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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erzieher.

eine Pflanze, die ihre besondre Natur und Gestalt mitbringt und von ihm nur
als von einem Gärtner gepflegt, groß gezogen und zu ihrer höchst möglichen
Vollkommenheit gebracht werden kann. Er verzichtet auf das Experiment, auf
einem wilden Apfelbaume einen Pfirsich wachsen zu lassen, schon zufrieden, wenn
er sieht, daß die Früchte dieses Baumes reif und süß werden, und drückt dies
in der Sprache des bürgerliche" Idylls "Hermann und Dorothea" so aus:


Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen;
So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.
Denn der eine hat die, die andern andre Gaben;
Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigne Weise
Gut und glücklich.

Der ruhige Gang, den die Pflanze zur dauernden oder vorübergehenden Vollen¬
dung nimmt, ohne gewaltsame Eingriffe zu vertragen, entspricht der Entwicklung
des Menschen, von dem man alles erhalten kann, wenn man ihn nach seiner
Art behandelt. Nötig ist dazu: ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz und
die Fähigkeit, in jeder Stunde das Nichtige zu thun. Diese Eigenschaften des
guten Gärtners, die auch den guten Erzieher ausmachen, besaß Goethe im
höchsten Maße" (S. 204). An Fritz von Stein leistete er sein Pädagogisches
Meisterstück, die Geschichte desselben kann vorbildlich für alle Erzieher sein.
Objektiv zu machen, alle Sinne des jungen Mensche" nach außen zu lenken,
für die klare Erfassung der Dinge zu befähigen und zu bilden: das war einer
der wichtigsten Grundsätze des Erziehers Goethe, der selbst ein so glückliches,
gesundes, für die ganze Mannichfaltigkeit der Welt empfängliches Naturell hatte.
Darum legte er auch so viel Gewicht auf das Zeichnen. Er nannte die Malerei
die ethischste Kunst. Das Zeichnen zwingt zur beobachtenden Aufmerksamkeit und
zur Zurückhaltung im Urteilen. Goethe nahm seinen Fritz in den zwei Jahren, wo
er ihn ganz bei sich behielt, auf allen Wegen mit. Im Spazierengehen lenkte
er seine Aufmerksamkeit auf Pflanzen und Mineralien, und allmählich führte er
ihn auch hinüber auf das soziale Gebiet. Er schickte ihn gern in fremde Ge¬
sellschaft, damit er sich dort an den konventionellen Zwang gewöhne und sich
betragen lerne. Er ließ den zehnjährigen Knaben seine eignen Wirtschaftsbücher
führen, um ihn im Rechnen zu üben. Er lernte gemeinsam mit ihm Algebra,
um durch die Gleichstellung mit dem Schüler diesen zum Wetteifer anzuspornen.
Er hob ihn überhaupt zu sich durch das Vertrauen empor, mit dem er ihm in
seine eigne Thätigkeit Einblick gewährte; damit beförderte er die Selbständigkeit
seines Urteils, die Reife seines Charakters. Er war von der größten Gelassen¬
heit, er übte das pädagogische Meisterstück, den Zögling an Fäden zu leiten,
die diesem unsichtbar blieben; er übte die Kunst, nicht unmittelbar den Charakter
zu bestimmen, sondern die Verhältnisse, in denen dieser sich bewegen mußte.
Sogar in Italien dachte er an seinen Zögling, und die Briefe, die er von dort


Goethe als Erzieher.

eine Pflanze, die ihre besondre Natur und Gestalt mitbringt und von ihm nur
als von einem Gärtner gepflegt, groß gezogen und zu ihrer höchst möglichen
Vollkommenheit gebracht werden kann. Er verzichtet auf das Experiment, auf
einem wilden Apfelbaume einen Pfirsich wachsen zu lassen, schon zufrieden, wenn
er sieht, daß die Früchte dieses Baumes reif und süß werden, und drückt dies
in der Sprache des bürgerliche« Idylls »Hermann und Dorothea« so aus:


Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen;
So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.
Denn der eine hat die, die andern andre Gaben;
Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigne Weise
Gut und glücklich.

Der ruhige Gang, den die Pflanze zur dauernden oder vorübergehenden Vollen¬
dung nimmt, ohne gewaltsame Eingriffe zu vertragen, entspricht der Entwicklung
des Menschen, von dem man alles erhalten kann, wenn man ihn nach seiner
Art behandelt. Nötig ist dazu: ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz und
die Fähigkeit, in jeder Stunde das Nichtige zu thun. Diese Eigenschaften des
guten Gärtners, die auch den guten Erzieher ausmachen, besaß Goethe im
höchsten Maße" (S. 204). An Fritz von Stein leistete er sein Pädagogisches
Meisterstück, die Geschichte desselben kann vorbildlich für alle Erzieher sein.
Objektiv zu machen, alle Sinne des jungen Mensche» nach außen zu lenken,
für die klare Erfassung der Dinge zu befähigen und zu bilden: das war einer
der wichtigsten Grundsätze des Erziehers Goethe, der selbst ein so glückliches,
gesundes, für die ganze Mannichfaltigkeit der Welt empfängliches Naturell hatte.
Darum legte er auch so viel Gewicht auf das Zeichnen. Er nannte die Malerei
die ethischste Kunst. Das Zeichnen zwingt zur beobachtenden Aufmerksamkeit und
zur Zurückhaltung im Urteilen. Goethe nahm seinen Fritz in den zwei Jahren, wo
er ihn ganz bei sich behielt, auf allen Wegen mit. Im Spazierengehen lenkte
er seine Aufmerksamkeit auf Pflanzen und Mineralien, und allmählich führte er
ihn auch hinüber auf das soziale Gebiet. Er schickte ihn gern in fremde Ge¬
sellschaft, damit er sich dort an den konventionellen Zwang gewöhne und sich
betragen lerne. Er ließ den zehnjährigen Knaben seine eignen Wirtschaftsbücher
führen, um ihn im Rechnen zu üben. Er lernte gemeinsam mit ihm Algebra,
um durch die Gleichstellung mit dem Schüler diesen zum Wetteifer anzuspornen.
Er hob ihn überhaupt zu sich durch das Vertrauen empor, mit dem er ihm in
seine eigne Thätigkeit Einblick gewährte; damit beförderte er die Selbständigkeit
seines Urteils, die Reife seines Charakters. Er war von der größten Gelassen¬
heit, er übte das pädagogische Meisterstück, den Zögling an Fäden zu leiten,
die diesem unsichtbar blieben; er übte die Kunst, nicht unmittelbar den Charakter
zu bestimmen, sondern die Verhältnisse, in denen dieser sich bewegen mußte.
Sogar in Italien dachte er an seinen Zögling, und die Briefe, die er von dort


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[0174] Goethe als Erzieher. eine Pflanze, die ihre besondre Natur und Gestalt mitbringt und von ihm nur als von einem Gärtner gepflegt, groß gezogen und zu ihrer höchst möglichen Vollkommenheit gebracht werden kann. Er verzichtet auf das Experiment, auf einem wilden Apfelbaume einen Pfirsich wachsen zu lassen, schon zufrieden, wenn er sieht, daß die Früchte dieses Baumes reif und süß werden, und drückt dies in der Sprache des bürgerliche« Idylls »Hermann und Dorothea« so aus: Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen; So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren. Denn der eine hat die, die andern andre Gaben; Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigne Weise Gut und glücklich. Der ruhige Gang, den die Pflanze zur dauernden oder vorübergehenden Vollen¬ dung nimmt, ohne gewaltsame Eingriffe zu vertragen, entspricht der Entwicklung des Menschen, von dem man alles erhalten kann, wenn man ihn nach seiner Art behandelt. Nötig ist dazu: ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz und die Fähigkeit, in jeder Stunde das Nichtige zu thun. Diese Eigenschaften des guten Gärtners, die auch den guten Erzieher ausmachen, besaß Goethe im höchsten Maße" (S. 204). An Fritz von Stein leistete er sein Pädagogisches Meisterstück, die Geschichte desselben kann vorbildlich für alle Erzieher sein. Objektiv zu machen, alle Sinne des jungen Mensche» nach außen zu lenken, für die klare Erfassung der Dinge zu befähigen und zu bilden: das war einer der wichtigsten Grundsätze des Erziehers Goethe, der selbst ein so glückliches, gesundes, für die ganze Mannichfaltigkeit der Welt empfängliches Naturell hatte. Darum legte er auch so viel Gewicht auf das Zeichnen. Er nannte die Malerei die ethischste Kunst. Das Zeichnen zwingt zur beobachtenden Aufmerksamkeit und zur Zurückhaltung im Urteilen. Goethe nahm seinen Fritz in den zwei Jahren, wo er ihn ganz bei sich behielt, auf allen Wegen mit. Im Spazierengehen lenkte er seine Aufmerksamkeit auf Pflanzen und Mineralien, und allmählich führte er ihn auch hinüber auf das soziale Gebiet. Er schickte ihn gern in fremde Ge¬ sellschaft, damit er sich dort an den konventionellen Zwang gewöhne und sich betragen lerne. Er ließ den zehnjährigen Knaben seine eignen Wirtschaftsbücher führen, um ihn im Rechnen zu üben. Er lernte gemeinsam mit ihm Algebra, um durch die Gleichstellung mit dem Schüler diesen zum Wetteifer anzuspornen. Er hob ihn überhaupt zu sich durch das Vertrauen empor, mit dem er ihm in seine eigne Thätigkeit Einblick gewährte; damit beförderte er die Selbständigkeit seines Urteils, die Reife seines Charakters. Er war von der größten Gelassen¬ heit, er übte das pädagogische Meisterstück, den Zögling an Fäden zu leiten, die diesem unsichtbar blieben; er übte die Kunst, nicht unmittelbar den Charakter zu bestimmen, sondern die Verhältnisse, in denen dieser sich bewegen mußte. Sogar in Italien dachte er an seinen Zögling, und die Briefe, die er von dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/174>, abgerufen am 16.06.2024.