturen die einheitliche Anschauung und
tiefere Einsicht, welche einem schaffenden Künstler, der über seine Kunst denkt,
immer zu eigen ist. Gegenüber den Werken der Poesie ist er offenbar nie müde,
nie blasirt geworden, er erinnert sich noch heute mit ganzer Frische der Schau¬
spiele, die er in seiner Jugend gesehen, der Bücher, die er vor einem Menschen¬
alter gelesen hat. Aber innerhalb der Litteratur zieht er eine scharfe Grenz¬
linie und bekennt eine Anschauung, die ihn zu der heute herrschenden, zu den
Neigungen des Publikums, zu den Urteilen und Vorurteilen der beinahe aus¬
schließlich maßgebenden Tageskritik in entscknednen Gegensatz bringt. Es wäre
Unrecht, zu sagen, daß Graf Schack nur der Poesie im engsten Sinne seine
Sympathie widme und sie der Prosa versage. Mit einer einzigen Stelle, wie
seiner Auslassung über Hurtado Mendozas große Geschichte des granadischen
Krieges, könnte solche Behauptung widerlegt werden. Nein, die Prosa des Ge¬
schichtschreibers, des Philosophen, des Kritikers ist ihm willkommen und eine
Quelle geistigen Genusses. Aber mit entschiednen Mißtrauen steht er jener
Prosa gegenüber, welche in den Litteraturen der Gegenwart einen so breiten
Raum einnimmt, der Prosa des Romans und der Novelle. Der Verfasser ver¬
hehlt nirgends seine geringe Schätzung dieser Formen. Bei Gelegenheit der Be¬
sprechung von Immermann äußert er geradezu: "Man muß ungemein beklagen,
daß die Gleichgiltigkeit des Publikums Immermann bestimmt hat, sich unter
Aufgeben seiner Thätigkeit für das Drama dem Romane zu widmen. Hier
feierte er Triumphe, wie sie auf diesem Gebiete so leicht zu erringen sind. Seine
"Epigonen" und "Münchhausen" mögen auch ganz schätzbar sein; indes waren
seinem Talente höhere Ziele erreichbar, als die er sich darin gesteckt hatte." Wir
lassen dies dahingestellt, wir wissen nur, daß sich Immermanns eigentümlichste
Natur, die selbständige Poesie seines Wesens erst in diesen Prosaschöpfungen
ausgesprochen, wenn auch nicht ausgelebt hat. Die gebundne Form widersprach
der Anlage Immermanns, verhinderte ihn geradezu, sein Bestes zu geben. Schack
meint selbst, die Strophe in Immermanns "Tristan und Isolde" und die Meeren
im "Merlin" hätten einen Sprachkünstler ersten Ranges erfordert. "Unter der
Behandlung Immermanns sind diese Versgebilde förmlich unerträglich geworden;
die Reime werden bei den Haaren herbeigezogen, die Füße hinken und stolpern,
und wenn die beiden Werke in dem denkbar einfachsten Maße geschrieben wären,
würde ihr Inhalt weit mehr zur Geltung kommen." Wie leicht scheint der
Schritt von dieser Erkenntnis bis zu der, daß es poetische Stoffe und poetische
Absichten giebt, welche innerhalb der gebundnen Redeform nicht ganz erfaßt,
nicht völlig gelöst werden können. Aber gegen diese Erkenntnis sträubt sich,
>vie wir sehen, Graf Schack. Er wird schwerlich der Meinung sein, daß Cer-


Die Lebenserinnerungen des Grafen von Schack.

rungen die ästhetischen, namentlich die litterarischen Urteile des Verfassers in
Anspruch, Sie haben sicher ein Recht, vernommen und beachtet zu werden,
denn Schack besitzt außer einer umfassenden und in laugen Jahren erworbenen
Belesenheit in allen Sprachen und Litteraturen die einheitliche Anschauung und
tiefere Einsicht, welche einem schaffenden Künstler, der über seine Kunst denkt,
immer zu eigen ist. Gegenüber den Werken der Poesie ist er offenbar nie müde,
nie blasirt geworden, er erinnert sich noch heute mit ganzer Frische der Schau¬
spiele, die er in seiner Jugend gesehen, der Bücher, die er vor einem Menschen¬
alter gelesen hat. Aber innerhalb der Litteratur zieht er eine scharfe Grenz¬
linie und bekennt eine Anschauung, die ihn zu der heute herrschenden, zu den
Neigungen des Publikums, zu den Urteilen und Vorurteilen der beinahe aus¬
schließlich maßgebenden Tageskritik in entscknednen Gegensatz bringt. Es wäre
Unrecht, zu sagen, daß Graf Schack nur der Poesie im engsten Sinne seine
Sympathie widme und sie der Prosa versage. Mit einer einzigen Stelle, wie
seiner Auslassung über Hurtado Mendozas große Geschichte des granadischen
Krieges, könnte solche Behauptung widerlegt werden. Nein, die Prosa des Ge¬
schichtschreibers, des Philosophen, des Kritikers ist ihm willkommen und eine
Quelle geistigen Genusses. Aber mit entschiednen Mißtrauen steht er jener
Prosa gegenüber, welche in den Litteraturen der Gegenwart einen so breiten
Raum einnimmt, der Prosa des Romans und der Novelle. Der Verfasser ver¬
hehlt nirgends seine geringe Schätzung dieser Formen. Bei Gelegenheit der Be¬
sprechung von Immermann äußert er geradezu: „Man muß ungemein beklagen,
daß die Gleichgiltigkeit des Publikums Immermann bestimmt hat, sich unter
Aufgeben seiner Thätigkeit für das Drama dem Romane zu widmen. Hier
feierte er Triumphe, wie sie auf diesem Gebiete so leicht zu erringen sind. Seine
»Epigonen« und »Münchhausen« mögen auch ganz schätzbar sein; indes waren
seinem Talente höhere Ziele erreichbar, als die er sich darin gesteckt hatte." Wir
lassen dies dahingestellt, wir wissen nur, daß sich Immermanns eigentümlichste
Natur, die selbständige Poesie seines Wesens erst in diesen Prosaschöpfungen
ausgesprochen, wenn auch nicht ausgelebt hat. Die gebundne Form widersprach
der Anlage Immermanns, verhinderte ihn geradezu, sein Bestes zu geben. Schack
meint selbst, die Strophe in Immermanns „Tristan und Isolde" und die Meeren
im „Merlin" hätten einen Sprachkünstler ersten Ranges erfordert. „Unter der
Behandlung Immermanns sind diese Versgebilde förmlich unerträglich geworden;
die Reime werden bei den Haaren herbeigezogen, die Füße hinken und stolpern,
und wenn die beiden Werke in dem denkbar einfachsten Maße geschrieben wären,
würde ihr Inhalt weit mehr zur Geltung kommen." Wie leicht scheint der
Schritt von dieser Erkenntnis bis zu der, daß es poetische Stoffe und poetische
Absichten giebt, welche innerhalb der gebundnen Redeform nicht ganz erfaßt,
nicht völlig gelöst werden können. Aber gegen diese Erkenntnis sträubt sich,
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[0606] Die Lebenserinnerungen des Grafen von Schack. rungen die ästhetischen, namentlich die litterarischen Urteile des Verfassers in Anspruch, Sie haben sicher ein Recht, vernommen und beachtet zu werden, denn Schack besitzt außer einer umfassenden und in laugen Jahren erworbenen Belesenheit in allen Sprachen und Litteraturen die einheitliche Anschauung und tiefere Einsicht, welche einem schaffenden Künstler, der über seine Kunst denkt, immer zu eigen ist. Gegenüber den Werken der Poesie ist er offenbar nie müde, nie blasirt geworden, er erinnert sich noch heute mit ganzer Frische der Schau¬ spiele, die er in seiner Jugend gesehen, der Bücher, die er vor einem Menschen¬ alter gelesen hat. Aber innerhalb der Litteratur zieht er eine scharfe Grenz¬ linie und bekennt eine Anschauung, die ihn zu der heute herrschenden, zu den Neigungen des Publikums, zu den Urteilen und Vorurteilen der beinahe aus¬ schließlich maßgebenden Tageskritik in entscknednen Gegensatz bringt. Es wäre Unrecht, zu sagen, daß Graf Schack nur der Poesie im engsten Sinne seine Sympathie widme und sie der Prosa versage. Mit einer einzigen Stelle, wie seiner Auslassung über Hurtado Mendozas große Geschichte des granadischen Krieges, könnte solche Behauptung widerlegt werden. Nein, die Prosa des Ge¬ schichtschreibers, des Philosophen, des Kritikers ist ihm willkommen und eine Quelle geistigen Genusses. Aber mit entschiednen Mißtrauen steht er jener Prosa gegenüber, welche in den Litteraturen der Gegenwart einen so breiten Raum einnimmt, der Prosa des Romans und der Novelle. Der Verfasser ver¬ hehlt nirgends seine geringe Schätzung dieser Formen. Bei Gelegenheit der Be¬ sprechung von Immermann äußert er geradezu: „Man muß ungemein beklagen, daß die Gleichgiltigkeit des Publikums Immermann bestimmt hat, sich unter Aufgeben seiner Thätigkeit für das Drama dem Romane zu widmen. Hier feierte er Triumphe, wie sie auf diesem Gebiete so leicht zu erringen sind. Seine »Epigonen« und »Münchhausen« mögen auch ganz schätzbar sein; indes waren seinem Talente höhere Ziele erreichbar, als die er sich darin gesteckt hatte." Wir lassen dies dahingestellt, wir wissen nur, daß sich Immermanns eigentümlichste Natur, die selbständige Poesie seines Wesens erst in diesen Prosaschöpfungen ausgesprochen, wenn auch nicht ausgelebt hat. Die gebundne Form widersprach der Anlage Immermanns, verhinderte ihn geradezu, sein Bestes zu geben. Schack meint selbst, die Strophe in Immermanns „Tristan und Isolde" und die Meeren im „Merlin" hätten einen Sprachkünstler ersten Ranges erfordert. „Unter der Behandlung Immermanns sind diese Versgebilde förmlich unerträglich geworden; die Reime werden bei den Haaren herbeigezogen, die Füße hinken und stolpern, und wenn die beiden Werke in dem denkbar einfachsten Maße geschrieben wären, würde ihr Inhalt weit mehr zur Geltung kommen." Wie leicht scheint der Schritt von dieser Erkenntnis bis zu der, daß es poetische Stoffe und poetische Absichten giebt, welche innerhalb der gebundnen Redeform nicht ganz erfaßt, nicht völlig gelöst werden können. Aber gegen diese Erkenntnis sträubt sich, >vie wir sehen, Graf Schack. Er wird schwerlich der Meinung sein, daß Cer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/606>, abgerufen am 15.06.2024.