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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

Studium und den Verkehr mit dem Auslande, wies die Angeberei, wo sie zu
widerlich auftrat, von sich, begnadigte einen Teil der verbannten oder sonst
gemaßregelten Liberalen und bewirkte, daß die Zensur milder verfuhr. Die
Folge war, das Entstehen einer Menge von Schriften, welche die Schäden des
Reiches rücksichtslos bloßlegten, die Einfuhr fremder Litteratur gefährlicher Art,
Darwinscher, Moleschottscher, Bncklcscher Lehren, geschichtlicher, staatswissenschaft¬
licher und sozialistischer Werke und das Anschwellen der periodischen Presse zu
riesigem Umfange, die weitere Folge eine vollständige Entgleisung des Bildungs¬
triebes der mittleren und höheren Klassen der Bevölkerung unter der Überfülle
und in dem Wirrsal des plötzlich sich ihnen aufdringenden Bildungsstoffes, anf
den sie nicht vorbereitet waren, und den sie sich deshalb ohne rechtes Verständnis
und Urteil aneigneten, für den sie aber trotzdem in Schwärmerei erglühten. "Binnen
wenigen Jahren war jeder anständige Russe Dilettant der Naturwissenschaften,
Atheist, Schwärmer für Frauenemanzipation, Demokrat, Sozialist und im
allgemeinen Feind der bisher in Geltung gewesenen Autoritäten geworden . . .
In Salons, Klubs und Lescvereinen wurde dieser neuesten Mode gefrvhnt und
die im Gedächtnis haftenden Phrasen von Aufklärung. Volkswillen und Volks¬
befreiung unermüdlich und in immer vollendeteren Überzeugston wiederholt."
Alle strebten mit wetteifernder Maßlosigkeit nach dem Rufe, auf der Höhe
liberalen Denkens zu stehen und in der Gesittung am weitesten fortgeschritten
zu sein. Über dem ganzen Treiben aber schwebte der Geist des "Kökökök," der
die Macht der ihm gehorsamen öffentlichen Meinung benutzte, die Politik des
Zaren zu lenken und ihn zunächst zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu drängen.
Die Zeit war dazu besonders geeignet, da die liberale Bewegung die Mehrheit
der Gutsbesitzer mit Opferwilligkeit erfüllt hatte, womit sich allerdings der An¬
spruch verband, für den durch die Befreiung der Bauern verloren gehenden poli¬
tischen Einfluß durch ein adliches Parlament entschädigt zu werden. Der Kaiser
ging darauf nicht ein und gewährte auch bei der Vorbereitung des Emanzipations¬
werkes den Adelsdclegationen nur beratende Stimme. So kam der Ukas vom
19. Februar 1861 zu stände, der die Leibeignen unter sehr vorteilhaften
Bedingungen unabhängig machte. Er begegnete jedoch allgemeiner Unzufrieden¬
heit. Die geschädigten Edelleute seufzten, Herzen und seine Gefolgschaft erklärten,
die Rechtsfrage sei unvollkommen gelöst, die Bauern erblickten in der zins¬
artigen Belastung des nun ihnen gehörigen Bodens ein schreiendes Unrecht,
und die Auseinandersetzung zwischen ihnen und den Gutsherren stieß in einigen
Provinzen sogar auf thätlichen Widerstand. Ein Reformprogramm, das die
Regierung 1862 veröffentlichte, machte, obwohl es sehr viel bot, wenig Eindruck,
zumal da der Londoner Diktator der öffentlichen Meinung unter Bakunins
Einfluß radikale Bahnen einschlug. Das russische Publikum folgte ihm dabei
aber nur noch kurze Zeit. Es wurde zunächst durch die Petersburger Feuers-
brünste vom Mai 1862, die von revolutionären Händen angelegt waren,


Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

Studium und den Verkehr mit dem Auslande, wies die Angeberei, wo sie zu
widerlich auftrat, von sich, begnadigte einen Teil der verbannten oder sonst
gemaßregelten Liberalen und bewirkte, daß die Zensur milder verfuhr. Die
Folge war, das Entstehen einer Menge von Schriften, welche die Schäden des
Reiches rücksichtslos bloßlegten, die Einfuhr fremder Litteratur gefährlicher Art,
Darwinscher, Moleschottscher, Bncklcscher Lehren, geschichtlicher, staatswissenschaft¬
licher und sozialistischer Werke und das Anschwellen der periodischen Presse zu
riesigem Umfange, die weitere Folge eine vollständige Entgleisung des Bildungs¬
triebes der mittleren und höheren Klassen der Bevölkerung unter der Überfülle
und in dem Wirrsal des plötzlich sich ihnen aufdringenden Bildungsstoffes, anf
den sie nicht vorbereitet waren, und den sie sich deshalb ohne rechtes Verständnis
und Urteil aneigneten, für den sie aber trotzdem in Schwärmerei erglühten. „Binnen
wenigen Jahren war jeder anständige Russe Dilettant der Naturwissenschaften,
Atheist, Schwärmer für Frauenemanzipation, Demokrat, Sozialist und im
allgemeinen Feind der bisher in Geltung gewesenen Autoritäten geworden . . .
In Salons, Klubs und Lescvereinen wurde dieser neuesten Mode gefrvhnt und
die im Gedächtnis haftenden Phrasen von Aufklärung. Volkswillen und Volks¬
befreiung unermüdlich und in immer vollendeteren Überzeugston wiederholt."
Alle strebten mit wetteifernder Maßlosigkeit nach dem Rufe, auf der Höhe
liberalen Denkens zu stehen und in der Gesittung am weitesten fortgeschritten
zu sein. Über dem ganzen Treiben aber schwebte der Geist des „Kökökök," der
die Macht der ihm gehorsamen öffentlichen Meinung benutzte, die Politik des
Zaren zu lenken und ihn zunächst zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu drängen.
Die Zeit war dazu besonders geeignet, da die liberale Bewegung die Mehrheit
der Gutsbesitzer mit Opferwilligkeit erfüllt hatte, womit sich allerdings der An¬
spruch verband, für den durch die Befreiung der Bauern verloren gehenden poli¬
tischen Einfluß durch ein adliches Parlament entschädigt zu werden. Der Kaiser
ging darauf nicht ein und gewährte auch bei der Vorbereitung des Emanzipations¬
werkes den Adelsdclegationen nur beratende Stimme. So kam der Ukas vom
19. Februar 1861 zu stände, der die Leibeignen unter sehr vorteilhaften
Bedingungen unabhängig machte. Er begegnete jedoch allgemeiner Unzufrieden¬
heit. Die geschädigten Edelleute seufzten, Herzen und seine Gefolgschaft erklärten,
die Rechtsfrage sei unvollkommen gelöst, die Bauern erblickten in der zins¬
artigen Belastung des nun ihnen gehörigen Bodens ein schreiendes Unrecht,
und die Auseinandersetzung zwischen ihnen und den Gutsherren stieß in einigen
Provinzen sogar auf thätlichen Widerstand. Ein Reformprogramm, das die
Regierung 1862 veröffentlichte, machte, obwohl es sehr viel bot, wenig Eindruck,
zumal da der Londoner Diktator der öffentlichen Meinung unter Bakunins
Einfluß radikale Bahnen einschlug. Das russische Publikum folgte ihm dabei
aber nur noch kurze Zeit. Es wurde zunächst durch die Petersburger Feuers-
brünste vom Mai 1862, die von revolutionären Händen angelegt waren,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/546>, abgerufen am 24.05.2024.