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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

Trotz und französischen xrwoixss ^alitairös, dazu ein Nichtverstehen, auch wohl
Geringschätzen unsrer verwickelten bundesstaatlichen Einrichtung, gegenüber dem
einheitlichen, straff regierten Frankreich. Eine besondere Hochachtung für die¬
jenigen Regierungen und Institutionen, die sie sich in achtzehnjährigen
"Umtrieb", um einen deutscheu Forstausdruck zu brauchen, zu setzen Pflegen,
kann man den Franzosen vielleicht nicht zumuten. Davon steckt manches im
Blute unsrer wiedergewonnenen Landsleute. Wenn z. B. der vor einigen Jahren
verstorbene zweiundachtzigjährige Präsident des protestantischen Konsistoriums
zu Straßburg dem Schreiber dieser Zeilen sagte: "Was mich hier festhält, ist
daß meine Frau sich nicht von unsrer kleinen <zg.nrxgZ'us (Landhaus) trennen
wollte, sonst wäre ich mit meinen Verwandten nach Frankreich gegangen. Ich
habe Napoleon von Wagram zurückkehren, habe Ludwig XVIII., Karl X. und
Ludwig Philipp gesehen, habe die Republik erlebt und Napoleon III., Sie
werden von mir nicht verlangen, daß ich an den Bestand irdischer Dinge glaube"
-- so ist dies eine Wahrheit, die sich nur innerhalb eines so vielgeprüften Landes,
da aber auch völlig begreifen läßt.

In diesem Gebiet zwischen Rhein und Vogesen haben Zeit und Menschen
noch ein großes Stück Aufräumungsarbeit zu vollbringen. Elsaß-Lothringen
hat jetzt gerade denselben Scheidungsprozeß durchzumachen, der ihm am
Ende des 17. Jahrhunderts durch Ludwig XIV., am Ende des 18. Jahrhunderts
durch die Revolution, von beiden aber viel schärfer und einschneidender auferlegt
wurde. Mau lese nur die französischen Maßnahmen und Verordnungen jener
Zeit durch, die Berichte über die damalige Stimmung der Bevölkerung, über
die Auswanderung nach Deutschland. Sie bieten fast das dasselbe Bild, wie
dieser jetzt seit 18 Jahren sich vollziehende Übergaugsprozeß, nur mit dem
Unterschiede, daß die Franzosen nach ihrer Gewohnheit unendlich viel unsanfter,
schneller und gründlicher verfuhren. Viel Federlesens haben sie bekanntlich in
eroberte" Provinzen niemals gemacht. Wir sind sentimentaler angelegt und
haben das Bedürfnis, nicht durch Furcht zu regieren, die durch große wirtschaft¬
liche Maßnahmen versöhnt wird, sondern durch eine sich nur zu bald verbrauchende
Höflichkeit und Milde, während wir uns große wirtschaftliche Neuschöpfungen
durch die Fülle unsrer büreaukratischen Umstände erschweren oder unmöglich
machen. Das hat niemand besser begriffen, als die im Ganzen recht praktischen
Elscisser der gebildeteren Klassen.

In die tausendfältig nach Frankreich gesponnenen Fäden der Familien- und
Freundschaftsbeziehungen, der Kindererziehung hat nun endlich die Pa߬
vorschrift tief und kräftig hineingeschnitten. Wir fassen unser Endurteil in die
Worte eines Alt-Straßburgers zusammen, der zu einem dortigen deutschen
Kaufmanne sagte: "Es ist das erste Mal, daß die deutsche Regierung ins
Schwarze getroffen hat."


Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

Trotz und französischen xrwoixss ^alitairös, dazu ein Nichtverstehen, auch wohl
Geringschätzen unsrer verwickelten bundesstaatlichen Einrichtung, gegenüber dem
einheitlichen, straff regierten Frankreich. Eine besondere Hochachtung für die¬
jenigen Regierungen und Institutionen, die sie sich in achtzehnjährigen
„Umtrieb", um einen deutscheu Forstausdruck zu brauchen, zu setzen Pflegen,
kann man den Franzosen vielleicht nicht zumuten. Davon steckt manches im
Blute unsrer wiedergewonnenen Landsleute. Wenn z. B. der vor einigen Jahren
verstorbene zweiundachtzigjährige Präsident des protestantischen Konsistoriums
zu Straßburg dem Schreiber dieser Zeilen sagte: „Was mich hier festhält, ist
daß meine Frau sich nicht von unsrer kleinen <zg.nrxgZ'us (Landhaus) trennen
wollte, sonst wäre ich mit meinen Verwandten nach Frankreich gegangen. Ich
habe Napoleon von Wagram zurückkehren, habe Ludwig XVIII., Karl X. und
Ludwig Philipp gesehen, habe die Republik erlebt und Napoleon III., Sie
werden von mir nicht verlangen, daß ich an den Bestand irdischer Dinge glaube"
— so ist dies eine Wahrheit, die sich nur innerhalb eines so vielgeprüften Landes,
da aber auch völlig begreifen läßt.

In diesem Gebiet zwischen Rhein und Vogesen haben Zeit und Menschen
noch ein großes Stück Aufräumungsarbeit zu vollbringen. Elsaß-Lothringen
hat jetzt gerade denselben Scheidungsprozeß durchzumachen, der ihm am
Ende des 17. Jahrhunderts durch Ludwig XIV., am Ende des 18. Jahrhunderts
durch die Revolution, von beiden aber viel schärfer und einschneidender auferlegt
wurde. Mau lese nur die französischen Maßnahmen und Verordnungen jener
Zeit durch, die Berichte über die damalige Stimmung der Bevölkerung, über
die Auswanderung nach Deutschland. Sie bieten fast das dasselbe Bild, wie
dieser jetzt seit 18 Jahren sich vollziehende Übergaugsprozeß, nur mit dem
Unterschiede, daß die Franzosen nach ihrer Gewohnheit unendlich viel unsanfter,
schneller und gründlicher verfuhren. Viel Federlesens haben sie bekanntlich in
eroberte» Provinzen niemals gemacht. Wir sind sentimentaler angelegt und
haben das Bedürfnis, nicht durch Furcht zu regieren, die durch große wirtschaft¬
liche Maßnahmen versöhnt wird, sondern durch eine sich nur zu bald verbrauchende
Höflichkeit und Milde, während wir uns große wirtschaftliche Neuschöpfungen
durch die Fülle unsrer büreaukratischen Umstände erschweren oder unmöglich
machen. Das hat niemand besser begriffen, als die im Ganzen recht praktischen
Elscisser der gebildeteren Klassen.

In die tausendfältig nach Frankreich gesponnenen Fäden der Familien- und
Freundschaftsbeziehungen, der Kindererziehung hat nun endlich die Pa߬
vorschrift tief und kräftig hineingeschnitten. Wir fassen unser Endurteil in die
Worte eines Alt-Straßburgers zusammen, der zu einem dortigen deutschen
Kaufmanne sagte: „Es ist das erste Mal, daß die deutsche Regierung ins
Schwarze getroffen hat."


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[0306] Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung. Trotz und französischen xrwoixss ^alitairös, dazu ein Nichtverstehen, auch wohl Geringschätzen unsrer verwickelten bundesstaatlichen Einrichtung, gegenüber dem einheitlichen, straff regierten Frankreich. Eine besondere Hochachtung für die¬ jenigen Regierungen und Institutionen, die sie sich in achtzehnjährigen „Umtrieb", um einen deutscheu Forstausdruck zu brauchen, zu setzen Pflegen, kann man den Franzosen vielleicht nicht zumuten. Davon steckt manches im Blute unsrer wiedergewonnenen Landsleute. Wenn z. B. der vor einigen Jahren verstorbene zweiundachtzigjährige Präsident des protestantischen Konsistoriums zu Straßburg dem Schreiber dieser Zeilen sagte: „Was mich hier festhält, ist daß meine Frau sich nicht von unsrer kleinen <zg.nrxgZ'us (Landhaus) trennen wollte, sonst wäre ich mit meinen Verwandten nach Frankreich gegangen. Ich habe Napoleon von Wagram zurückkehren, habe Ludwig XVIII., Karl X. und Ludwig Philipp gesehen, habe die Republik erlebt und Napoleon III., Sie werden von mir nicht verlangen, daß ich an den Bestand irdischer Dinge glaube" — so ist dies eine Wahrheit, die sich nur innerhalb eines so vielgeprüften Landes, da aber auch völlig begreifen läßt. In diesem Gebiet zwischen Rhein und Vogesen haben Zeit und Menschen noch ein großes Stück Aufräumungsarbeit zu vollbringen. Elsaß-Lothringen hat jetzt gerade denselben Scheidungsprozeß durchzumachen, der ihm am Ende des 17. Jahrhunderts durch Ludwig XIV., am Ende des 18. Jahrhunderts durch die Revolution, von beiden aber viel schärfer und einschneidender auferlegt wurde. Mau lese nur die französischen Maßnahmen und Verordnungen jener Zeit durch, die Berichte über die damalige Stimmung der Bevölkerung, über die Auswanderung nach Deutschland. Sie bieten fast das dasselbe Bild, wie dieser jetzt seit 18 Jahren sich vollziehende Übergaugsprozeß, nur mit dem Unterschiede, daß die Franzosen nach ihrer Gewohnheit unendlich viel unsanfter, schneller und gründlicher verfuhren. Viel Federlesens haben sie bekanntlich in eroberte» Provinzen niemals gemacht. Wir sind sentimentaler angelegt und haben das Bedürfnis, nicht durch Furcht zu regieren, die durch große wirtschaft¬ liche Maßnahmen versöhnt wird, sondern durch eine sich nur zu bald verbrauchende Höflichkeit und Milde, während wir uns große wirtschaftliche Neuschöpfungen durch die Fülle unsrer büreaukratischen Umstände erschweren oder unmöglich machen. Das hat niemand besser begriffen, als die im Ganzen recht praktischen Elscisser der gebildeteren Klassen. In die tausendfältig nach Frankreich gesponnenen Fäden der Familien- und Freundschaftsbeziehungen, der Kindererziehung hat nun endlich die Pa߬ vorschrift tief und kräftig hineingeschnitten. Wir fassen unser Endurteil in die Worte eines Alt-Straßburgers zusammen, der zu einem dortigen deutschen Kaufmanne sagte: „Es ist das erste Mal, daß die deutsche Regierung ins Schwarze getroffen hat."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/306>, abgerufen am 24.05.2024.