Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Romane.

Recht so weit, sie ganz von dem Hintergrunde zu trennen, den Hintergrund
eben nur, soweit er zum Verständnis nötig ist, anzudeuten; dem Künstler ist
es um eine klare Übersicht, um ein schönes, in die Augen fallendes, unmittelbar
erfaßbares Bild zu thun; in der Geschichte forscht er nach den Gesetzen der
Perspektive nicht minder wie in der Landschaft, und die im Vordergrunde
stehende Einzelpersönlichkeit führt er mit liebevollem Eingehen in ihren Cha¬
rakter aus. Denn am Ende arbeitet alle Kunst mit der typischen Individualität,
mit dem kraftvollen, großartigen Charakter, in welchem sich viele Bestrebungen
zerstreuter historischer Persönlichkeiten symbolisch für die ganze Zeit, der sie an¬
gehören, vereinigen. Der Kulturhistoriker aber mit seinem wissenschaftlichen
Respekt vor der positiven, archivalisch festgestellten, urkundlich beweisbaren Wahr¬
heit verliert jenen künstlerischen Standpunkt; auch Blum hat ihn verloren, und
dies scheint uns der wichtigste Fehler seiner an Geist und Studien übrigens
reichen "Äbtissin von Säckingen" zu sein.

Die Äbtissin von Säckingen ist das Fräulein Magdalin von Hausen in
dem adlichen Damenstifte zu Säckingen. Sie hat die zündenden Predigten
Eberlins in Waldshut und in Säckingen selbst gehört und ist von der Wahrheit
und Größe dieser gereinigten evangelischen Lehre tief ergriffen worden. Der
Junker Gerold von Harpolingen, ein Freund Ulrichs von Hütten und Zwinglis,
hat ihr die Schriften Luthers, namentlich dessen Bibelübersetzung, und auch die
Schriften der andern Schöpfer und Führer der Reformation heimlich zugetragen,
denn er liebt das schöne Stiftsfräulein, und sie liebt ihn. Magdalin hat
sich in ihrer einsamen Zelle erfüllt mit der neuen Lehre, und als Eberlin den
Kabalen der Altgläubigen aus der Säckinger Gegend weichen muß, tritt das
Stiftsfräulein selbst auf den Markt vor das Volk, ihm das wahre Evangelium
zu verkünden. Als die alte Äbtissin stirbt, wird Magdalin zu ihrer Nach¬
folgerin gewählt, und nun faßt sie den Entschluß, das Stift zu reformiren, mit
ihm auch die ganze umliegende Gegend und wohl auch schließlich als Äbtissin
Gerold zu heiraten. Denn die Ehelosigkeit der Stiftsdamen ist niemals ge¬
setzliche Bedingung ihrer Würde gewesen; vielmehr haben schon viele Säckinger
Stiftsfräulein diese Würde mit der einer ehrenwerten deutschen Hausfrau ver¬
tauscht; nur eine alte Gewohnheit, aber kein geschriebenes Gesetz besteht, daß
die Äbtissin als solche unvermählt zu bleiben pflegt, wenn auch die zügellosen
Sitten des mittelalterlichen Klerus den hohen Frauen ihren Cölibat nicht
gerade schwer erträglich machen. Gegen den Plan Magdalins erheben sich
aber auch politische Mächte, denn das Säckinger Stift ist sehr reich und übt
großen Einfluß auf seine Umgegend aus. Daher leisten die Katholiken unter
Führung des Erzherzogs Ferdinand von Österreich Widerstand. In dem
Kampfe unterliegen die Evangelischen. Gerold hat sich heimlich mit der
jungen Äbtissin vermählen lassen, Zwingli selbst hat den Trauungsakt voll¬
zogen. Harpolingen wird belagert, Gerold muß sich auf Gnade und Un-


Neue Romane.

Recht so weit, sie ganz von dem Hintergrunde zu trennen, den Hintergrund
eben nur, soweit er zum Verständnis nötig ist, anzudeuten; dem Künstler ist
es um eine klare Übersicht, um ein schönes, in die Augen fallendes, unmittelbar
erfaßbares Bild zu thun; in der Geschichte forscht er nach den Gesetzen der
Perspektive nicht minder wie in der Landschaft, und die im Vordergrunde
stehende Einzelpersönlichkeit führt er mit liebevollem Eingehen in ihren Cha¬
rakter aus. Denn am Ende arbeitet alle Kunst mit der typischen Individualität,
mit dem kraftvollen, großartigen Charakter, in welchem sich viele Bestrebungen
zerstreuter historischer Persönlichkeiten symbolisch für die ganze Zeit, der sie an¬
gehören, vereinigen. Der Kulturhistoriker aber mit seinem wissenschaftlichen
Respekt vor der positiven, archivalisch festgestellten, urkundlich beweisbaren Wahr¬
heit verliert jenen künstlerischen Standpunkt; auch Blum hat ihn verloren, und
dies scheint uns der wichtigste Fehler seiner an Geist und Studien übrigens
reichen „Äbtissin von Säckingen" zu sein.

Die Äbtissin von Säckingen ist das Fräulein Magdalin von Hausen in
dem adlichen Damenstifte zu Säckingen. Sie hat die zündenden Predigten
Eberlins in Waldshut und in Säckingen selbst gehört und ist von der Wahrheit
und Größe dieser gereinigten evangelischen Lehre tief ergriffen worden. Der
Junker Gerold von Harpolingen, ein Freund Ulrichs von Hütten und Zwinglis,
hat ihr die Schriften Luthers, namentlich dessen Bibelübersetzung, und auch die
Schriften der andern Schöpfer und Führer der Reformation heimlich zugetragen,
denn er liebt das schöne Stiftsfräulein, und sie liebt ihn. Magdalin hat
sich in ihrer einsamen Zelle erfüllt mit der neuen Lehre, und als Eberlin den
Kabalen der Altgläubigen aus der Säckinger Gegend weichen muß, tritt das
Stiftsfräulein selbst auf den Markt vor das Volk, ihm das wahre Evangelium
zu verkünden. Als die alte Äbtissin stirbt, wird Magdalin zu ihrer Nach¬
folgerin gewählt, und nun faßt sie den Entschluß, das Stift zu reformiren, mit
ihm auch die ganze umliegende Gegend und wohl auch schließlich als Äbtissin
Gerold zu heiraten. Denn die Ehelosigkeit der Stiftsdamen ist niemals ge¬
setzliche Bedingung ihrer Würde gewesen; vielmehr haben schon viele Säckinger
Stiftsfräulein diese Würde mit der einer ehrenwerten deutschen Hausfrau ver¬
tauscht; nur eine alte Gewohnheit, aber kein geschriebenes Gesetz besteht, daß
die Äbtissin als solche unvermählt zu bleiben pflegt, wenn auch die zügellosen
Sitten des mittelalterlichen Klerus den hohen Frauen ihren Cölibat nicht
gerade schwer erträglich machen. Gegen den Plan Magdalins erheben sich
aber auch politische Mächte, denn das Säckinger Stift ist sehr reich und übt
großen Einfluß auf seine Umgegend aus. Daher leisten die Katholiken unter
Führung des Erzherzogs Ferdinand von Österreich Widerstand. In dem
Kampfe unterliegen die Evangelischen. Gerold hat sich heimlich mit der
jungen Äbtissin vermählen lassen, Zwingli selbst hat den Trauungsakt voll¬
zogen. Harpolingen wird belagert, Gerold muß sich auf Gnade und Un-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289349"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Romane.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_766" prev="#ID_765"> Recht so weit, sie ganz von dem Hintergrunde zu trennen, den Hintergrund<lb/>
eben nur, soweit er zum Verständnis nötig ist, anzudeuten; dem Künstler ist<lb/>
es um eine klare Übersicht, um ein schönes, in die Augen fallendes, unmittelbar<lb/>
erfaßbares Bild zu thun; in der Geschichte forscht er nach den Gesetzen der<lb/>
Perspektive nicht minder wie in der Landschaft, und die im Vordergrunde<lb/>
stehende Einzelpersönlichkeit führt er mit liebevollem Eingehen in ihren Cha¬<lb/>
rakter aus. Denn am Ende arbeitet alle Kunst mit der typischen Individualität,<lb/>
mit dem kraftvollen, großartigen Charakter, in welchem sich viele Bestrebungen<lb/>
zerstreuter historischer Persönlichkeiten symbolisch für die ganze Zeit, der sie an¬<lb/>
gehören, vereinigen. Der Kulturhistoriker aber mit seinem wissenschaftlichen<lb/>
Respekt vor der positiven, archivalisch festgestellten, urkundlich beweisbaren Wahr¬<lb/>
heit verliert jenen künstlerischen Standpunkt; auch Blum hat ihn verloren, und<lb/>
dies scheint uns der wichtigste Fehler seiner an Geist und Studien übrigens<lb/>
reichen &#x201E;Äbtissin von Säckingen" zu sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_767" next="#ID_768"> Die Äbtissin von Säckingen ist das Fräulein Magdalin von Hausen in<lb/>
dem adlichen Damenstifte zu Säckingen. Sie hat die zündenden Predigten<lb/>
Eberlins in Waldshut und in Säckingen selbst gehört und ist von der Wahrheit<lb/>
und Größe dieser gereinigten evangelischen Lehre tief ergriffen worden. Der<lb/>
Junker Gerold von Harpolingen, ein Freund Ulrichs von Hütten und Zwinglis,<lb/>
hat ihr die Schriften Luthers, namentlich dessen Bibelübersetzung, und auch die<lb/>
Schriften der andern Schöpfer und Führer der Reformation heimlich zugetragen,<lb/>
denn er liebt das schöne Stiftsfräulein, und sie liebt ihn. Magdalin hat<lb/>
sich in ihrer einsamen Zelle erfüllt mit der neuen Lehre, und als Eberlin den<lb/>
Kabalen der Altgläubigen aus der Säckinger Gegend weichen muß, tritt das<lb/>
Stiftsfräulein selbst auf den Markt vor das Volk, ihm das wahre Evangelium<lb/>
zu verkünden. Als die alte Äbtissin stirbt, wird Magdalin zu ihrer Nach¬<lb/>
folgerin gewählt, und nun faßt sie den Entschluß, das Stift zu reformiren, mit<lb/>
ihm auch die ganze umliegende Gegend und wohl auch schließlich als Äbtissin<lb/>
Gerold zu heiraten. Denn die Ehelosigkeit der Stiftsdamen ist niemals ge¬<lb/>
setzliche Bedingung ihrer Würde gewesen; vielmehr haben schon viele Säckinger<lb/>
Stiftsfräulein diese Würde mit der einer ehrenwerten deutschen Hausfrau ver¬<lb/>
tauscht; nur eine alte Gewohnheit, aber kein geschriebenes Gesetz besteht, daß<lb/>
die Äbtissin als solche unvermählt zu bleiben pflegt, wenn auch die zügellosen<lb/>
Sitten des mittelalterlichen Klerus den hohen Frauen ihren Cölibat nicht<lb/>
gerade schwer erträglich machen. Gegen den Plan Magdalins erheben sich<lb/>
aber auch politische Mächte, denn das Säckinger Stift ist sehr reich und übt<lb/>
großen Einfluß auf seine Umgegend aus. Daher leisten die Katholiken unter<lb/>
Führung des Erzherzogs Ferdinand von Österreich Widerstand. In dem<lb/>
Kampfe unterliegen die Evangelischen. Gerold hat sich heimlich mit der<lb/>
jungen Äbtissin vermählen lassen, Zwingli selbst hat den Trauungsakt voll¬<lb/>
zogen. Harpolingen wird belagert, Gerold muß sich auf Gnade und Un-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0226] Neue Romane. Recht so weit, sie ganz von dem Hintergrunde zu trennen, den Hintergrund eben nur, soweit er zum Verständnis nötig ist, anzudeuten; dem Künstler ist es um eine klare Übersicht, um ein schönes, in die Augen fallendes, unmittelbar erfaßbares Bild zu thun; in der Geschichte forscht er nach den Gesetzen der Perspektive nicht minder wie in der Landschaft, und die im Vordergrunde stehende Einzelpersönlichkeit führt er mit liebevollem Eingehen in ihren Cha¬ rakter aus. Denn am Ende arbeitet alle Kunst mit der typischen Individualität, mit dem kraftvollen, großartigen Charakter, in welchem sich viele Bestrebungen zerstreuter historischer Persönlichkeiten symbolisch für die ganze Zeit, der sie an¬ gehören, vereinigen. Der Kulturhistoriker aber mit seinem wissenschaftlichen Respekt vor der positiven, archivalisch festgestellten, urkundlich beweisbaren Wahr¬ heit verliert jenen künstlerischen Standpunkt; auch Blum hat ihn verloren, und dies scheint uns der wichtigste Fehler seiner an Geist und Studien übrigens reichen „Äbtissin von Säckingen" zu sein. Die Äbtissin von Säckingen ist das Fräulein Magdalin von Hausen in dem adlichen Damenstifte zu Säckingen. Sie hat die zündenden Predigten Eberlins in Waldshut und in Säckingen selbst gehört und ist von der Wahrheit und Größe dieser gereinigten evangelischen Lehre tief ergriffen worden. Der Junker Gerold von Harpolingen, ein Freund Ulrichs von Hütten und Zwinglis, hat ihr die Schriften Luthers, namentlich dessen Bibelübersetzung, und auch die Schriften der andern Schöpfer und Führer der Reformation heimlich zugetragen, denn er liebt das schöne Stiftsfräulein, und sie liebt ihn. Magdalin hat sich in ihrer einsamen Zelle erfüllt mit der neuen Lehre, und als Eberlin den Kabalen der Altgläubigen aus der Säckinger Gegend weichen muß, tritt das Stiftsfräulein selbst auf den Markt vor das Volk, ihm das wahre Evangelium zu verkünden. Als die alte Äbtissin stirbt, wird Magdalin zu ihrer Nach¬ folgerin gewählt, und nun faßt sie den Entschluß, das Stift zu reformiren, mit ihm auch die ganze umliegende Gegend und wohl auch schließlich als Äbtissin Gerold zu heiraten. Denn die Ehelosigkeit der Stiftsdamen ist niemals ge¬ setzliche Bedingung ihrer Würde gewesen; vielmehr haben schon viele Säckinger Stiftsfräulein diese Würde mit der einer ehrenwerten deutschen Hausfrau ver¬ tauscht; nur eine alte Gewohnheit, aber kein geschriebenes Gesetz besteht, daß die Äbtissin als solche unvermählt zu bleiben pflegt, wenn auch die zügellosen Sitten des mittelalterlichen Klerus den hohen Frauen ihren Cölibat nicht gerade schwer erträglich machen. Gegen den Plan Magdalins erheben sich aber auch politische Mächte, denn das Säckinger Stift ist sehr reich und übt großen Einfluß auf seine Umgegend aus. Daher leisten die Katholiken unter Führung des Erzherzogs Ferdinand von Österreich Widerstand. In dem Kampfe unterliegen die Evangelischen. Gerold hat sich heimlich mit der jungen Äbtissin vermählen lassen, Zwingli selbst hat den Trauungsakt voll¬ zogen. Harpolingen wird belagert, Gerold muß sich auf Gnade und Un-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/226
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/226>, abgerufen am 16.06.2024.