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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Phonetik

Sprachforscher sie zuerst wird berücksichtigen müssen, wenn er nicht zurück¬
bleiben und Ansichten vorbringen will, die dem phonetisch geschulten oft nur
ein Lächeln abnötigen können. Die Phonetik greift tief in alle Sprachgebiete
ein. Eine Unmasse von Ansichten in den neuern und den alten Sprachen,
an denen man früher nicht zu rütteln wagte, erweisen sich heute als unhalt¬
bare Annahmen. Aber in einer Hinsicht ist uns die Phonetik besonders wert:
sie klärt uns auf über unsre eigne Sprache. Schon vor vielen Jahren
wurden Versuche gemacht, unsre Mundarten genauer zu bestimmen, aber alle
diese Versuche sielen mehr oder weniger unvollkommen aus, weil eben damals
die Vestimmnngsmethoden noch nicht genügend ausgebildet waren. Erst jetzt
ist es möglich, die Sprache der Gebildeten in den einzelnen Teilen Deutsch¬
lands festzustellen, erst jetzt kann man einen Überblick gewinnen über die Aus¬
dehnung gewisser Aussprachweisen. Eine der verdienstvollsten Arbeiten auf
diesem Gebiete sind in Victors Phonetischen Studien die "Beiträge zur Sta¬
tistik der Aussprache des Schriftdeutschen," in denen eine Anzahl phonetisch
geschulter Männer ans allen Gegenden Deutschlands die Aussprache ihrer
Heimat in Schriftzeichen zu bannen suchen. Die Verschiedenheit zwischen
Schrift und Aussprache ist außerordentlich groß, und doch bleibt sie dem
größten Teile ganz unbemerkt. "Ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte
Deutsche -- sagt Pcinl (Prinzipien der Sprachgeschichte, S. 48) -- ist der
Überzeugung, daß er schreibt, wie er spricht. Wenn er aber auch dem Eng¬
länder und Franzosen gegenüber eine gewisse Berechtigung zu dieser Über¬
zeugung hat, so fehlt es doch, von Feinheiten abgesehen, nicht an Fällen, in
denen die Aussprache ziemlich stark von der Schreibung abweicht. Daß der
Schlußkonsonant in Tag. Feld, lieb ein andrer Laut ist, als der, welcher
in Tages, Feldes, liebes gesprochen wird, daß das n in Anger einen
wesentlich andern Laut bezeichnet als in Land, ist wenigen eingefallen. Daß
man im allgemeinen in Ungnade gutturalen, in unbillig labialen Rasal
spricht, daran denkt niemand. Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn
man ausspricht, daß in lange kein g, in der zweiten Silbe von legen,
reden, Ritter, schütteln kein e gesprochen werde, daß der Schlnßkonsonant
von Leben nach der verbreiteten Aussprache kein n, sondern ein in gleichfalls
ohne vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, daß die "leisten
diese Thatsachen bestreiten werden, auch nachdem sie darauf aufmerksam ge¬
macht worden sind. Wenigstens habe ich die Erfahrung vielfach gemacht,
auch an Philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die Analyse des Wortes
etwas bloß mit der Schrift angelerntes ist, und wie gering das Gefühl für
die wirklichen Elemente des gesprochenen Wortes ist." Wir könnten die Bei¬
spiele noch vermehren. Man spricht z. B. in der gebildeten Umgangssprache
kommen, nehmen, können, Kanonen wie kom --in, nem -- in, kön -- n,
Kanon -- n, wobei in -- in und u -- n ein langes in und n bezeichnen sollen,


Phonetik

Sprachforscher sie zuerst wird berücksichtigen müssen, wenn er nicht zurück¬
bleiben und Ansichten vorbringen will, die dem phonetisch geschulten oft nur
ein Lächeln abnötigen können. Die Phonetik greift tief in alle Sprachgebiete
ein. Eine Unmasse von Ansichten in den neuern und den alten Sprachen,
an denen man früher nicht zu rütteln wagte, erweisen sich heute als unhalt¬
bare Annahmen. Aber in einer Hinsicht ist uns die Phonetik besonders wert:
sie klärt uns auf über unsre eigne Sprache. Schon vor vielen Jahren
wurden Versuche gemacht, unsre Mundarten genauer zu bestimmen, aber alle
diese Versuche sielen mehr oder weniger unvollkommen aus, weil eben damals
die Vestimmnngsmethoden noch nicht genügend ausgebildet waren. Erst jetzt
ist es möglich, die Sprache der Gebildeten in den einzelnen Teilen Deutsch¬
lands festzustellen, erst jetzt kann man einen Überblick gewinnen über die Aus¬
dehnung gewisser Aussprachweisen. Eine der verdienstvollsten Arbeiten auf
diesem Gebiete sind in Victors Phonetischen Studien die „Beiträge zur Sta¬
tistik der Aussprache des Schriftdeutschen," in denen eine Anzahl phonetisch
geschulter Männer ans allen Gegenden Deutschlands die Aussprache ihrer
Heimat in Schriftzeichen zu bannen suchen. Die Verschiedenheit zwischen
Schrift und Aussprache ist außerordentlich groß, und doch bleibt sie dem
größten Teile ganz unbemerkt. „Ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte
Deutsche — sagt Pcinl (Prinzipien der Sprachgeschichte, S. 48) — ist der
Überzeugung, daß er schreibt, wie er spricht. Wenn er aber auch dem Eng¬
länder und Franzosen gegenüber eine gewisse Berechtigung zu dieser Über¬
zeugung hat, so fehlt es doch, von Feinheiten abgesehen, nicht an Fällen, in
denen die Aussprache ziemlich stark von der Schreibung abweicht. Daß der
Schlußkonsonant in Tag. Feld, lieb ein andrer Laut ist, als der, welcher
in Tages, Feldes, liebes gesprochen wird, daß das n in Anger einen
wesentlich andern Laut bezeichnet als in Land, ist wenigen eingefallen. Daß
man im allgemeinen in Ungnade gutturalen, in unbillig labialen Rasal
spricht, daran denkt niemand. Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn
man ausspricht, daß in lange kein g, in der zweiten Silbe von legen,
reden, Ritter, schütteln kein e gesprochen werde, daß der Schlnßkonsonant
von Leben nach der verbreiteten Aussprache kein n, sondern ein in gleichfalls
ohne vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, daß die »leisten
diese Thatsachen bestreiten werden, auch nachdem sie darauf aufmerksam ge¬
macht worden sind. Wenigstens habe ich die Erfahrung vielfach gemacht,
auch an Philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die Analyse des Wortes
etwas bloß mit der Schrift angelerntes ist, und wie gering das Gefühl für
die wirklichen Elemente des gesprochenen Wortes ist." Wir könnten die Bei¬
spiele noch vermehren. Man spricht z. B. in der gebildeten Umgangssprache
kommen, nehmen, können, Kanonen wie kom —in, nem — in, kön — n,
Kanon — n, wobei in — in und u — n ein langes in und n bezeichnen sollen,


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[0034] Phonetik Sprachforscher sie zuerst wird berücksichtigen müssen, wenn er nicht zurück¬ bleiben und Ansichten vorbringen will, die dem phonetisch geschulten oft nur ein Lächeln abnötigen können. Die Phonetik greift tief in alle Sprachgebiete ein. Eine Unmasse von Ansichten in den neuern und den alten Sprachen, an denen man früher nicht zu rütteln wagte, erweisen sich heute als unhalt¬ bare Annahmen. Aber in einer Hinsicht ist uns die Phonetik besonders wert: sie klärt uns auf über unsre eigne Sprache. Schon vor vielen Jahren wurden Versuche gemacht, unsre Mundarten genauer zu bestimmen, aber alle diese Versuche sielen mehr oder weniger unvollkommen aus, weil eben damals die Vestimmnngsmethoden noch nicht genügend ausgebildet waren. Erst jetzt ist es möglich, die Sprache der Gebildeten in den einzelnen Teilen Deutsch¬ lands festzustellen, erst jetzt kann man einen Überblick gewinnen über die Aus¬ dehnung gewisser Aussprachweisen. Eine der verdienstvollsten Arbeiten auf diesem Gebiete sind in Victors Phonetischen Studien die „Beiträge zur Sta¬ tistik der Aussprache des Schriftdeutschen," in denen eine Anzahl phonetisch geschulter Männer ans allen Gegenden Deutschlands die Aussprache ihrer Heimat in Schriftzeichen zu bannen suchen. Die Verschiedenheit zwischen Schrift und Aussprache ist außerordentlich groß, und doch bleibt sie dem größten Teile ganz unbemerkt. „Ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte Deutsche — sagt Pcinl (Prinzipien der Sprachgeschichte, S. 48) — ist der Überzeugung, daß er schreibt, wie er spricht. Wenn er aber auch dem Eng¬ länder und Franzosen gegenüber eine gewisse Berechtigung zu dieser Über¬ zeugung hat, so fehlt es doch, von Feinheiten abgesehen, nicht an Fällen, in denen die Aussprache ziemlich stark von der Schreibung abweicht. Daß der Schlußkonsonant in Tag. Feld, lieb ein andrer Laut ist, als der, welcher in Tages, Feldes, liebes gesprochen wird, daß das n in Anger einen wesentlich andern Laut bezeichnet als in Land, ist wenigen eingefallen. Daß man im allgemeinen in Ungnade gutturalen, in unbillig labialen Rasal spricht, daran denkt niemand. Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn man ausspricht, daß in lange kein g, in der zweiten Silbe von legen, reden, Ritter, schütteln kein e gesprochen werde, daß der Schlnßkonsonant von Leben nach der verbreiteten Aussprache kein n, sondern ein in gleichfalls ohne vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, daß die »leisten diese Thatsachen bestreiten werden, auch nachdem sie darauf aufmerksam ge¬ macht worden sind. Wenigstens habe ich die Erfahrung vielfach gemacht, auch an Philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die Analyse des Wortes etwas bloß mit der Schrift angelerntes ist, und wie gering das Gefühl für die wirklichen Elemente des gesprochenen Wortes ist." Wir könnten die Bei¬ spiele noch vermehren. Man spricht z. B. in der gebildeten Umgangssprache kommen, nehmen, können, Kanonen wie kom —in, nem — in, kön — n, Kanon — n, wobei in — in und u — n ein langes in und n bezeichnen sollen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/34>, abgerufen am 17.06.2024.