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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Hüte dich Böckchen, jetzt beiß' ich dich! -->
Hüte dich, Hündchen, jetzt (?) wehr' ich mich! -->
Habe gar einen scharfen Zahn. --
Sind mir zwei Hörner gewachsen an. (!) --
Böckchen, es war nicht so schlimm gemeint,
Laß uns nur spielen und sein(!) gut Freund.
Und so liefen den ganzen Tag
Immer die zwei einander nach;
Hündchen das bellte mit Gewalt (!),
Böckchen das zeigte die Hörner bald(!);
sprangen dann wieder um die Wette.
Wers doch mit angesehen hätte! (!)
El, Ochse, worüber denkst du nach,
Daß du da liegst fast den ganzen Tag,
Und machst so gar ein gelehrt Gesicht? --
Hab Dank für die Ehre! So schlimm ists nicht,
Die Gelehrsamkeit, die muß ich dir schenken (!);
Ich halte vom Kauen mehr als vom Denken.
Und als er noch gekaut eine Weile
(Er hatte nicht eben die größte)'Eile),
Da spannten sie vor den Wagen ihn;
Ein schweres Fuder sollt' er ziehn.
Das that er auch ganz wohlgemut,
Das Denken konnt' er nicht so gut.

Und das soll "für Kinder von vier bis sieben Jahren bestimmt" sein, wie es
in der Vorrede "An die Eltern" heißt! Heutige Eltern würden doch zu bedauern
sein, wenn sie ihren Kleinen nichts Besseres vorzusagen wüßten. Und nun sehe
man vollends die Sprachform dieser "Fabeln" an! Diese holprigen, klapprigen
Verse, bei denen man oft schlechterdings nicht weiß, wie man betonen soll, dieser
fortwährend wechselnde Rhythmus, bald Trochäen, bald Jamben, bald Daktylen, um
die freilich auf deutsche Verse eigentlich nicht anwendbaren Ausdrücke der antiken
Metrik zu brauchen --- und was für Daktylen (Sind mir zwei, liegst fast den)! --,
bald Zeilen mit Auftakt, bald Zeilen ohne Auftakt, diese fürchterliche Wortstellung
(gewachsen an, sein gut Freund, vor den Wagen ihn), diese Reime (Zahn, an),
diese Flickwörter (da, so, ja, Wohl), die gar nichts bedeuten und nur die Zeilen
schleppend machen, dieses ewige Nachsteller des Artikels hinter das Substantiv
(Hündchen das, Knabe der) u. s. w. Kurz, es ist eine wahre Turnerei für Kindcr-
zungen, diese Verse nachzusprechen, ein Erwachsener hat ja dran zu kauen. Von
welcher Formvollendung, welcher Abrundung, welchem Fluß und Wohlklang ist
dagegen ein beliebiges Kindcrabzählsprüchlein von der Gasse! Wenn heute einer
diese "Fabeln" als Neuigkeit veröffentlichen wollte, die heutige Pädagogik würde
ihm schön heimleuchten. Dasselbe aber, was von den Versen gilt, gilt auch von
den Bildern dazu, in Zeichnung und Schnitt. Am leidlichsten sind noch die Tiere
gezeichnet, die Kindergestalten aber sehen ja alle aus wie Mehlsäcke. Ein einziges Bild
von Pietsch macht den ganzen Speckter tot, und auch Pietsch ist schon wieder von
Thumann und Eugen Klinisch überflügelt. Wozu also künstlich und mit Gewalt
diese alten, ungeschickten Verslcin in der Gegenwart festhalten, womöglich zu einem
"klassischen" Buche aufbauschen und gar ein "Jubiläum" deshalb feiern? Unsre
Jubiläumsfeiern fäugt ohnehin nachgerade an, kindisch zu werden. Es vergeht


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Hüte dich Böckchen, jetzt beiß' ich dich! —>
Hüte dich, Hündchen, jetzt (?) wehr' ich mich! —>
Habe gar einen scharfen Zahn. —
Sind mir zwei Hörner gewachsen an. (!) —
Böckchen, es war nicht so schlimm gemeint,
Laß uns nur spielen und sein(!) gut Freund.
Und so liefen den ganzen Tag
Immer die zwei einander nach;
Hündchen das bellte mit Gewalt (!),
Böckchen das zeigte die Hörner bald(!);
sprangen dann wieder um die Wette.
Wers doch mit angesehen hätte! (!)
El, Ochse, worüber denkst du nach,
Daß du da liegst fast den ganzen Tag,
Und machst so gar ein gelehrt Gesicht? —
Hab Dank für die Ehre! So schlimm ists nicht,
Die Gelehrsamkeit, die muß ich dir schenken (!);
Ich halte vom Kauen mehr als vom Denken.
Und als er noch gekaut eine Weile
(Er hatte nicht eben die größte)'Eile),
Da spannten sie vor den Wagen ihn;
Ein schweres Fuder sollt' er ziehn.
Das that er auch ganz wohlgemut,
Das Denken konnt' er nicht so gut.

Und das soll „für Kinder von vier bis sieben Jahren bestimmt" sein, wie es
in der Vorrede „An die Eltern" heißt! Heutige Eltern würden doch zu bedauern
sein, wenn sie ihren Kleinen nichts Besseres vorzusagen wüßten. Und nun sehe
man vollends die Sprachform dieser „Fabeln" an! Diese holprigen, klapprigen
Verse, bei denen man oft schlechterdings nicht weiß, wie man betonen soll, dieser
fortwährend wechselnde Rhythmus, bald Trochäen, bald Jamben, bald Daktylen, um
die freilich auf deutsche Verse eigentlich nicht anwendbaren Ausdrücke der antiken
Metrik zu brauchen —- und was für Daktylen (Sind mir zwei, liegst fast den)! —,
bald Zeilen mit Auftakt, bald Zeilen ohne Auftakt, diese fürchterliche Wortstellung
(gewachsen an, sein gut Freund, vor den Wagen ihn), diese Reime (Zahn, an),
diese Flickwörter (da, so, ja, Wohl), die gar nichts bedeuten und nur die Zeilen
schleppend machen, dieses ewige Nachsteller des Artikels hinter das Substantiv
(Hündchen das, Knabe der) u. s. w. Kurz, es ist eine wahre Turnerei für Kindcr-
zungen, diese Verse nachzusprechen, ein Erwachsener hat ja dran zu kauen. Von
welcher Formvollendung, welcher Abrundung, welchem Fluß und Wohlklang ist
dagegen ein beliebiges Kindcrabzählsprüchlein von der Gasse! Wenn heute einer
diese „Fabeln" als Neuigkeit veröffentlichen wollte, die heutige Pädagogik würde
ihm schön heimleuchten. Dasselbe aber, was von den Versen gilt, gilt auch von
den Bildern dazu, in Zeichnung und Schnitt. Am leidlichsten sind noch die Tiere
gezeichnet, die Kindergestalten aber sehen ja alle aus wie Mehlsäcke. Ein einziges Bild
von Pietsch macht den ganzen Speckter tot, und auch Pietsch ist schon wieder von
Thumann und Eugen Klinisch überflügelt. Wozu also künstlich und mit Gewalt
diese alten, ungeschickten Verslcin in der Gegenwart festhalten, womöglich zu einem
„klassischen" Buche aufbauschen und gar ein „Jubiläum" deshalb feiern? Unsre
Jubiläumsfeiern fäugt ohnehin nachgerade an, kindisch zu werden. Es vergeht


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[0630] Maßgebliches und Unmaßgebliches Hüte dich Böckchen, jetzt beiß' ich dich! —> Hüte dich, Hündchen, jetzt (?) wehr' ich mich! —> Habe gar einen scharfen Zahn. — Sind mir zwei Hörner gewachsen an. (!) — Böckchen, es war nicht so schlimm gemeint, Laß uns nur spielen und sein(!) gut Freund. Und so liefen den ganzen Tag Immer die zwei einander nach; Hündchen das bellte mit Gewalt (!), Böckchen das zeigte die Hörner bald(!); sprangen dann wieder um die Wette. Wers doch mit angesehen hätte! (!) El, Ochse, worüber denkst du nach, Daß du da liegst fast den ganzen Tag, Und machst so gar ein gelehrt Gesicht? — Hab Dank für die Ehre! So schlimm ists nicht, Die Gelehrsamkeit, die muß ich dir schenken (!); Ich halte vom Kauen mehr als vom Denken. Und als er noch gekaut eine Weile (Er hatte nicht eben die größte)'Eile), Da spannten sie vor den Wagen ihn; Ein schweres Fuder sollt' er ziehn. Das that er auch ganz wohlgemut, Das Denken konnt' er nicht so gut. Und das soll „für Kinder von vier bis sieben Jahren bestimmt" sein, wie es in der Vorrede „An die Eltern" heißt! Heutige Eltern würden doch zu bedauern sein, wenn sie ihren Kleinen nichts Besseres vorzusagen wüßten. Und nun sehe man vollends die Sprachform dieser „Fabeln" an! Diese holprigen, klapprigen Verse, bei denen man oft schlechterdings nicht weiß, wie man betonen soll, dieser fortwährend wechselnde Rhythmus, bald Trochäen, bald Jamben, bald Daktylen, um die freilich auf deutsche Verse eigentlich nicht anwendbaren Ausdrücke der antiken Metrik zu brauchen —- und was für Daktylen (Sind mir zwei, liegst fast den)! —, bald Zeilen mit Auftakt, bald Zeilen ohne Auftakt, diese fürchterliche Wortstellung (gewachsen an, sein gut Freund, vor den Wagen ihn), diese Reime (Zahn, an), diese Flickwörter (da, so, ja, Wohl), die gar nichts bedeuten und nur die Zeilen schleppend machen, dieses ewige Nachsteller des Artikels hinter das Substantiv (Hündchen das, Knabe der) u. s. w. Kurz, es ist eine wahre Turnerei für Kindcr- zungen, diese Verse nachzusprechen, ein Erwachsener hat ja dran zu kauen. Von welcher Formvollendung, welcher Abrundung, welchem Fluß und Wohlklang ist dagegen ein beliebiges Kindcrabzählsprüchlein von der Gasse! Wenn heute einer diese „Fabeln" als Neuigkeit veröffentlichen wollte, die heutige Pädagogik würde ihm schön heimleuchten. Dasselbe aber, was von den Versen gilt, gilt auch von den Bildern dazu, in Zeichnung und Schnitt. Am leidlichsten sind noch die Tiere gezeichnet, die Kindergestalten aber sehen ja alle aus wie Mehlsäcke. Ein einziges Bild von Pietsch macht den ganzen Speckter tot, und auch Pietsch ist schon wieder von Thumann und Eugen Klinisch überflügelt. Wozu also künstlich und mit Gewalt diese alten, ungeschickten Verslcin in der Gegenwart festhalten, womöglich zu einem „klassischen" Buche aufbauschen und gar ein „Jubiläum" deshalb feiern? Unsre Jubiläumsfeiern fäugt ohnehin nachgerade an, kindisch zu werden. Es vergeht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/630>, abgerufen am 10.06.2024.