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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Neue Romane.

dem geschichtlichen geben, der die Phantasie des Lesers nur häufig genug in
eine gleichgiltige Vergangenheit abseits lenkte. Denn nichts thut mehr not, als
den Zeitgenossen zu einem klaren und reichen Bewußtsein ihrer eignen Zeit zu
verhelfen. Die Eigentümlichkeit dieser Zeit, ihre Entstehungsgeschichte, ihre ganz
eignen Aufgaben, ihr Beruf, ihre Fehler und ihre Tugenden, ihre Pflichten
und ihre Rechte werden doch nur von den wenigen Menschen erkannt, die sich
den Geist frei erhalten können von dem kleinen Getriebe des Alltagslebens, die
den Kopf hoch in die Zukunft blickend erheben, während die Millionen um und
mit ihnen den Blick beschränkt haben im Kampfe ums Dasein oder im Kampfe
der kleinen Partei, der sie zufällig angehören. Die reine Dichtkunst liebt aller¬
dings abgeschlossene Zeiten, geklärte Verhältnisse, wie sie sich künstlerisch nur
um die Gestaltung der Charaktere bemühen kann; aber der Roman ist eben
nicht reine Kunst, und darum erwirbt er sich ein volkserziehendes Verdienst,
wenn er die Bildungsbedürfnisse der Nation in fruchtbarer Weise befriedigt.
Auch ist er wahrhaft schöpferisch nur dann, wenn er ohne die vermittelnde Über¬
lieferung eines Geschichtschreibers unmittelbar zu einer bestimmten Zeit ein
Verhältnis gewinnt.

In den zwei Romanen, die Hans Blum in dem kurzen Zwischenraume
von kaum einem Jahre veröffentlicht hat,*) scheint er selbst diese Umwandlung
des Zeitgeschmackes durchgemacht zu haben. Die Äbtissin von Säckingen
ist ein geschichtlicher Roman, dessen Handlung in die für die Geschichte der
Reformation so bedeutsamen Jahre 1523 bis 1531 fällt; das neuere Werk,
Staatlos, führt uns in die von uns miterlebte Zeit von 1866 bis 1871.
Und wie die Wahl des zweiten Stoffes glücklicher war, so ist auch die jüngere
Erzählung vom Standpunkte des Unterhaltung suchenden Lesers zweifellos die
bessere.

Auch Blum ist sich nicht über den Unterschied zwischen Geschichtschreibung
und Dichtkunst klar geworden, auch bei ihm gehen die Grenzen von Wissenschaft
und Kunst verschwommen in einander über und stehen sich mit ihren Inter¬
essen im Wege. Blum ist von Hause aus überhaupt nicht dichterisch angelegt,
er ist vielmehr ein phantasievoller und eben deshalb vorzüglicher Kulturhistoriker.
Er hat einen lebhaften politischen Sinn, ja politische Leidenschaft und vor
allem eine nicht gewöhnliche geschichtliche Gelehrsamkeit. Dem Dichter Blum
aber ist die Wissenschaft über den Kopf gewachsen; im zweiten Bande der
"Äbtissin" fordert er von dem harmlosen Nomanleser eine Aufmerksamkeit für
kleine, nebensächliche Vorgänge, die nur der lokale Chronikenschreiber erwarten
darf. Der Künstler strebt darnach, aus der Fülle der Erscheinungen die großen
maßgebenden Züge und Persönlichkeiten herauszugreifen, und geht gern und mit



Die Äbtissin von Säckingen. Roman aus der Reformationszeit von Hans
Blum. Zwei Bände. Jena, Costenoble, 1887. -- Staatlvs. Eine lustige Zeitgeschichte
auf ernstem Hintergrunde von Hans Blum. Jena, Costenoble, 1388.
Grenzboten III. 1333. 23
Neue Romane.

dem geschichtlichen geben, der die Phantasie des Lesers nur häufig genug in
eine gleichgiltige Vergangenheit abseits lenkte. Denn nichts thut mehr not, als
den Zeitgenossen zu einem klaren und reichen Bewußtsein ihrer eignen Zeit zu
verhelfen. Die Eigentümlichkeit dieser Zeit, ihre Entstehungsgeschichte, ihre ganz
eignen Aufgaben, ihr Beruf, ihre Fehler und ihre Tugenden, ihre Pflichten
und ihre Rechte werden doch nur von den wenigen Menschen erkannt, die sich
den Geist frei erhalten können von dem kleinen Getriebe des Alltagslebens, die
den Kopf hoch in die Zukunft blickend erheben, während die Millionen um und
mit ihnen den Blick beschränkt haben im Kampfe ums Dasein oder im Kampfe
der kleinen Partei, der sie zufällig angehören. Die reine Dichtkunst liebt aller¬
dings abgeschlossene Zeiten, geklärte Verhältnisse, wie sie sich künstlerisch nur
um die Gestaltung der Charaktere bemühen kann; aber der Roman ist eben
nicht reine Kunst, und darum erwirbt er sich ein volkserziehendes Verdienst,
wenn er die Bildungsbedürfnisse der Nation in fruchtbarer Weise befriedigt.
Auch ist er wahrhaft schöpferisch nur dann, wenn er ohne die vermittelnde Über¬
lieferung eines Geschichtschreibers unmittelbar zu einer bestimmten Zeit ein
Verhältnis gewinnt.

In den zwei Romanen, die Hans Blum in dem kurzen Zwischenraume
von kaum einem Jahre veröffentlicht hat,*) scheint er selbst diese Umwandlung
des Zeitgeschmackes durchgemacht zu haben. Die Äbtissin von Säckingen
ist ein geschichtlicher Roman, dessen Handlung in die für die Geschichte der
Reformation so bedeutsamen Jahre 1523 bis 1531 fällt; das neuere Werk,
Staatlos, führt uns in die von uns miterlebte Zeit von 1866 bis 1871.
Und wie die Wahl des zweiten Stoffes glücklicher war, so ist auch die jüngere
Erzählung vom Standpunkte des Unterhaltung suchenden Lesers zweifellos die
bessere.

Auch Blum ist sich nicht über den Unterschied zwischen Geschichtschreibung
und Dichtkunst klar geworden, auch bei ihm gehen die Grenzen von Wissenschaft
und Kunst verschwommen in einander über und stehen sich mit ihren Inter¬
essen im Wege. Blum ist von Hause aus überhaupt nicht dichterisch angelegt,
er ist vielmehr ein phantasievoller und eben deshalb vorzüglicher Kulturhistoriker.
Er hat einen lebhaften politischen Sinn, ja politische Leidenschaft und vor
allem eine nicht gewöhnliche geschichtliche Gelehrsamkeit. Dem Dichter Blum
aber ist die Wissenschaft über den Kopf gewachsen; im zweiten Bande der
„Äbtissin" fordert er von dem harmlosen Nomanleser eine Aufmerksamkeit für
kleine, nebensächliche Vorgänge, die nur der lokale Chronikenschreiber erwarten
darf. Der Künstler strebt darnach, aus der Fülle der Erscheinungen die großen
maßgebenden Züge und Persönlichkeiten herauszugreifen, und geht gern und mit



Die Äbtissin von Säckingen. Roman aus der Reformationszeit von Hans
Blum. Zwei Bände. Jena, Costenoble, 1887. — Staatlvs. Eine lustige Zeitgeschichte
auf ernstem Hintergrunde von Hans Blum. Jena, Costenoble, 1388.
Grenzboten III. 1333. 23
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[0225] Neue Romane. dem geschichtlichen geben, der die Phantasie des Lesers nur häufig genug in eine gleichgiltige Vergangenheit abseits lenkte. Denn nichts thut mehr not, als den Zeitgenossen zu einem klaren und reichen Bewußtsein ihrer eignen Zeit zu verhelfen. Die Eigentümlichkeit dieser Zeit, ihre Entstehungsgeschichte, ihre ganz eignen Aufgaben, ihr Beruf, ihre Fehler und ihre Tugenden, ihre Pflichten und ihre Rechte werden doch nur von den wenigen Menschen erkannt, die sich den Geist frei erhalten können von dem kleinen Getriebe des Alltagslebens, die den Kopf hoch in die Zukunft blickend erheben, während die Millionen um und mit ihnen den Blick beschränkt haben im Kampfe ums Dasein oder im Kampfe der kleinen Partei, der sie zufällig angehören. Die reine Dichtkunst liebt aller¬ dings abgeschlossene Zeiten, geklärte Verhältnisse, wie sie sich künstlerisch nur um die Gestaltung der Charaktere bemühen kann; aber der Roman ist eben nicht reine Kunst, und darum erwirbt er sich ein volkserziehendes Verdienst, wenn er die Bildungsbedürfnisse der Nation in fruchtbarer Weise befriedigt. Auch ist er wahrhaft schöpferisch nur dann, wenn er ohne die vermittelnde Über¬ lieferung eines Geschichtschreibers unmittelbar zu einer bestimmten Zeit ein Verhältnis gewinnt. In den zwei Romanen, die Hans Blum in dem kurzen Zwischenraume von kaum einem Jahre veröffentlicht hat,*) scheint er selbst diese Umwandlung des Zeitgeschmackes durchgemacht zu haben. Die Äbtissin von Säckingen ist ein geschichtlicher Roman, dessen Handlung in die für die Geschichte der Reformation so bedeutsamen Jahre 1523 bis 1531 fällt; das neuere Werk, Staatlos, führt uns in die von uns miterlebte Zeit von 1866 bis 1871. Und wie die Wahl des zweiten Stoffes glücklicher war, so ist auch die jüngere Erzählung vom Standpunkte des Unterhaltung suchenden Lesers zweifellos die bessere. Auch Blum ist sich nicht über den Unterschied zwischen Geschichtschreibung und Dichtkunst klar geworden, auch bei ihm gehen die Grenzen von Wissenschaft und Kunst verschwommen in einander über und stehen sich mit ihren Inter¬ essen im Wege. Blum ist von Hause aus überhaupt nicht dichterisch angelegt, er ist vielmehr ein phantasievoller und eben deshalb vorzüglicher Kulturhistoriker. Er hat einen lebhaften politischen Sinn, ja politische Leidenschaft und vor allem eine nicht gewöhnliche geschichtliche Gelehrsamkeit. Dem Dichter Blum aber ist die Wissenschaft über den Kopf gewachsen; im zweiten Bande der „Äbtissin" fordert er von dem harmlosen Nomanleser eine Aufmerksamkeit für kleine, nebensächliche Vorgänge, die nur der lokale Chronikenschreiber erwarten darf. Der Künstler strebt darnach, aus der Fülle der Erscheinungen die großen maßgebenden Züge und Persönlichkeiten herauszugreifen, und geht gern und mit Die Äbtissin von Säckingen. Roman aus der Reformationszeit von Hans Blum. Zwei Bände. Jena, Costenoble, 1887. — Staatlvs. Eine lustige Zeitgeschichte auf ernstem Hintergrunde von Hans Blum. Jena, Costenoble, 1388. Grenzboten III. 1333. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/225>, abgerufen am 24.05.2024.