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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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absprechen können, hat über das Verhältnis des dichterischen Talentes zur
Welt der Erfahrung in den Gespräche" mit Eckermann ein paar goldene Sätze
niedergelegt, ans die man immer und immer wieder hinweisen muß. Denn
der Unsinn wirft mit großen Worten um sich, während die tiefe Erkenntnis
des großen Meisters sich der schlichtesten Ausdrücke bedient. "Goethe hatte nur
vor einiger Zeit gesagt," berichtet Eckermann, "daß dem echten Dichter die
Kenntnis der Welt angeboren sei, und daß er zu ihrer Darstellung keineswegs
vieler Erfahrung und großer Empirie bedürfe. "Ich schrieb meinen Götz von
Berlichingen, sagte er, als junger Mensch von zweiundzwanzig, und erstaunte
zehn Jahre später über die Wahrheit meiner Darstellung. Erlebt und gesehen
hatte ich bekanntlich dergleichen nicht, und ich mußte also die Kenntnis mannig¬
faltiger menschlicher Zustände durch Antizipation besitzen." So hatte Goethe
von Lord Byron gesagt, daß ihm die Welt durchsichtig sei und daß ihm ihre
Darstellung durch Antizipation möglich. Ich äußerte darauf einige Zweifel,
ob es Byron z. B. gelingen möchte, eine untergeordnete tierische Natur dar¬
zustellen, indem seine Individualität nur zu gewaltsam erscheine, um sich solchen
Gegenstände" mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieses zu und erwiderte,
daß die Antizipation sich überall nur so weit erstrecke, als die Gegenstände dein
Talent analog seien, und wir wurden einig, daß in dem Verhältnis, wie die
Antizipation beschränkt oder umfassend sei, das darstellende Talent selbst vou
größerem oder geringerem Umfange befunden werde. Wenn Eure Exzellenz
behaupten, sagte ich darauf, daß dem Dichter die Welt angeboren sei, so haben
Sie wohl nur die Welt des Innern dabei im Sinne, aber nicht die empirische
Welt der Erscheinung und Kvuvenienz, und wenn also dem Dichter eine wahre
Darstellung derselben gelingen soll, so muß doch wohl die Erforschung des
Wirklichen hinzukommen? Allerdings, erwiderte Goethe, es ist so. Die Region
der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die Zustände
und Leidenschaften der Seele heißen, ist dem Dichter angeboren, und ihre Dar-
stellung gelingt ihm. Es ist aber nicht angeboren, wie mau Gericht hält oder
wie man im Parlament oder bei einer Kaiserkrönung verfährt, und um nicht
gegen die Wahrheit solcher Dinge zu verstoßen, muß der Dichter sie ans
Erfahrung oder Überlieferung sich aneignen. So konnte ich im Faust den
düstern Zustand des Lebensüberdrusses im Heide", sowie die Liebesempfin¬
dungen Gretchens recht gut durch Antizipation in meiner Macht haben; allein,
um z. B. zu sagen:


Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des späten Monds mit feuchter Glut heran,

bedürfte es einiger Beobnchtnng der Natur. Es ist aber, sagte ich, im ganzen
Faust keine Zeile, die nicht von sorgfältiger Durchforschung der Welt und des
Lebens unverkennbare Spuren trüge, und man wird keineswegs erinnert, als
sei Ihnen das alles ohne die reichste Erfahrung nur so geschenkt worden.


absprechen können, hat über das Verhältnis des dichterischen Talentes zur
Welt der Erfahrung in den Gespräche» mit Eckermann ein paar goldene Sätze
niedergelegt, ans die man immer und immer wieder hinweisen muß. Denn
der Unsinn wirft mit großen Worten um sich, während die tiefe Erkenntnis
des großen Meisters sich der schlichtesten Ausdrücke bedient. „Goethe hatte nur
vor einiger Zeit gesagt," berichtet Eckermann, „daß dem echten Dichter die
Kenntnis der Welt angeboren sei, und daß er zu ihrer Darstellung keineswegs
vieler Erfahrung und großer Empirie bedürfe. »Ich schrieb meinen Götz von
Berlichingen, sagte er, als junger Mensch von zweiundzwanzig, und erstaunte
zehn Jahre später über die Wahrheit meiner Darstellung. Erlebt und gesehen
hatte ich bekanntlich dergleichen nicht, und ich mußte also die Kenntnis mannig¬
faltiger menschlicher Zustände durch Antizipation besitzen.« So hatte Goethe
von Lord Byron gesagt, daß ihm die Welt durchsichtig sei und daß ihm ihre
Darstellung durch Antizipation möglich. Ich äußerte darauf einige Zweifel,
ob es Byron z. B. gelingen möchte, eine untergeordnete tierische Natur dar¬
zustellen, indem seine Individualität nur zu gewaltsam erscheine, um sich solchen
Gegenstände» mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieses zu und erwiderte,
daß die Antizipation sich überall nur so weit erstrecke, als die Gegenstände dein
Talent analog seien, und wir wurden einig, daß in dem Verhältnis, wie die
Antizipation beschränkt oder umfassend sei, das darstellende Talent selbst vou
größerem oder geringerem Umfange befunden werde. Wenn Eure Exzellenz
behaupten, sagte ich darauf, daß dem Dichter die Welt angeboren sei, so haben
Sie wohl nur die Welt des Innern dabei im Sinne, aber nicht die empirische
Welt der Erscheinung und Kvuvenienz, und wenn also dem Dichter eine wahre
Darstellung derselben gelingen soll, so muß doch wohl die Erforschung des
Wirklichen hinzukommen? Allerdings, erwiderte Goethe, es ist so. Die Region
der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die Zustände
und Leidenschaften der Seele heißen, ist dem Dichter angeboren, und ihre Dar-
stellung gelingt ihm. Es ist aber nicht angeboren, wie mau Gericht hält oder
wie man im Parlament oder bei einer Kaiserkrönung verfährt, und um nicht
gegen die Wahrheit solcher Dinge zu verstoßen, muß der Dichter sie ans
Erfahrung oder Überlieferung sich aneignen. So konnte ich im Faust den
düstern Zustand des Lebensüberdrusses im Heide«, sowie die Liebesempfin¬
dungen Gretchens recht gut durch Antizipation in meiner Macht haben; allein,
um z. B. zu sagen:


Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des späten Monds mit feuchter Glut heran,

bedürfte es einiger Beobnchtnng der Natur. Es ist aber, sagte ich, im ganzen
Faust keine Zeile, die nicht von sorgfältiger Durchforschung der Welt und des
Lebens unverkennbare Spuren trüge, und man wird keineswegs erinnert, als
sei Ihnen das alles ohne die reichste Erfahrung nur so geschenkt worden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/144>, abgerufen am 17.06.2024.