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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rnsiland.

laubnis einholen und 600 Rubel erlegen. Vom Weiterbau der begonnenen
Eisenbahnen war nicht mehr die Rede. Das Unterrichtsministerium wurde einem
Manne übertragen, der an den Universitäten nicht mehr über Philosophie und
Staatsrecht lesen ließ, und die Zahl der Studirenden für die einzelne Hoch¬
schule auf 300 beschränkte, ja der Zar ging ernsthaft mit dem Gedanken um,
diese gefährlichen Anstalten ganz abzuschaffen. Nikolaus war dem Cäsarenwahn¬
sinn verfallen, er hielt sich als Selbstherrscher für unfehlbar, der geringste
Widerspruch eines Unterthanen reizte ihn zu gefährlichem Aufbrausen, er wähnte
selbst den Gesetzen der Volkswirtschaft gebieten zu können. Unheimliche Schwüle
lagerte sich über das Reich, man fühlte eine Krisis herankommen. Sie kam
mit dem Krimkriege und dem frühen Tode des Zaren. Je gewisser des Siegs
die Nation den Kampf mit den Türken und den Wcstmächten aufgenommen
hatte, desto furchtbarer war die Enttäuschung, welche die Mißerfolge des Feld¬
zugs brachten. Die ungeheuern Menschenverluste, die Unfähigkeit der Feldherrn,
von der nur der Deutsche Totlebcn, der geschickte Verteidiger Sewastopols, eine
Ausnahme machte, die ganz unglaubliche Unehrlichkeit der Verpflegungsbeamten
ließen die bisher gepflegte Selbstgenügsamkeit, als sie allmählich bekannt wurden,
in ihr Gegenteil umschlagen, und jede regierungsfeindliche Regung begann sich zu
hell aufflammenden Grimme zu entzünden. Bis in entlegene Prvvinzialstädte hinein
besprach man ungescheut die schweren Gebrechen des Reiches, und eine handschrift¬
liche Litteratur, die in Hunderttausenden von Abschriften verbreitet wurde, schürte,
die Zensurstellen vermeidend, das Feuer des Hasses und der Verachtung, wel¬
ches die öffentliche Meinung ergriffen hatte. Es war wie eine rettende Botschaft
vom Himmel, als man erfuhr, der Kaiser sei gestorben. Man wußte nichts
genaues über die Gesinnnung des Thronfolgers, aber man hatte die Empfin¬
dung, es müßte mit ihm anders werden. Wie und wodurch, blieb unklar, bis
Herzens "Offres Schreiben an Alexander den Zweiten" erschien. Dieses Ma¬
nifest eines begeisterten Verehrers des westlichen Liberalismus verkündete der
Welt in volltönenden Phrasen, nunmehr sei die Stunde gekommen, das Unrecht
einer dreißigjährigen Regierung zu sühnen, mit den humanen Ideen des Jahr¬
hunderts Frieden zu schließen und dem russischen Volke zu geben, was ihm ge¬
bühre, zunächst aber zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu schreiten. War bis¬
her eine öffentliche Meinung nur in der Bildung begriffen und noch nicht ein¬
heitlich, war sie nur negativen Inhalts, nur Kritik gewesen, so bekam sie durch
diese Ansprache mit einem positiven Inhalte einheitliche Ziele, Klarheit und
Selbstgefühl. Herzen, der uneheliche Sohn eiues russischen Magnaten und einer
Deutschen, hatte, zuletzt als Flüchtling in London lebend, schon vorher durch
seine Zeitschrift "Kökökök" für die liberale Bewegung in Rußland gewirkt, sein
Brief an den neuen Kaiser machte ihn zum unbeschränkten Gebieter über sie.
Willenloser war selbst an Zar Nikolaus' Hofe die gezwungene Unterwürfigkeit
nicht gewesen, als jetzt die freiwillige Hingebung der meisterlosen Menge an den


Line Geschichte der Parteien in Rnsiland.

laubnis einholen und 600 Rubel erlegen. Vom Weiterbau der begonnenen
Eisenbahnen war nicht mehr die Rede. Das Unterrichtsministerium wurde einem
Manne übertragen, der an den Universitäten nicht mehr über Philosophie und
Staatsrecht lesen ließ, und die Zahl der Studirenden für die einzelne Hoch¬
schule auf 300 beschränkte, ja der Zar ging ernsthaft mit dem Gedanken um,
diese gefährlichen Anstalten ganz abzuschaffen. Nikolaus war dem Cäsarenwahn¬
sinn verfallen, er hielt sich als Selbstherrscher für unfehlbar, der geringste
Widerspruch eines Unterthanen reizte ihn zu gefährlichem Aufbrausen, er wähnte
selbst den Gesetzen der Volkswirtschaft gebieten zu können. Unheimliche Schwüle
lagerte sich über das Reich, man fühlte eine Krisis herankommen. Sie kam
mit dem Krimkriege und dem frühen Tode des Zaren. Je gewisser des Siegs
die Nation den Kampf mit den Türken und den Wcstmächten aufgenommen
hatte, desto furchtbarer war die Enttäuschung, welche die Mißerfolge des Feld¬
zugs brachten. Die ungeheuern Menschenverluste, die Unfähigkeit der Feldherrn,
von der nur der Deutsche Totlebcn, der geschickte Verteidiger Sewastopols, eine
Ausnahme machte, die ganz unglaubliche Unehrlichkeit der Verpflegungsbeamten
ließen die bisher gepflegte Selbstgenügsamkeit, als sie allmählich bekannt wurden,
in ihr Gegenteil umschlagen, und jede regierungsfeindliche Regung begann sich zu
hell aufflammenden Grimme zu entzünden. Bis in entlegene Prvvinzialstädte hinein
besprach man ungescheut die schweren Gebrechen des Reiches, und eine handschrift¬
liche Litteratur, die in Hunderttausenden von Abschriften verbreitet wurde, schürte,
die Zensurstellen vermeidend, das Feuer des Hasses und der Verachtung, wel¬
ches die öffentliche Meinung ergriffen hatte. Es war wie eine rettende Botschaft
vom Himmel, als man erfuhr, der Kaiser sei gestorben. Man wußte nichts
genaues über die Gesinnnung des Thronfolgers, aber man hatte die Empfin¬
dung, es müßte mit ihm anders werden. Wie und wodurch, blieb unklar, bis
Herzens „Offres Schreiben an Alexander den Zweiten" erschien. Dieses Ma¬
nifest eines begeisterten Verehrers des westlichen Liberalismus verkündete der
Welt in volltönenden Phrasen, nunmehr sei die Stunde gekommen, das Unrecht
einer dreißigjährigen Regierung zu sühnen, mit den humanen Ideen des Jahr¬
hunderts Frieden zu schließen und dem russischen Volke zu geben, was ihm ge¬
bühre, zunächst aber zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu schreiten. War bis¬
her eine öffentliche Meinung nur in der Bildung begriffen und noch nicht ein¬
heitlich, war sie nur negativen Inhalts, nur Kritik gewesen, so bekam sie durch
diese Ansprache mit einem positiven Inhalte einheitliche Ziele, Klarheit und
Selbstgefühl. Herzen, der uneheliche Sohn eiues russischen Magnaten und einer
Deutschen, hatte, zuletzt als Flüchtling in London lebend, schon vorher durch
seine Zeitschrift „Kökökök" für die liberale Bewegung in Rußland gewirkt, sein
Brief an den neuen Kaiser machte ihn zum unbeschränkten Gebieter über sie.
Willenloser war selbst an Zar Nikolaus' Hofe die gezwungene Unterwürfigkeit
nicht gewesen, als jetzt die freiwillige Hingebung der meisterlosen Menge an den


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[0456] Line Geschichte der Parteien in Rnsiland. laubnis einholen und 600 Rubel erlegen. Vom Weiterbau der begonnenen Eisenbahnen war nicht mehr die Rede. Das Unterrichtsministerium wurde einem Manne übertragen, der an den Universitäten nicht mehr über Philosophie und Staatsrecht lesen ließ, und die Zahl der Studirenden für die einzelne Hoch¬ schule auf 300 beschränkte, ja der Zar ging ernsthaft mit dem Gedanken um, diese gefährlichen Anstalten ganz abzuschaffen. Nikolaus war dem Cäsarenwahn¬ sinn verfallen, er hielt sich als Selbstherrscher für unfehlbar, der geringste Widerspruch eines Unterthanen reizte ihn zu gefährlichem Aufbrausen, er wähnte selbst den Gesetzen der Volkswirtschaft gebieten zu können. Unheimliche Schwüle lagerte sich über das Reich, man fühlte eine Krisis herankommen. Sie kam mit dem Krimkriege und dem frühen Tode des Zaren. Je gewisser des Siegs die Nation den Kampf mit den Türken und den Wcstmächten aufgenommen hatte, desto furchtbarer war die Enttäuschung, welche die Mißerfolge des Feld¬ zugs brachten. Die ungeheuern Menschenverluste, die Unfähigkeit der Feldherrn, von der nur der Deutsche Totlebcn, der geschickte Verteidiger Sewastopols, eine Ausnahme machte, die ganz unglaubliche Unehrlichkeit der Verpflegungsbeamten ließen die bisher gepflegte Selbstgenügsamkeit, als sie allmählich bekannt wurden, in ihr Gegenteil umschlagen, und jede regierungsfeindliche Regung begann sich zu hell aufflammenden Grimme zu entzünden. Bis in entlegene Prvvinzialstädte hinein besprach man ungescheut die schweren Gebrechen des Reiches, und eine handschrift¬ liche Litteratur, die in Hunderttausenden von Abschriften verbreitet wurde, schürte, die Zensurstellen vermeidend, das Feuer des Hasses und der Verachtung, wel¬ ches die öffentliche Meinung ergriffen hatte. Es war wie eine rettende Botschaft vom Himmel, als man erfuhr, der Kaiser sei gestorben. Man wußte nichts genaues über die Gesinnnung des Thronfolgers, aber man hatte die Empfin¬ dung, es müßte mit ihm anders werden. Wie und wodurch, blieb unklar, bis Herzens „Offres Schreiben an Alexander den Zweiten" erschien. Dieses Ma¬ nifest eines begeisterten Verehrers des westlichen Liberalismus verkündete der Welt in volltönenden Phrasen, nunmehr sei die Stunde gekommen, das Unrecht einer dreißigjährigen Regierung zu sühnen, mit den humanen Ideen des Jahr¬ hunderts Frieden zu schließen und dem russischen Volke zu geben, was ihm ge¬ bühre, zunächst aber zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu schreiten. War bis¬ her eine öffentliche Meinung nur in der Bildung begriffen und noch nicht ein¬ heitlich, war sie nur negativen Inhalts, nur Kritik gewesen, so bekam sie durch diese Ansprache mit einem positiven Inhalte einheitliche Ziele, Klarheit und Selbstgefühl. Herzen, der uneheliche Sohn eiues russischen Magnaten und einer Deutschen, hatte, zuletzt als Flüchtling in London lebend, schon vorher durch seine Zeitschrift „Kökökök" für die liberale Bewegung in Rußland gewirkt, sein Brief an den neuen Kaiser machte ihn zum unbeschränkten Gebieter über sie. Willenloser war selbst an Zar Nikolaus' Hofe die gezwungene Unterwürfigkeit nicht gewesen, als jetzt die freiwillige Hingebung der meisterlosen Menge an den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/456>, abgerufen am 24.05.2024.