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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Gebietsentwicklung der Einzelstaaten Deutschlands.

ächtet. Unter den vielen blutigen Gräueln jener Zeit, die der Stammcshciß
hervorrief, ist am bekanntesten die sogenannte Sentlinger Schlacht. Um die
österreichische Besatzung in München zu überfallen und so die Befreiung ihres
Landes zu ermöglichen, zogen in dunkler Nacht die Landleute aus den ober-
bairischen Bergen, bewaffnet mit alten Donnerbüchsen, Morgensternen und Sensen,
heran gegen die Hauptstadt; ihr Wahlspruch war: "Lieber bairisch sterben als
kaiserlich verderben!", ein Wort, das meines Wissens damals zuerst angewandt
wurde und später die wunderlichsten Umgestaltungen erfahren hat. Doch ihr
Vorhaben war verraten worden; sie kamen nur bis Sendung in der Nähe
von München, und ein furchtbares Blutbad erstickte den Erhebungsversuch. Bei
solchen Vorgängen konnte ein Gefühl von gemeinsamer Abstammung sich nicht
halten.

Der Name Baiern wird gewöhnlich auf den alten keltischen Völkerstamm
der Bojer zurückgeführt, nach denen auch Böhmen (Bojehemum, Böheim) ge¬
nannt sein soll. Diese Bojer dehnten zeitweilig ihr Gebiet von Norditalien
bis weit über die Alpen hinüber nach Böhmen aus. Der in Oberitalien an¬
sässige Zweig wurde schon früh, etwa zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt,
von den Römern unterworfen; aus Böhmen wurden sie nach einer Mitteilung
des Tacitus im Jahre 3 vor Christo durch Markomannen vertrieben. So wurden
die Bojer in die Lande an der mittlern Donau, namentlich zwischen Lech und
Irin, zusammengedrängt, und ihre Reste vermischten sich dort mit den germa¬
nischen Stämmen (Heruler, Rugier, Gepiden), welche die Stürme der Völker¬
wanderung dorthin geworfen hatten, und der so entstandene Stamm nannte
sich Bojoarier, woraus dann nach und nach Bojoaren, Bajuwaren, Bawaren
und Baiern gebildet wurde. Der Name ist zwar auch in andrer Weise erklärt
worden, doch mit wenig Wahrscheinlichkeit.

Über die Verhältnisse Baierns zum Frankenreiche, namentlich über die
wichtige Stellung, die dieses Herzogtum als Kern des Gebietes, welches im Ver¬
trage von Verdun Ludwig dem Deutschen zufiel, einnahm, soll hier nichts weiter
gesagt werden, da diese Verhältnisse auf die Gebietsentwicklung des heutigen
Staates keinen Einfluß gehabt haben. Aus demselben Grunde braucht nur
kurz darauf hingewiesen zu werden, daß Baiern dann längere Zeit von Fürsten
aus dem karolingischen Geschlechte beherrscht wurde. Die Hauspolitik der
sächsischen Kaiser brachte es mit sich, daß das wichtige Land möglichst enge mit
der regierenden Dynastie verknüpft wurde. Kaiser Otto I. verlieh es daher
seinem Stiefbruder Heinrich. Einer der Nachkommen dieses Herzogs erlangte
die Kaiserkrone und ist unter dein Namen Heinrich II. der Heilige bekannt. In
ähnlicher Weise suchten die Kaiser aus dem fränkischen Hause sich den Besitz
des Herzogtums zu sichern, indem sie teils ihre Söhne, teils andre Verwandte
damit belehnten. Die Kaiserin Agnes, die Mutter und Vormünderin Heinrichs IV.,
übertrug es dem sächsischen Großen Otto von Nordheim, um sich dessen Unter-


Die Gebietsentwicklung der Einzelstaaten Deutschlands.

ächtet. Unter den vielen blutigen Gräueln jener Zeit, die der Stammcshciß
hervorrief, ist am bekanntesten die sogenannte Sentlinger Schlacht. Um die
österreichische Besatzung in München zu überfallen und so die Befreiung ihres
Landes zu ermöglichen, zogen in dunkler Nacht die Landleute aus den ober-
bairischen Bergen, bewaffnet mit alten Donnerbüchsen, Morgensternen und Sensen,
heran gegen die Hauptstadt; ihr Wahlspruch war: „Lieber bairisch sterben als
kaiserlich verderben!", ein Wort, das meines Wissens damals zuerst angewandt
wurde und später die wunderlichsten Umgestaltungen erfahren hat. Doch ihr
Vorhaben war verraten worden; sie kamen nur bis Sendung in der Nähe
von München, und ein furchtbares Blutbad erstickte den Erhebungsversuch. Bei
solchen Vorgängen konnte ein Gefühl von gemeinsamer Abstammung sich nicht
halten.

Der Name Baiern wird gewöhnlich auf den alten keltischen Völkerstamm
der Bojer zurückgeführt, nach denen auch Böhmen (Bojehemum, Böheim) ge¬
nannt sein soll. Diese Bojer dehnten zeitweilig ihr Gebiet von Norditalien
bis weit über die Alpen hinüber nach Böhmen aus. Der in Oberitalien an¬
sässige Zweig wurde schon früh, etwa zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt,
von den Römern unterworfen; aus Böhmen wurden sie nach einer Mitteilung
des Tacitus im Jahre 3 vor Christo durch Markomannen vertrieben. So wurden
die Bojer in die Lande an der mittlern Donau, namentlich zwischen Lech und
Irin, zusammengedrängt, und ihre Reste vermischten sich dort mit den germa¬
nischen Stämmen (Heruler, Rugier, Gepiden), welche die Stürme der Völker¬
wanderung dorthin geworfen hatten, und der so entstandene Stamm nannte
sich Bojoarier, woraus dann nach und nach Bojoaren, Bajuwaren, Bawaren
und Baiern gebildet wurde. Der Name ist zwar auch in andrer Weise erklärt
worden, doch mit wenig Wahrscheinlichkeit.

Über die Verhältnisse Baierns zum Frankenreiche, namentlich über die
wichtige Stellung, die dieses Herzogtum als Kern des Gebietes, welches im Ver¬
trage von Verdun Ludwig dem Deutschen zufiel, einnahm, soll hier nichts weiter
gesagt werden, da diese Verhältnisse auf die Gebietsentwicklung des heutigen
Staates keinen Einfluß gehabt haben. Aus demselben Grunde braucht nur
kurz darauf hingewiesen zu werden, daß Baiern dann längere Zeit von Fürsten
aus dem karolingischen Geschlechte beherrscht wurde. Die Hauspolitik der
sächsischen Kaiser brachte es mit sich, daß das wichtige Land möglichst enge mit
der regierenden Dynastie verknüpft wurde. Kaiser Otto I. verlieh es daher
seinem Stiefbruder Heinrich. Einer der Nachkommen dieses Herzogs erlangte
die Kaiserkrone und ist unter dein Namen Heinrich II. der Heilige bekannt. In
ähnlicher Weise suchten die Kaiser aus dem fränkischen Hause sich den Besitz
des Herzogtums zu sichern, indem sie teils ihre Söhne, teils andre Verwandte
damit belehnten. Die Kaiserin Agnes, die Mutter und Vormünderin Heinrichs IV.,
übertrug es dem sächsischen Großen Otto von Nordheim, um sich dessen Unter-


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[0309] Die Gebietsentwicklung der Einzelstaaten Deutschlands. ächtet. Unter den vielen blutigen Gräueln jener Zeit, die der Stammcshciß hervorrief, ist am bekanntesten die sogenannte Sentlinger Schlacht. Um die österreichische Besatzung in München zu überfallen und so die Befreiung ihres Landes zu ermöglichen, zogen in dunkler Nacht die Landleute aus den ober- bairischen Bergen, bewaffnet mit alten Donnerbüchsen, Morgensternen und Sensen, heran gegen die Hauptstadt; ihr Wahlspruch war: „Lieber bairisch sterben als kaiserlich verderben!", ein Wort, das meines Wissens damals zuerst angewandt wurde und später die wunderlichsten Umgestaltungen erfahren hat. Doch ihr Vorhaben war verraten worden; sie kamen nur bis Sendung in der Nähe von München, und ein furchtbares Blutbad erstickte den Erhebungsversuch. Bei solchen Vorgängen konnte ein Gefühl von gemeinsamer Abstammung sich nicht halten. Der Name Baiern wird gewöhnlich auf den alten keltischen Völkerstamm der Bojer zurückgeführt, nach denen auch Böhmen (Bojehemum, Böheim) ge¬ nannt sein soll. Diese Bojer dehnten zeitweilig ihr Gebiet von Norditalien bis weit über die Alpen hinüber nach Böhmen aus. Der in Oberitalien an¬ sässige Zweig wurde schon früh, etwa zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt, von den Römern unterworfen; aus Böhmen wurden sie nach einer Mitteilung des Tacitus im Jahre 3 vor Christo durch Markomannen vertrieben. So wurden die Bojer in die Lande an der mittlern Donau, namentlich zwischen Lech und Irin, zusammengedrängt, und ihre Reste vermischten sich dort mit den germa¬ nischen Stämmen (Heruler, Rugier, Gepiden), welche die Stürme der Völker¬ wanderung dorthin geworfen hatten, und der so entstandene Stamm nannte sich Bojoarier, woraus dann nach und nach Bojoaren, Bajuwaren, Bawaren und Baiern gebildet wurde. Der Name ist zwar auch in andrer Weise erklärt worden, doch mit wenig Wahrscheinlichkeit. Über die Verhältnisse Baierns zum Frankenreiche, namentlich über die wichtige Stellung, die dieses Herzogtum als Kern des Gebietes, welches im Ver¬ trage von Verdun Ludwig dem Deutschen zufiel, einnahm, soll hier nichts weiter gesagt werden, da diese Verhältnisse auf die Gebietsentwicklung des heutigen Staates keinen Einfluß gehabt haben. Aus demselben Grunde braucht nur kurz darauf hingewiesen zu werden, daß Baiern dann längere Zeit von Fürsten aus dem karolingischen Geschlechte beherrscht wurde. Die Hauspolitik der sächsischen Kaiser brachte es mit sich, daß das wichtige Land möglichst enge mit der regierenden Dynastie verknüpft wurde. Kaiser Otto I. verlieh es daher seinem Stiefbruder Heinrich. Einer der Nachkommen dieses Herzogs erlangte die Kaiserkrone und ist unter dein Namen Heinrich II. der Heilige bekannt. In ähnlicher Weise suchten die Kaiser aus dem fränkischen Hause sich den Besitz des Herzogtums zu sichern, indem sie teils ihre Söhne, teils andre Verwandte damit belehnten. Die Kaiserin Agnes, die Mutter und Vormünderin Heinrichs IV., übertrug es dem sächsischen Großen Otto von Nordheim, um sich dessen Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/309>, abgerufen am 16.06.2024.