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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Phonetik

in Zeitungen lassen wir meistens en weg und dehnen dafür etwas den Laut
des ng, einen Laut, den wir mit zwei Buchstaben bezeichnen, obwohl er mit
dem gewöhnlichen n und g gar nichts zu thun hat. Wie lächerlich und ge¬
ziert würde es klingen, wenn wir in diesen Wörtern wirklich e und n aus¬
sprechen wollten! Wir haben es also hier gar nicht mit Nachlässigkeiten in der
Aussprache zu thun -- denn wenn wir sprechen, wie wir schreiben, so klingt
uns das unnatürlich --, sondern mit Ausspracheweisen, die sich naturgemäß
entwickelt haben.

Wir gehen nun selbstverständlich nicht etwa so weit, zu befürworten, die
Lautschrift an Stelle unsrer jetzigen Orthographie zu setzen. Das würde un¬
möglich sein, schon aus dem Grunde, weil man dann sür jede größere Gegend
eine besondre Lautschreibung aufstellen müßte. Wohl aber würden wir es mit
Freuden begrüßt haben, wenn bei der amtlichen Regelung der Orthographie
noch mehr Buchstaben verschwunden wären. Daß man noch einige deutsche
Wörter mit es hat bestehen lassen, daß es Wörter giebt, bei denen man noch
drei l, drei in und drei t zuläßt, während man doch nur ein einziges 1, in
oder t spricht, daß man in der Endung leren le setzt, wo heute kein Mensch
mehr ein e spricht, und daß man dabei diese Schreibung auch solchen Fremd¬
wörtern geben muß, die ein i im Lateinischen oder le im Französischen nie
gehabt haben oder Neubildungen der letzten Jahrhunderte sind, das sind
Punkte, bei denen man die jetzige Aussprache unsers Trachtens hätte berück¬
sichtigen sollen. Wenn es sich auch empfiehlt, in orthographischen Dingen mit
Maß vorzugehen, so dürfen wir doch anderseits nicht vergessen, daß das Be¬
stehenlassen des Erstarrten, Abgestorbnen nichts weiter als eine unnütze Er¬
schwerung ist. Haben wir doch in unsrer jetzigen Orthographie ohnehin schon
Dinge genug, die man nicht gerade als eine Verbesserung gegenüber der mittel¬
hochdeutschen betrachten kann.

Doch dem sei, wie ihm wolle, über einen andern Punkt dürfte wohl
eine Übereinstimmung zu erzielen sein. Sollten wir je dahin kommen, uns
über eine deutsche Musteraussprache zu einigen oder eine bestehende als
mustergiltig anzuerkennen, so wird die nähere Feststellung und die erfolgreiche
Verbreitung derselben nur dadurch zu ermöglichen sein, daß wir die Ergebnisse
der Phonetik berücksichtigen.


<v. Schulze


Phonetik

in Zeitungen lassen wir meistens en weg und dehnen dafür etwas den Laut
des ng, einen Laut, den wir mit zwei Buchstaben bezeichnen, obwohl er mit
dem gewöhnlichen n und g gar nichts zu thun hat. Wie lächerlich und ge¬
ziert würde es klingen, wenn wir in diesen Wörtern wirklich e und n aus¬
sprechen wollten! Wir haben es also hier gar nicht mit Nachlässigkeiten in der
Aussprache zu thun — denn wenn wir sprechen, wie wir schreiben, so klingt
uns das unnatürlich —, sondern mit Ausspracheweisen, die sich naturgemäß
entwickelt haben.

Wir gehen nun selbstverständlich nicht etwa so weit, zu befürworten, die
Lautschrift an Stelle unsrer jetzigen Orthographie zu setzen. Das würde un¬
möglich sein, schon aus dem Grunde, weil man dann sür jede größere Gegend
eine besondre Lautschreibung aufstellen müßte. Wohl aber würden wir es mit
Freuden begrüßt haben, wenn bei der amtlichen Regelung der Orthographie
noch mehr Buchstaben verschwunden wären. Daß man noch einige deutsche
Wörter mit es hat bestehen lassen, daß es Wörter giebt, bei denen man noch
drei l, drei in und drei t zuläßt, während man doch nur ein einziges 1, in
oder t spricht, daß man in der Endung leren le setzt, wo heute kein Mensch
mehr ein e spricht, und daß man dabei diese Schreibung auch solchen Fremd¬
wörtern geben muß, die ein i im Lateinischen oder le im Französischen nie
gehabt haben oder Neubildungen der letzten Jahrhunderte sind, das sind
Punkte, bei denen man die jetzige Aussprache unsers Trachtens hätte berück¬
sichtigen sollen. Wenn es sich auch empfiehlt, in orthographischen Dingen mit
Maß vorzugehen, so dürfen wir doch anderseits nicht vergessen, daß das Be¬
stehenlassen des Erstarrten, Abgestorbnen nichts weiter als eine unnütze Er¬
schwerung ist. Haben wir doch in unsrer jetzigen Orthographie ohnehin schon
Dinge genug, die man nicht gerade als eine Verbesserung gegenüber der mittel¬
hochdeutschen betrachten kann.

Doch dem sei, wie ihm wolle, über einen andern Punkt dürfte wohl
eine Übereinstimmung zu erzielen sein. Sollten wir je dahin kommen, uns
über eine deutsche Musteraussprache zu einigen oder eine bestehende als
mustergiltig anzuerkennen, so wird die nähere Feststellung und die erfolgreiche
Verbreitung derselben nur dadurch zu ermöglichen sein, daß wir die Ergebnisse
der Phonetik berücksichtigen.


<v. Schulze


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[0035] Phonetik in Zeitungen lassen wir meistens en weg und dehnen dafür etwas den Laut des ng, einen Laut, den wir mit zwei Buchstaben bezeichnen, obwohl er mit dem gewöhnlichen n und g gar nichts zu thun hat. Wie lächerlich und ge¬ ziert würde es klingen, wenn wir in diesen Wörtern wirklich e und n aus¬ sprechen wollten! Wir haben es also hier gar nicht mit Nachlässigkeiten in der Aussprache zu thun — denn wenn wir sprechen, wie wir schreiben, so klingt uns das unnatürlich —, sondern mit Ausspracheweisen, die sich naturgemäß entwickelt haben. Wir gehen nun selbstverständlich nicht etwa so weit, zu befürworten, die Lautschrift an Stelle unsrer jetzigen Orthographie zu setzen. Das würde un¬ möglich sein, schon aus dem Grunde, weil man dann sür jede größere Gegend eine besondre Lautschreibung aufstellen müßte. Wohl aber würden wir es mit Freuden begrüßt haben, wenn bei der amtlichen Regelung der Orthographie noch mehr Buchstaben verschwunden wären. Daß man noch einige deutsche Wörter mit es hat bestehen lassen, daß es Wörter giebt, bei denen man noch drei l, drei in und drei t zuläßt, während man doch nur ein einziges 1, in oder t spricht, daß man in der Endung leren le setzt, wo heute kein Mensch mehr ein e spricht, und daß man dabei diese Schreibung auch solchen Fremd¬ wörtern geben muß, die ein i im Lateinischen oder le im Französischen nie gehabt haben oder Neubildungen der letzten Jahrhunderte sind, das sind Punkte, bei denen man die jetzige Aussprache unsers Trachtens hätte berück¬ sichtigen sollen. Wenn es sich auch empfiehlt, in orthographischen Dingen mit Maß vorzugehen, so dürfen wir doch anderseits nicht vergessen, daß das Be¬ stehenlassen des Erstarrten, Abgestorbnen nichts weiter als eine unnütze Er¬ schwerung ist. Haben wir doch in unsrer jetzigen Orthographie ohnehin schon Dinge genug, die man nicht gerade als eine Verbesserung gegenüber der mittel¬ hochdeutschen betrachten kann. Doch dem sei, wie ihm wolle, über einen andern Punkt dürfte wohl eine Übereinstimmung zu erzielen sein. Sollten wir je dahin kommen, uns über eine deutsche Musteraussprache zu einigen oder eine bestehende als mustergiltig anzuerkennen, so wird die nähere Feststellung und die erfolgreiche Verbreitung derselben nur dadurch zu ermöglichen sein, daß wir die Ergebnisse der Phonetik berücksichtigen. <v. Schulze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/35>, abgerufen am 26.05.2024.