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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rußland,

nach philosophischer Notwendigkeit die Romanen und Germanen in der Stelle
der Vormacht Europas abgelöst habe. Die Sozialisten erblickten ihre Idee in
ungeahnter Weise verkörpert und beeilten sich, dem Gemeindebesitz in ihrem
Programme die oberste Stelle einzuräumen.

Die nächste Aufgabe war nun für die Slawophilen wie für die Pcmsla-
wisten, für die Einführung des Brauches in den Provinzen des Reiches, wo
er noch nicht oder nicht mehr Geltung hatte, zu wirken und vor allem die
Rittergüter zu beseitigen. Aber dabei gab es vorläufig Schwierigkeiten, vor
denen es beim guten Willen bleiben mußte. Haxthausen machte seine Entdeckung
1842. Aber schon 1832 hatte die Moskaner Studcntenvereine das Unglück
betroffen, daß die Polizei ihrem Philosophiren auf die Spur kam und nächt¬
licher Weile einzelne von ihnen verhaftete und verschwinden ließ. Bald nachher
erreichte die leitenden Geister des sozialistischen Kreises ein ähnliches Schicksal.
Seitdem war in der öffentlichen Stimmung jene oben geschilderte Umwandlung
vor sich gegangen: man war zufrieden mit der Gegenwart Rußlands, ja man
war stolz auf sie. Da brachte das Jahr 1848 dem Zaren die sehr unwill¬
kommene Aufklärung, daß er nur nach der Oberfläche geurteilt hatte, als er,
auf die revolutionäre Fäulnis des Westens herabsehend, sein Rußland in dieser
Hinsicht prahlend als rein und glücklich gepriesen hatte. Im März 1848 ging
beim Minister des Innern die Anzeige ein, in einer Adelsversammlung der haupt¬
städtischen Provinz seien zensurwidrige Schriftstücke, die ein Ministerialbeamter
Petraschewski verfaßt habe, ausgeteilt worden, und die daraufhin angestellte
Nachforschung nud Untersuchung lieferte den Beweis, daß nicht nur in der Residenz,
sondern auch in mehrern Provinzialstädten vornehmlich von jungen Leuten
besuchte Gesellschaften bestanden, in denen Politik getrieben, über die Regierung
mit Einschluß des Monarchen mit Geringschätzung gesprochen und über staats¬
gefährliche, selbst kommunistische Lehren verhandelt worden war, und deren
Bestehen sich bis 1842 zurückverfolgen ließ. Man erfuhr ferner, daß von
diesen Gesellschaften die Verbreitung illoyaler Gesinnung unter dem niedern
Beamten- und Bürgerstande mit Erfolg versucht worden war, daß man dort
an Aufwiegelung der leibeignen Massen gedacht hatte, und daß unruhige Köpfe
sich mit fertigen Plänen zum Sturze des Absolutismus und zur "Einführung
der Anarchie" trugen.

Die nächste Folge der Entdeckung dieser "Verschwörung der Petraschcwzen"
war die Verhaftung von 33 besonders belasteten Personen und das Todesurteil
über 21 derselben, das vom Kaiser in lebenslängliche Verbannung verwandelt
wurde; dann wurden die burennkratischen Kräfte zu äußerster Gegenarbeit gegen
alles, was revolutionär heißen konnte, angespannt. Die dritte Abteilung der
kaiserlichen Kanzlei wurde zu einer Reichsbehörde erhoben, der sich auch die
Minister unterzuordnen hatten. Die Unduldsamkeit der Zensur stieg ins Un¬
glaubliche. Wer ins Anstand reisen wollte, mußte dazu die allerhöchste Er-


Line Geschichte der Parteien in Rußland,

nach philosophischer Notwendigkeit die Romanen und Germanen in der Stelle
der Vormacht Europas abgelöst habe. Die Sozialisten erblickten ihre Idee in
ungeahnter Weise verkörpert und beeilten sich, dem Gemeindebesitz in ihrem
Programme die oberste Stelle einzuräumen.

Die nächste Aufgabe war nun für die Slawophilen wie für die Pcmsla-
wisten, für die Einführung des Brauches in den Provinzen des Reiches, wo
er noch nicht oder nicht mehr Geltung hatte, zu wirken und vor allem die
Rittergüter zu beseitigen. Aber dabei gab es vorläufig Schwierigkeiten, vor
denen es beim guten Willen bleiben mußte. Haxthausen machte seine Entdeckung
1842. Aber schon 1832 hatte die Moskaner Studcntenvereine das Unglück
betroffen, daß die Polizei ihrem Philosophiren auf die Spur kam und nächt¬
licher Weile einzelne von ihnen verhaftete und verschwinden ließ. Bald nachher
erreichte die leitenden Geister des sozialistischen Kreises ein ähnliches Schicksal.
Seitdem war in der öffentlichen Stimmung jene oben geschilderte Umwandlung
vor sich gegangen: man war zufrieden mit der Gegenwart Rußlands, ja man
war stolz auf sie. Da brachte das Jahr 1848 dem Zaren die sehr unwill¬
kommene Aufklärung, daß er nur nach der Oberfläche geurteilt hatte, als er,
auf die revolutionäre Fäulnis des Westens herabsehend, sein Rußland in dieser
Hinsicht prahlend als rein und glücklich gepriesen hatte. Im März 1848 ging
beim Minister des Innern die Anzeige ein, in einer Adelsversammlung der haupt¬
städtischen Provinz seien zensurwidrige Schriftstücke, die ein Ministerialbeamter
Petraschewski verfaßt habe, ausgeteilt worden, und die daraufhin angestellte
Nachforschung nud Untersuchung lieferte den Beweis, daß nicht nur in der Residenz,
sondern auch in mehrern Provinzialstädten vornehmlich von jungen Leuten
besuchte Gesellschaften bestanden, in denen Politik getrieben, über die Regierung
mit Einschluß des Monarchen mit Geringschätzung gesprochen und über staats¬
gefährliche, selbst kommunistische Lehren verhandelt worden war, und deren
Bestehen sich bis 1842 zurückverfolgen ließ. Man erfuhr ferner, daß von
diesen Gesellschaften die Verbreitung illoyaler Gesinnung unter dem niedern
Beamten- und Bürgerstande mit Erfolg versucht worden war, daß man dort
an Aufwiegelung der leibeignen Massen gedacht hatte, und daß unruhige Köpfe
sich mit fertigen Plänen zum Sturze des Absolutismus und zur „Einführung
der Anarchie" trugen.

Die nächste Folge der Entdeckung dieser „Verschwörung der Petraschcwzen"
war die Verhaftung von 33 besonders belasteten Personen und das Todesurteil
über 21 derselben, das vom Kaiser in lebenslängliche Verbannung verwandelt
wurde; dann wurden die burennkratischen Kräfte zu äußerster Gegenarbeit gegen
alles, was revolutionär heißen konnte, angespannt. Die dritte Abteilung der
kaiserlichen Kanzlei wurde zu einer Reichsbehörde erhoben, der sich auch die
Minister unterzuordnen hatten. Die Unduldsamkeit der Zensur stieg ins Un¬
glaubliche. Wer ins Anstand reisen wollte, mußte dazu die allerhöchste Er-


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[0455] Line Geschichte der Parteien in Rußland, nach philosophischer Notwendigkeit die Romanen und Germanen in der Stelle der Vormacht Europas abgelöst habe. Die Sozialisten erblickten ihre Idee in ungeahnter Weise verkörpert und beeilten sich, dem Gemeindebesitz in ihrem Programme die oberste Stelle einzuräumen. Die nächste Aufgabe war nun für die Slawophilen wie für die Pcmsla- wisten, für die Einführung des Brauches in den Provinzen des Reiches, wo er noch nicht oder nicht mehr Geltung hatte, zu wirken und vor allem die Rittergüter zu beseitigen. Aber dabei gab es vorläufig Schwierigkeiten, vor denen es beim guten Willen bleiben mußte. Haxthausen machte seine Entdeckung 1842. Aber schon 1832 hatte die Moskaner Studcntenvereine das Unglück betroffen, daß die Polizei ihrem Philosophiren auf die Spur kam und nächt¬ licher Weile einzelne von ihnen verhaftete und verschwinden ließ. Bald nachher erreichte die leitenden Geister des sozialistischen Kreises ein ähnliches Schicksal. Seitdem war in der öffentlichen Stimmung jene oben geschilderte Umwandlung vor sich gegangen: man war zufrieden mit der Gegenwart Rußlands, ja man war stolz auf sie. Da brachte das Jahr 1848 dem Zaren die sehr unwill¬ kommene Aufklärung, daß er nur nach der Oberfläche geurteilt hatte, als er, auf die revolutionäre Fäulnis des Westens herabsehend, sein Rußland in dieser Hinsicht prahlend als rein und glücklich gepriesen hatte. Im März 1848 ging beim Minister des Innern die Anzeige ein, in einer Adelsversammlung der haupt¬ städtischen Provinz seien zensurwidrige Schriftstücke, die ein Ministerialbeamter Petraschewski verfaßt habe, ausgeteilt worden, und die daraufhin angestellte Nachforschung nud Untersuchung lieferte den Beweis, daß nicht nur in der Residenz, sondern auch in mehrern Provinzialstädten vornehmlich von jungen Leuten besuchte Gesellschaften bestanden, in denen Politik getrieben, über die Regierung mit Einschluß des Monarchen mit Geringschätzung gesprochen und über staats¬ gefährliche, selbst kommunistische Lehren verhandelt worden war, und deren Bestehen sich bis 1842 zurückverfolgen ließ. Man erfuhr ferner, daß von diesen Gesellschaften die Verbreitung illoyaler Gesinnung unter dem niedern Beamten- und Bürgerstande mit Erfolg versucht worden war, daß man dort an Aufwiegelung der leibeignen Massen gedacht hatte, und daß unruhige Köpfe sich mit fertigen Plänen zum Sturze des Absolutismus und zur „Einführung der Anarchie" trugen. Die nächste Folge der Entdeckung dieser „Verschwörung der Petraschcwzen" war die Verhaftung von 33 besonders belasteten Personen und das Todesurteil über 21 derselben, das vom Kaiser in lebenslängliche Verbannung verwandelt wurde; dann wurden die burennkratischen Kräfte zu äußerster Gegenarbeit gegen alles, was revolutionär heißen konnte, angespannt. Die dritte Abteilung der kaiserlichen Kanzlei wurde zu einer Reichsbehörde erhoben, der sich auch die Minister unterzuordnen hatten. Die Unduldsamkeit der Zensur stieg ins Un¬ glaubliche. Wer ins Anstand reisen wollte, mußte dazu die allerhöchste Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/455>, abgerufen am 16.06.2024.