Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

Gebiete versteigt. Die antiken Götter und Helden, schon wegen ihrer Fremd¬
artigkeit, wie wir sahen, sast verschollen, leben fast nur noch in der Bildnerei.
Aber man darf wohl zweifeln, ob diese Sirenen, Arethusen, Andromeden, Psychen,
Veneres von den Künstlern mit einem andern Interesse als dem, den weiblichen
Körper fehlerlos darzustellen, geschaffen werden. Nicht weit darüber hinaus¬
führen der gefesselte Prometheus, der verwundete Philortet, der sterbende Achilles
(von Lauer, Nachreiner, Herder). Am sinnigsten und bedeutendsten sind viel¬
leicht die zwei Gruppen von Eberlein und von M. Lock: eine Psyche, die von
Amor in den Olymp eingeführt wird, und ein Dädalos mit der Leiche des
Ikaros im Schoße. Dort ist die halb scheue, halb selige Empfindung des Menschen
gegenüber dem sich ihm erschließenden reinen Glück, hier das Gesetz, daß die
Überhebung der Menschenkraft zur Verstörung der schönsten Hoffnungen führt,
tief und ergreifend zum Ausdruck gebracht. Mit Recht aber fragt man sich:
Warum greifen Misere Künstler nicht einmal mit kühner Hand hinein in die
reiche Welt der germanischen Mythologie, der altdeutschen Sage, diese Gestalten
aus der Götterdämmerung zu neuem Leben zurückzurufen*), in denen wir Fleisch
von unserm Fleisch erkennen, in denen die deutsche Volksseele schlummert,
die unsrer Zeit in Dichtung und Forschung wieder nahe gebracht sind. Sollten
sie nicht geeigneter sein, diejenigen Ideale und diejenigen Konflikte zum plastischen
Ausdruck zu bringen, die uns bewegen, als alle Götter Griechenlands?

Noch weniger will es unsrer Kunst gelingen, in freier Erfindung idealen
Gegenständen eine Verkörperung zu schaffen, die uns nicht entweder ein Rätsel
stellt, dessen Lösung wir erst im Katalog suchen müssen, oder nur wie ein
lebendes Bild erscheint. Die Versuche sind so zahm, so mühsam, so gesucht,
daß wir ihre geringe Zahl nicht beklagen. Eine glänzende Ausnahme hiervon
macht die mit genialer Behandlung der Körperformen erfundene Gruppe von
Begas, in der der elektrische Funke versinnbildlicht ist in einem Kuß und die
Flüchtigkeit wie die elektrisirende Kraft des Funkens in der Stellung des
Liebespaares zu vortrefflichem Ausdruck gebracht ist. Aber auch hier fragen
wir billig: Wird der Künstler noch erscheinen unter dem "Volk der Denker,"
dem es gegeben sein wird, den höchsten Gedanken, den gewaltigsten seelischen
Zuständen, den mächtigsten Idealen des Menschengeistes eine zutreffende Gestalt
in Fleisch und Blut zu verleihen mit dem Tiefsinn und der Gestaltungskraft,
für die uns Michel Angelo das Ideal ist? Daß er noch nicht erschienen ist,
daß unsre Zeit nicht einmal einen Vorläufer, der sein Erscheinen verheißt,
aufzuweisen hat, daran erkennen wir, daß die Zeit noch nicht erfüllt ist. Sie
ist zu zerfahren, zu zersplittert, zu wenig vertieft, zu sehr von der Einzel-



*) Ein Glück, daß sie es nicht thun. Diese Gestalten gehören so wenig in die bildende
Kunst, wie auf die Bühne, denn sie sind zum guten Teil unplastisch, nicht wie die Gestalten
der griechischen Mythologie zum vollen Anthropomorphismus durchgedrungen, und siud daher
D. Red. nur für die Phantasie, nicht für das Auge möglich.
Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

Gebiete versteigt. Die antiken Götter und Helden, schon wegen ihrer Fremd¬
artigkeit, wie wir sahen, sast verschollen, leben fast nur noch in der Bildnerei.
Aber man darf wohl zweifeln, ob diese Sirenen, Arethusen, Andromeden, Psychen,
Veneres von den Künstlern mit einem andern Interesse als dem, den weiblichen
Körper fehlerlos darzustellen, geschaffen werden. Nicht weit darüber hinaus¬
führen der gefesselte Prometheus, der verwundete Philortet, der sterbende Achilles
(von Lauer, Nachreiner, Herder). Am sinnigsten und bedeutendsten sind viel¬
leicht die zwei Gruppen von Eberlein und von M. Lock: eine Psyche, die von
Amor in den Olymp eingeführt wird, und ein Dädalos mit der Leiche des
Ikaros im Schoße. Dort ist die halb scheue, halb selige Empfindung des Menschen
gegenüber dem sich ihm erschließenden reinen Glück, hier das Gesetz, daß die
Überhebung der Menschenkraft zur Verstörung der schönsten Hoffnungen führt,
tief und ergreifend zum Ausdruck gebracht. Mit Recht aber fragt man sich:
Warum greifen Misere Künstler nicht einmal mit kühner Hand hinein in die
reiche Welt der germanischen Mythologie, der altdeutschen Sage, diese Gestalten
aus der Götterdämmerung zu neuem Leben zurückzurufen*), in denen wir Fleisch
von unserm Fleisch erkennen, in denen die deutsche Volksseele schlummert,
die unsrer Zeit in Dichtung und Forschung wieder nahe gebracht sind. Sollten
sie nicht geeigneter sein, diejenigen Ideale und diejenigen Konflikte zum plastischen
Ausdruck zu bringen, die uns bewegen, als alle Götter Griechenlands?

Noch weniger will es unsrer Kunst gelingen, in freier Erfindung idealen
Gegenständen eine Verkörperung zu schaffen, die uns nicht entweder ein Rätsel
stellt, dessen Lösung wir erst im Katalog suchen müssen, oder nur wie ein
lebendes Bild erscheint. Die Versuche sind so zahm, so mühsam, so gesucht,
daß wir ihre geringe Zahl nicht beklagen. Eine glänzende Ausnahme hiervon
macht die mit genialer Behandlung der Körperformen erfundene Gruppe von
Begas, in der der elektrische Funke versinnbildlicht ist in einem Kuß und die
Flüchtigkeit wie die elektrisirende Kraft des Funkens in der Stellung des
Liebespaares zu vortrefflichem Ausdruck gebracht ist. Aber auch hier fragen
wir billig: Wird der Künstler noch erscheinen unter dem „Volk der Denker,"
dem es gegeben sein wird, den höchsten Gedanken, den gewaltigsten seelischen
Zuständen, den mächtigsten Idealen des Menschengeistes eine zutreffende Gestalt
in Fleisch und Blut zu verleihen mit dem Tiefsinn und der Gestaltungskraft,
für die uns Michel Angelo das Ideal ist? Daß er noch nicht erschienen ist,
daß unsre Zeit nicht einmal einen Vorläufer, der sein Erscheinen verheißt,
aufzuweisen hat, daran erkennen wir, daß die Zeit noch nicht erfüllt ist. Sie
ist zu zerfahren, zu zersplittert, zu wenig vertieft, zu sehr von der Einzel-



*) Ein Glück, daß sie es nicht thun. Diese Gestalten gehören so wenig in die bildende
Kunst, wie auf die Bühne, denn sie sind zum guten Teil unplastisch, nicht wie die Gestalten
der griechischen Mythologie zum vollen Anthropomorphismus durchgedrungen, und siud daher
D. Red. nur für die Phantasie, nicht für das Auge möglich.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0572" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204007"/>
          <fw type="header" place="top"> Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1465" prev="#ID_1464"> Gebiete versteigt. Die antiken Götter und Helden, schon wegen ihrer Fremd¬<lb/>
artigkeit, wie wir sahen, sast verschollen, leben fast nur noch in der Bildnerei.<lb/>
Aber man darf wohl zweifeln, ob diese Sirenen, Arethusen, Andromeden, Psychen,<lb/>
Veneres von den Künstlern mit einem andern Interesse als dem, den weiblichen<lb/>
Körper fehlerlos darzustellen, geschaffen werden. Nicht weit darüber hinaus¬<lb/>
führen der gefesselte Prometheus, der verwundete Philortet, der sterbende Achilles<lb/>
(von Lauer, Nachreiner, Herder). Am sinnigsten und bedeutendsten sind viel¬<lb/>
leicht die zwei Gruppen von Eberlein und von M. Lock: eine Psyche, die von<lb/>
Amor in den Olymp eingeführt wird, und ein Dädalos mit der Leiche des<lb/>
Ikaros im Schoße. Dort ist die halb scheue, halb selige Empfindung des Menschen<lb/>
gegenüber dem sich ihm erschließenden reinen Glück, hier das Gesetz, daß die<lb/>
Überhebung der Menschenkraft zur Verstörung der schönsten Hoffnungen führt,<lb/>
tief und ergreifend zum Ausdruck gebracht. Mit Recht aber fragt man sich:<lb/>
Warum greifen Misere Künstler nicht einmal mit kühner Hand hinein in die<lb/>
reiche Welt der germanischen Mythologie, der altdeutschen Sage, diese Gestalten<lb/>
aus der Götterdämmerung zu neuem Leben zurückzurufen*), in denen wir Fleisch<lb/>
von unserm Fleisch erkennen, in denen die deutsche Volksseele schlummert,<lb/>
die unsrer Zeit in Dichtung und Forschung wieder nahe gebracht sind. Sollten<lb/>
sie nicht geeigneter sein, diejenigen Ideale und diejenigen Konflikte zum plastischen<lb/>
Ausdruck zu bringen, die uns bewegen, als alle Götter Griechenlands?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1466" next="#ID_1467"> Noch weniger will es unsrer Kunst gelingen, in freier Erfindung idealen<lb/>
Gegenständen eine Verkörperung zu schaffen, die uns nicht entweder ein Rätsel<lb/>
stellt, dessen Lösung wir erst im Katalog suchen müssen, oder nur wie ein<lb/>
lebendes Bild erscheint. Die Versuche sind so zahm, so mühsam, so gesucht,<lb/>
daß wir ihre geringe Zahl nicht beklagen. Eine glänzende Ausnahme hiervon<lb/>
macht die mit genialer Behandlung der Körperformen erfundene Gruppe von<lb/>
Begas, in der der elektrische Funke versinnbildlicht ist in einem Kuß und die<lb/>
Flüchtigkeit wie die elektrisirende Kraft des Funkens in der Stellung des<lb/>
Liebespaares zu vortrefflichem Ausdruck gebracht ist. Aber auch hier fragen<lb/>
wir billig: Wird der Künstler noch erscheinen unter dem &#x201E;Volk der Denker,"<lb/>
dem es gegeben sein wird, den höchsten Gedanken, den gewaltigsten seelischen<lb/>
Zuständen, den mächtigsten Idealen des Menschengeistes eine zutreffende Gestalt<lb/>
in Fleisch und Blut zu verleihen mit dem Tiefsinn und der Gestaltungskraft,<lb/>
für die uns Michel Angelo das Ideal ist? Daß er noch nicht erschienen ist,<lb/>
daß unsre Zeit nicht einmal einen Vorläufer, der sein Erscheinen verheißt,<lb/>
aufzuweisen hat, daran erkennen wir, daß die Zeit noch nicht erfüllt ist. Sie<lb/>
ist zu zerfahren, zu zersplittert, zu wenig vertieft, zu sehr von der Einzel-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_47" place="foot"> *) Ein Glück, daß sie es nicht thun. Diese Gestalten gehören so wenig in die bildende<lb/>
Kunst, wie auf die Bühne, denn sie sind zum guten Teil unplastisch, nicht wie die Gestalten<lb/>
der griechischen Mythologie zum vollen Anthropomorphismus durchgedrungen, und siud daher<lb/><note type="byline"> D. Red.</note> nur für die Phantasie, nicht für das Auge möglich. </note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0572] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst. Gebiete versteigt. Die antiken Götter und Helden, schon wegen ihrer Fremd¬ artigkeit, wie wir sahen, sast verschollen, leben fast nur noch in der Bildnerei. Aber man darf wohl zweifeln, ob diese Sirenen, Arethusen, Andromeden, Psychen, Veneres von den Künstlern mit einem andern Interesse als dem, den weiblichen Körper fehlerlos darzustellen, geschaffen werden. Nicht weit darüber hinaus¬ führen der gefesselte Prometheus, der verwundete Philortet, der sterbende Achilles (von Lauer, Nachreiner, Herder). Am sinnigsten und bedeutendsten sind viel¬ leicht die zwei Gruppen von Eberlein und von M. Lock: eine Psyche, die von Amor in den Olymp eingeführt wird, und ein Dädalos mit der Leiche des Ikaros im Schoße. Dort ist die halb scheue, halb selige Empfindung des Menschen gegenüber dem sich ihm erschließenden reinen Glück, hier das Gesetz, daß die Überhebung der Menschenkraft zur Verstörung der schönsten Hoffnungen führt, tief und ergreifend zum Ausdruck gebracht. Mit Recht aber fragt man sich: Warum greifen Misere Künstler nicht einmal mit kühner Hand hinein in die reiche Welt der germanischen Mythologie, der altdeutschen Sage, diese Gestalten aus der Götterdämmerung zu neuem Leben zurückzurufen*), in denen wir Fleisch von unserm Fleisch erkennen, in denen die deutsche Volksseele schlummert, die unsrer Zeit in Dichtung und Forschung wieder nahe gebracht sind. Sollten sie nicht geeigneter sein, diejenigen Ideale und diejenigen Konflikte zum plastischen Ausdruck zu bringen, die uns bewegen, als alle Götter Griechenlands? Noch weniger will es unsrer Kunst gelingen, in freier Erfindung idealen Gegenständen eine Verkörperung zu schaffen, die uns nicht entweder ein Rätsel stellt, dessen Lösung wir erst im Katalog suchen müssen, oder nur wie ein lebendes Bild erscheint. Die Versuche sind so zahm, so mühsam, so gesucht, daß wir ihre geringe Zahl nicht beklagen. Eine glänzende Ausnahme hiervon macht die mit genialer Behandlung der Körperformen erfundene Gruppe von Begas, in der der elektrische Funke versinnbildlicht ist in einem Kuß und die Flüchtigkeit wie die elektrisirende Kraft des Funkens in der Stellung des Liebespaares zu vortrefflichem Ausdruck gebracht ist. Aber auch hier fragen wir billig: Wird der Künstler noch erscheinen unter dem „Volk der Denker," dem es gegeben sein wird, den höchsten Gedanken, den gewaltigsten seelischen Zuständen, den mächtigsten Idealen des Menschengeistes eine zutreffende Gestalt in Fleisch und Blut zu verleihen mit dem Tiefsinn und der Gestaltungskraft, für die uns Michel Angelo das Ideal ist? Daß er noch nicht erschienen ist, daß unsre Zeit nicht einmal einen Vorläufer, der sein Erscheinen verheißt, aufzuweisen hat, daran erkennen wir, daß die Zeit noch nicht erfüllt ist. Sie ist zu zerfahren, zu zersplittert, zu wenig vertieft, zu sehr von der Einzel- *) Ein Glück, daß sie es nicht thun. Diese Gestalten gehören so wenig in die bildende Kunst, wie auf die Bühne, denn sie sind zum guten Teil unplastisch, nicht wie die Gestalten der griechischen Mythologie zum vollen Anthropomorphismus durchgedrungen, und siud daher D. Red. nur für die Phantasie, nicht für das Auge möglich.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/572
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/572>, abgerufen am 16.06.2024.