Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
?ostum^

macht den Reichtum eines Dichters ans. Daher ist auch die Verschiedenheit
des Verhältnisses beider zur Geschichte merkwürdig. Für Scheffel wurde die
Kulturgeschichte nachgerade das Grab seiner Poesie; Storm allein verstand es,
das kulturgeschichtliche Kolorit der rein menschlichen Charakterschilderung unter¬
zuordnen. Und so könnte man alle Strömungen und Probleme der zeitgenössischen
Litteratur in der Parallele der beiden Dichter berühren, die der Nachwelt Zeug¬
nis von nnserm innersten Fühlen zu geben berufen sind.

Storms "Schimmelreiter", der die Reihe seiner unvergänglichen Novellen
als das bedeutendste Werk abschließt, ist eine nach jeder Richtung hin be¬
wunderungswürdige Schöpfung. Sie ist zu bewundern von der technischen
Seite wegen der kunstvollen Form, und sie ist es nicht weniger des Gehaltes
wegen. Mit sparsamen Mitteln, geizend mit dem Worte, hat Storm auf engem
Raume die reiche Lebensgeschichte eines hochstrebenden und kraftvollen Mannes
dargestellt. Wir begleiten den Helden von der Jugend bis zu seinem tragische"
Ende, und ist anch der Ort der Handlung nur ein Dorf, und ist auch nnr
ein einziges Mal ein Wink für die Zeit gegeben, in welche die Vorgänge fallen,
so ist doch der Gesichtskreis des Dichters nichts weniger als beschränkt, ein
symbolisches Abbild des ganzen Lebens der Menschen nnter einander hat er selbst
in diesem bescheidenen Menschenkreise geliefert. Das Rohmaterial lieferte ihm
die heimische Sagenwelt, aber er begnügte sich nicht dam it, diese Sagen rationalistisch
zu deuten, sondern er strebte anch darnach, zu zeigen, wie die Sage entstehen
mußte, indem er in kunstvoller Weise alle Elemente der Erzählung auseinanderhielt
und durchsichtig eigne Erfindung von der Überlieferung sonderte. Hier kann man
sehen und lernen, wie die Wissenschaft die Kunst befruchtet. Wenn Callot-Hoff-
mann die Gespenster noch als wirksame Elemente der Erzählung verwenden durfte,
so wollte sich der moderne Dichter diesen Scherz nicht mehr erlauben, denn wir
wissen ja alle wohl, wie der Gespensterglaube entstand. Die Sage vom Schimmel¬
reiter ist eine solche Gespenstergeschichte. An der friesischen Küste soll er sich in
stürmischen Nächten immer herumtreiben, und wenn die Wellen über die Dämme
stürmen, so stürzen sich Mann und Roß in die Fluten hinab. Wilmin aber? wie
entstand dieses Gespenst? Das erzählt uns Storms Novelle. Er hat auch diesmal
die Erzählung eingerahmt und mit großer Geschicklichkeit einem Menschen in den
Mund gelegt, der wohl berufen war, sowohl im aufklärerischen Geiste des acht¬
zehnten Jahrhunderts zu sprechen:, als auch sich als vertrauten Kenner der Ammen¬
märchen der Gegend hinzustellen: einem alten Schulmeister jenes Küstendorfes aus
dem dritten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts; auch die wiederholten nachsichtig
tadelnden Hinweise auf das kindlich abergläubische Volk nehmen sich im Munde
dieses aufklärerischen, aber höchst liebenswürdigen Schulmeisters angemessen ans.")



Dabei ist doch ein seltsamer Widerspruch in diesem Rahmen der Erzählung: der,
dem der Schulmeister die Geschichte erzählt, erblickt selbst vorher das Gespenst zweimal, und
D. Red. auch andre in der Umrahmung auftretende Personen sehen es.
?ostum^

macht den Reichtum eines Dichters ans. Daher ist auch die Verschiedenheit
des Verhältnisses beider zur Geschichte merkwürdig. Für Scheffel wurde die
Kulturgeschichte nachgerade das Grab seiner Poesie; Storm allein verstand es,
das kulturgeschichtliche Kolorit der rein menschlichen Charakterschilderung unter¬
zuordnen. Und so könnte man alle Strömungen und Probleme der zeitgenössischen
Litteratur in der Parallele der beiden Dichter berühren, die der Nachwelt Zeug¬
nis von nnserm innersten Fühlen zu geben berufen sind.

Storms „Schimmelreiter", der die Reihe seiner unvergänglichen Novellen
als das bedeutendste Werk abschließt, ist eine nach jeder Richtung hin be¬
wunderungswürdige Schöpfung. Sie ist zu bewundern von der technischen
Seite wegen der kunstvollen Form, und sie ist es nicht weniger des Gehaltes
wegen. Mit sparsamen Mitteln, geizend mit dem Worte, hat Storm auf engem
Raume die reiche Lebensgeschichte eines hochstrebenden und kraftvollen Mannes
dargestellt. Wir begleiten den Helden von der Jugend bis zu seinem tragische»
Ende, und ist anch der Ort der Handlung nur ein Dorf, und ist auch nnr
ein einziges Mal ein Wink für die Zeit gegeben, in welche die Vorgänge fallen,
so ist doch der Gesichtskreis des Dichters nichts weniger als beschränkt, ein
symbolisches Abbild des ganzen Lebens der Menschen nnter einander hat er selbst
in diesem bescheidenen Menschenkreise geliefert. Das Rohmaterial lieferte ihm
die heimische Sagenwelt, aber er begnügte sich nicht dam it, diese Sagen rationalistisch
zu deuten, sondern er strebte anch darnach, zu zeigen, wie die Sage entstehen
mußte, indem er in kunstvoller Weise alle Elemente der Erzählung auseinanderhielt
und durchsichtig eigne Erfindung von der Überlieferung sonderte. Hier kann man
sehen und lernen, wie die Wissenschaft die Kunst befruchtet. Wenn Callot-Hoff-
mann die Gespenster noch als wirksame Elemente der Erzählung verwenden durfte,
so wollte sich der moderne Dichter diesen Scherz nicht mehr erlauben, denn wir
wissen ja alle wohl, wie der Gespensterglaube entstand. Die Sage vom Schimmel¬
reiter ist eine solche Gespenstergeschichte. An der friesischen Küste soll er sich in
stürmischen Nächten immer herumtreiben, und wenn die Wellen über die Dämme
stürmen, so stürzen sich Mann und Roß in die Fluten hinab. Wilmin aber? wie
entstand dieses Gespenst? Das erzählt uns Storms Novelle. Er hat auch diesmal
die Erzählung eingerahmt und mit großer Geschicklichkeit einem Menschen in den
Mund gelegt, der wohl berufen war, sowohl im aufklärerischen Geiste des acht¬
zehnten Jahrhunderts zu sprechen:, als auch sich als vertrauten Kenner der Ammen¬
märchen der Gegend hinzustellen: einem alten Schulmeister jenes Küstendorfes aus
dem dritten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts; auch die wiederholten nachsichtig
tadelnden Hinweise auf das kindlich abergläubische Volk nehmen sich im Munde
dieses aufklärerischen, aber höchst liebenswürdigen Schulmeisters angemessen ans.")



Dabei ist doch ein seltsamer Widerspruch in diesem Rahmen der Erzählung: der,
dem der Schulmeister die Geschichte erzählt, erblickt selbst vorher das Gespenst zweimal, und
D. Red. auch andre in der Umrahmung auftretende Personen sehen es.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204179"/>
          <fw type="header" place="top"> ?ostum^</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_281" prev="#ID_280"> macht den Reichtum eines Dichters ans. Daher ist auch die Verschiedenheit<lb/>
des Verhältnisses beider zur Geschichte merkwürdig. Für Scheffel wurde die<lb/>
Kulturgeschichte nachgerade das Grab seiner Poesie; Storm allein verstand es,<lb/>
das kulturgeschichtliche Kolorit der rein menschlichen Charakterschilderung unter¬<lb/>
zuordnen. Und so könnte man alle Strömungen und Probleme der zeitgenössischen<lb/>
Litteratur in der Parallele der beiden Dichter berühren, die der Nachwelt Zeug¬<lb/>
nis von nnserm innersten Fühlen zu geben berufen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_282" next="#ID_283"> Storms &#x201E;Schimmelreiter", der die Reihe seiner unvergänglichen Novellen<lb/>
als das bedeutendste Werk abschließt, ist eine nach jeder Richtung hin be¬<lb/>
wunderungswürdige Schöpfung. Sie ist zu bewundern von der technischen<lb/>
Seite wegen der kunstvollen Form, und sie ist es nicht weniger des Gehaltes<lb/>
wegen. Mit sparsamen Mitteln, geizend mit dem Worte, hat Storm auf engem<lb/>
Raume die reiche Lebensgeschichte eines hochstrebenden und kraftvollen Mannes<lb/>
dargestellt. Wir begleiten den Helden von der Jugend bis zu seinem tragische»<lb/>
Ende, und ist anch der Ort der Handlung nur ein Dorf, und ist auch nnr<lb/>
ein einziges Mal ein Wink für die Zeit gegeben, in welche die Vorgänge fallen,<lb/>
so ist doch der Gesichtskreis des Dichters nichts weniger als beschränkt, ein<lb/>
symbolisches Abbild des ganzen Lebens der Menschen nnter einander hat er selbst<lb/>
in diesem bescheidenen Menschenkreise geliefert. Das Rohmaterial lieferte ihm<lb/>
die heimische Sagenwelt, aber er begnügte sich nicht dam it, diese Sagen rationalistisch<lb/>
zu deuten, sondern er strebte anch darnach, zu zeigen, wie die Sage entstehen<lb/>
mußte, indem er in kunstvoller Weise alle Elemente der Erzählung auseinanderhielt<lb/>
und durchsichtig eigne Erfindung von der Überlieferung sonderte. Hier kann man<lb/>
sehen und lernen, wie die Wissenschaft die Kunst befruchtet. Wenn Callot-Hoff-<lb/>
mann die Gespenster noch als wirksame Elemente der Erzählung verwenden durfte,<lb/>
so wollte sich der moderne Dichter diesen Scherz nicht mehr erlauben, denn wir<lb/>
wissen ja alle wohl, wie der Gespensterglaube entstand. Die Sage vom Schimmel¬<lb/>
reiter ist eine solche Gespenstergeschichte. An der friesischen Küste soll er sich in<lb/>
stürmischen Nächten immer herumtreiben, und wenn die Wellen über die Dämme<lb/>
stürmen, so stürzen sich Mann und Roß in die Fluten hinab. Wilmin aber? wie<lb/>
entstand dieses Gespenst? Das erzählt uns Storms Novelle. Er hat auch diesmal<lb/>
die Erzählung eingerahmt und mit großer Geschicklichkeit einem Menschen in den<lb/>
Mund gelegt, der wohl berufen war, sowohl im aufklärerischen Geiste des acht¬<lb/>
zehnten Jahrhunderts zu sprechen:, als auch sich als vertrauten Kenner der Ammen¬<lb/>
märchen der Gegend hinzustellen: einem alten Schulmeister jenes Küstendorfes aus<lb/>
dem dritten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts; auch die wiederholten nachsichtig<lb/>
tadelnden Hinweise auf das kindlich abergläubische Volk nehmen sich im Munde<lb/>
dieses aufklärerischen, aber höchst liebenswürdigen Schulmeisters angemessen ans.")</p><lb/>
          <note xml:id="FID_4" place="foot"> Dabei ist doch ein seltsamer Widerspruch in diesem Rahmen der Erzählung: der,<lb/>
dem der Schulmeister die Geschichte erzählt, erblickt selbst vorher das Gespenst zweimal, und<lb/><note type="byline"> D. Red.</note> auch andre in der Umrahmung auftretende Personen sehen es. </note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] ?ostum^ macht den Reichtum eines Dichters ans. Daher ist auch die Verschiedenheit des Verhältnisses beider zur Geschichte merkwürdig. Für Scheffel wurde die Kulturgeschichte nachgerade das Grab seiner Poesie; Storm allein verstand es, das kulturgeschichtliche Kolorit der rein menschlichen Charakterschilderung unter¬ zuordnen. Und so könnte man alle Strömungen und Probleme der zeitgenössischen Litteratur in der Parallele der beiden Dichter berühren, die der Nachwelt Zeug¬ nis von nnserm innersten Fühlen zu geben berufen sind. Storms „Schimmelreiter", der die Reihe seiner unvergänglichen Novellen als das bedeutendste Werk abschließt, ist eine nach jeder Richtung hin be¬ wunderungswürdige Schöpfung. Sie ist zu bewundern von der technischen Seite wegen der kunstvollen Form, und sie ist es nicht weniger des Gehaltes wegen. Mit sparsamen Mitteln, geizend mit dem Worte, hat Storm auf engem Raume die reiche Lebensgeschichte eines hochstrebenden und kraftvollen Mannes dargestellt. Wir begleiten den Helden von der Jugend bis zu seinem tragische» Ende, und ist anch der Ort der Handlung nur ein Dorf, und ist auch nnr ein einziges Mal ein Wink für die Zeit gegeben, in welche die Vorgänge fallen, so ist doch der Gesichtskreis des Dichters nichts weniger als beschränkt, ein symbolisches Abbild des ganzen Lebens der Menschen nnter einander hat er selbst in diesem bescheidenen Menschenkreise geliefert. Das Rohmaterial lieferte ihm die heimische Sagenwelt, aber er begnügte sich nicht dam it, diese Sagen rationalistisch zu deuten, sondern er strebte anch darnach, zu zeigen, wie die Sage entstehen mußte, indem er in kunstvoller Weise alle Elemente der Erzählung auseinanderhielt und durchsichtig eigne Erfindung von der Überlieferung sonderte. Hier kann man sehen und lernen, wie die Wissenschaft die Kunst befruchtet. Wenn Callot-Hoff- mann die Gespenster noch als wirksame Elemente der Erzählung verwenden durfte, so wollte sich der moderne Dichter diesen Scherz nicht mehr erlauben, denn wir wissen ja alle wohl, wie der Gespensterglaube entstand. Die Sage vom Schimmel¬ reiter ist eine solche Gespenstergeschichte. An der friesischen Küste soll er sich in stürmischen Nächten immer herumtreiben, und wenn die Wellen über die Dämme stürmen, so stürzen sich Mann und Roß in die Fluten hinab. Wilmin aber? wie entstand dieses Gespenst? Das erzählt uns Storms Novelle. Er hat auch diesmal die Erzählung eingerahmt und mit großer Geschicklichkeit einem Menschen in den Mund gelegt, der wohl berufen war, sowohl im aufklärerischen Geiste des acht¬ zehnten Jahrhunderts zu sprechen:, als auch sich als vertrauten Kenner der Ammen¬ märchen der Gegend hinzustellen: einem alten Schulmeister jenes Küstendorfes aus dem dritten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts; auch die wiederholten nachsichtig tadelnden Hinweise auf das kindlich abergläubische Volk nehmen sich im Munde dieses aufklärerischen, aber höchst liebenswürdigen Schulmeisters angemessen ans.") Dabei ist doch ein seltsamer Widerspruch in diesem Rahmen der Erzählung: der, dem der Schulmeister die Geschichte erzählt, erblickt selbst vorher das Gespenst zweimal, und D. Red. auch andre in der Umrahmung auftretende Personen sehen es.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/90>, abgerufen am 17.06.2024.