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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Gebietsentwicklnng dör Linzelstaatvn Deutschlands.

dem Belieben Napoleons ihre Gebietsgestaltung im wesentlichen ihren Abschluß
gefunden hat.

Seiner Lage, seiner Größe und seiner Bedeutung nach gebührt selbstver¬
ständlich Baiern der erste Platz. Es ist einer der Weingen Staaten in Deutsch¬
land, die noch de" Namen eines altdeutschen Stammes bewahrt haben, und der
einzige, der einen solchen mit einigem Rechte trägt. Denn das heutige Sachsen
und die sächsichcn Herzogtümer z. B. haben zur Führung des altberühmten Stam¬
mesnamens eigentlich gar keine geschichtliche Berechtigung. Ob Hessen überhaupt
der Name eines altdeutschen Stammes ist, ist zum mindesten zweifelhaft, wie
das seinerzeit nachgewiesen werden soll. Die Bewohner des heutigen Baierns
gehören nun zwar nicht alle, ja nicht einmal ihrer überwiegenden Mehrheit nach,
dem gleichnamigen Volksstamme an; die Bevölkerung fränkischer Abstammung
ist weit zahlreicher als die bairischer; aber die eigentlichen Baiern bilden doch
den Kern und Grundstamm dieses Staates. Allerdings ist Vaiern in gewissem
Sinne auch das Mutterland von Österreich; als Pipin, der Sohn Karls des
Großen, die Avaren besiegt hatte, gründete er gegen diese die avarische
Mark; da diese mit bairischen Anbauern bevölkert wurde, nannte man sie
auch die bairische Mark; diese wurde unter Otto dem Großen als Ostmark
neu begründet, und sie bildet den Kern von Österreich. Auch andre Pro¬
vinzen Österreichs: Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnthen u. s. w., haben
in alten Zeiten zu Baiern gehört, und die Deutschen in diesen Ländern sind
unbedingt ursprünglich dem bairischen Stamme zuzuzählen. Eine förmliche Ab¬
trennung Baierns von Österreich erfolgte erst, als Österreich im Jahre 1156
durch Friedrich Barbarossa zu einem eignen, auch in weiblicher Linie erblichen
Herzogtums erhoben wird. Die Versuche der Herrscher beider Länder, sich ge¬
genseitig aus ihrem Besitze zu verdrängen, sei es ganz, sei es teilweise, haben
bis in unser Jahrhundert fortgedauert. Das Gefühl einer uralten Stammes-
zusammcngeHörigkeit der Bewohner spielt aber dabei durchaus keine Rolle, son¬
dern ist im Gegenteil völlig verloren gegangen, und die Spuren davon sind,
abgesehen von der Verwandtschaft der Dialekte, durch den verschiedenen ge¬
schichtlichen Entwicklungsgang völlig verschwunden. Ja obgleich die Politik
der Dynastien mehrfach bei wichtigen Gelegenheiten Hand in Hand ging, kann
man doch behaupten, daß zwischen Baiern und Österreichern geradezu eine Art
von Nationalhaß herrscht. Weber in seinem "Demokritos" führt ein altes Sprich¬
wort an, das lautet: "Österreichisch und bairisch Blut in einem Topfe macht
eins das andre hinausspringen." Von dem gegenseitigen Hasse der Bevölkerungen
zeugen am besten die beiden Versuche der bairischen Fürsten der Neuzeit, sich
Tirols zu bemächtigen und sich in seinem Besitze zu behaupten, zum erstenmale
während des spanischen Erbfolgekrieges, zum zweitenmale während der Napo¬
leonischen Zeit. Während jenes Krieges war Baiern jahrelang von den Öster¬
reichern besetzt, der Kurfürst Max Emanuel aus seinem Lande verjagt und ge-


Die Gebietsentwicklnng dör Linzelstaatvn Deutschlands.

dem Belieben Napoleons ihre Gebietsgestaltung im wesentlichen ihren Abschluß
gefunden hat.

Seiner Lage, seiner Größe und seiner Bedeutung nach gebührt selbstver¬
ständlich Baiern der erste Platz. Es ist einer der Weingen Staaten in Deutsch¬
land, die noch de» Namen eines altdeutschen Stammes bewahrt haben, und der
einzige, der einen solchen mit einigem Rechte trägt. Denn das heutige Sachsen
und die sächsichcn Herzogtümer z. B. haben zur Führung des altberühmten Stam¬
mesnamens eigentlich gar keine geschichtliche Berechtigung. Ob Hessen überhaupt
der Name eines altdeutschen Stammes ist, ist zum mindesten zweifelhaft, wie
das seinerzeit nachgewiesen werden soll. Die Bewohner des heutigen Baierns
gehören nun zwar nicht alle, ja nicht einmal ihrer überwiegenden Mehrheit nach,
dem gleichnamigen Volksstamme an; die Bevölkerung fränkischer Abstammung
ist weit zahlreicher als die bairischer; aber die eigentlichen Baiern bilden doch
den Kern und Grundstamm dieses Staates. Allerdings ist Vaiern in gewissem
Sinne auch das Mutterland von Österreich; als Pipin, der Sohn Karls des
Großen, die Avaren besiegt hatte, gründete er gegen diese die avarische
Mark; da diese mit bairischen Anbauern bevölkert wurde, nannte man sie
auch die bairische Mark; diese wurde unter Otto dem Großen als Ostmark
neu begründet, und sie bildet den Kern von Österreich. Auch andre Pro¬
vinzen Österreichs: Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnthen u. s. w., haben
in alten Zeiten zu Baiern gehört, und die Deutschen in diesen Ländern sind
unbedingt ursprünglich dem bairischen Stamme zuzuzählen. Eine förmliche Ab¬
trennung Baierns von Österreich erfolgte erst, als Österreich im Jahre 1156
durch Friedrich Barbarossa zu einem eignen, auch in weiblicher Linie erblichen
Herzogtums erhoben wird. Die Versuche der Herrscher beider Länder, sich ge¬
genseitig aus ihrem Besitze zu verdrängen, sei es ganz, sei es teilweise, haben
bis in unser Jahrhundert fortgedauert. Das Gefühl einer uralten Stammes-
zusammcngeHörigkeit der Bewohner spielt aber dabei durchaus keine Rolle, son¬
dern ist im Gegenteil völlig verloren gegangen, und die Spuren davon sind,
abgesehen von der Verwandtschaft der Dialekte, durch den verschiedenen ge¬
schichtlichen Entwicklungsgang völlig verschwunden. Ja obgleich die Politik
der Dynastien mehrfach bei wichtigen Gelegenheiten Hand in Hand ging, kann
man doch behaupten, daß zwischen Baiern und Österreichern geradezu eine Art
von Nationalhaß herrscht. Weber in seinem „Demokritos" führt ein altes Sprich¬
wort an, das lautet: „Österreichisch und bairisch Blut in einem Topfe macht
eins das andre hinausspringen." Von dem gegenseitigen Hasse der Bevölkerungen
zeugen am besten die beiden Versuche der bairischen Fürsten der Neuzeit, sich
Tirols zu bemächtigen und sich in seinem Besitze zu behaupten, zum erstenmale
während des spanischen Erbfolgekrieges, zum zweitenmale während der Napo¬
leonischen Zeit. Während jenes Krieges war Baiern jahrelang von den Öster¬
reichern besetzt, der Kurfürst Max Emanuel aus seinem Lande verjagt und ge-


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[0308] Die Gebietsentwicklnng dör Linzelstaatvn Deutschlands. dem Belieben Napoleons ihre Gebietsgestaltung im wesentlichen ihren Abschluß gefunden hat. Seiner Lage, seiner Größe und seiner Bedeutung nach gebührt selbstver¬ ständlich Baiern der erste Platz. Es ist einer der Weingen Staaten in Deutsch¬ land, die noch de» Namen eines altdeutschen Stammes bewahrt haben, und der einzige, der einen solchen mit einigem Rechte trägt. Denn das heutige Sachsen und die sächsichcn Herzogtümer z. B. haben zur Führung des altberühmten Stam¬ mesnamens eigentlich gar keine geschichtliche Berechtigung. Ob Hessen überhaupt der Name eines altdeutschen Stammes ist, ist zum mindesten zweifelhaft, wie das seinerzeit nachgewiesen werden soll. Die Bewohner des heutigen Baierns gehören nun zwar nicht alle, ja nicht einmal ihrer überwiegenden Mehrheit nach, dem gleichnamigen Volksstamme an; die Bevölkerung fränkischer Abstammung ist weit zahlreicher als die bairischer; aber die eigentlichen Baiern bilden doch den Kern und Grundstamm dieses Staates. Allerdings ist Vaiern in gewissem Sinne auch das Mutterland von Österreich; als Pipin, der Sohn Karls des Großen, die Avaren besiegt hatte, gründete er gegen diese die avarische Mark; da diese mit bairischen Anbauern bevölkert wurde, nannte man sie auch die bairische Mark; diese wurde unter Otto dem Großen als Ostmark neu begründet, und sie bildet den Kern von Österreich. Auch andre Pro¬ vinzen Österreichs: Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnthen u. s. w., haben in alten Zeiten zu Baiern gehört, und die Deutschen in diesen Ländern sind unbedingt ursprünglich dem bairischen Stamme zuzuzählen. Eine förmliche Ab¬ trennung Baierns von Österreich erfolgte erst, als Österreich im Jahre 1156 durch Friedrich Barbarossa zu einem eignen, auch in weiblicher Linie erblichen Herzogtums erhoben wird. Die Versuche der Herrscher beider Länder, sich ge¬ genseitig aus ihrem Besitze zu verdrängen, sei es ganz, sei es teilweise, haben bis in unser Jahrhundert fortgedauert. Das Gefühl einer uralten Stammes- zusammcngeHörigkeit der Bewohner spielt aber dabei durchaus keine Rolle, son¬ dern ist im Gegenteil völlig verloren gegangen, und die Spuren davon sind, abgesehen von der Verwandtschaft der Dialekte, durch den verschiedenen ge¬ schichtlichen Entwicklungsgang völlig verschwunden. Ja obgleich die Politik der Dynastien mehrfach bei wichtigen Gelegenheiten Hand in Hand ging, kann man doch behaupten, daß zwischen Baiern und Österreichern geradezu eine Art von Nationalhaß herrscht. Weber in seinem „Demokritos" führt ein altes Sprich¬ wort an, das lautet: „Österreichisch und bairisch Blut in einem Topfe macht eins das andre hinausspringen." Von dem gegenseitigen Hasse der Bevölkerungen zeugen am besten die beiden Versuche der bairischen Fürsten der Neuzeit, sich Tirols zu bemächtigen und sich in seinem Besitze zu behaupten, zum erstenmale während des spanischen Erbfolgekrieges, zum zweitenmale während der Napo¬ leonischen Zeit. Während jenes Krieges war Baiern jahrelang von den Öster¬ reichern besetzt, der Kurfürst Max Emanuel aus seinem Lande verjagt und ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/308>, abgerufen am 23.05.2024.