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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Zeitgeist in Deutschland

Bahn in Fußspuren beschreibt, die ihm angehören, die Abdrücke seines Wesens
sind und Zeugnisse seines Erdenwandels. Sie ist aber auch, wie mir scheint,
mit Vorteil durchzuführen, weil nur dadurch jene geschlossene, ins einzelne
reichende auffallende Übersichtlichkeit zu erzielen ist, welche mir wertvoll und
wesentlich erscheint."

Ju der That ist bei einer Aufgabe, wie sie sich Duboc stellt, eine mög¬
lichste Begrenzung um so notwendiger "ut willkommener, als der Begriff des
Zeitgeistes selbst schwankend und vieldeutig bleibt. Er erläutert ihn als "die
Persönlichkeit der Vielen," die der Persönlichkeit des Einzelnen gegenüber eine
ausschlaggebende Bedeutung habe, er verhehlt sich nicht, daß dem Einzelnen
viel mehr Zeit und Genie innewohnen könne als dem Zeitgeist, meint aber,
daß dem Einzelnen gleichwohl geschichtlich nur eine untergeordnete Rolle zu-
fallen könne. "Wenn sich dem Einzelnen die geeigneten Handhaben der Ein¬
wirkung versagen, wenn er sie verschmäht oder nicht zu benutzen weiß, so kau"
er, trotz des reichsten individuellen Lebensinhaltes, für die Entwicklung seiner
Zeit wenig oder nichts bedeuten, er kann in diesem Sinne untergehen. Was
nicht untergeht, was sich als lebendiges Kraftelement herauskrystallisirt, ist
eben der Zeitgeist." Gegen diese Erklärung würde nicht viel einzuwenden sein,
wenn der Verfasser uicht eins zu sehr in den Hintergrund stellte. Dies ist
die Wandelbarkeit lind Bestimmbarkeit der Persönlichkeit der Vielen. Wenn
wir Dnboes ans scharfen Beobachtungen und mannichfachen Studien beruhende,
überall den Ernst eines warmfühlenden Denkers offenbarende Betrachtungen
und Darstellungen aufmerksam verfolgen, so nehmen wir bald wahr, daß der
Versasser die Kraft der Minderheiten innerhalb der modernen deutschen Gesell¬
schaft und für die Entwicklung des "Zeitgeistes" stark unterschätzt. Er betrachtet,
wo seiue eigne genauere Beschäftigung mit den Zeiterscheinungen und Zeitfragen
nicht ausreicht, die Zeitungen allzu willig als getreue und unbefangene Spiegel
der gesellschaftlichen Stimmungen, der Geschmacksrichtungen, sobald es sich
darum handelt, "das geistige Gesamtleben der Stammgenosse", wie es sich in der
Gegenwart im Meinen und Urteilen, in Empfindung und Geschmack, im Streben
und Wollen gestaltet hat," zu schildern. Er vergißt, daß auf allen Lebens-
und Schaffensgebieten jene "rückläufigen Bewegungen im Zeitgeist," die er
auf seinem eigensten, dem philosophischen Gebiete, so fein und vortrefflich
beobachtet und darstellt, fort und fort stattfanden "ut stattfinden, daß die
Geschmacksurteile und Empfindungen der höher begabten Minderheit, die von
der Tagespresse entweder ganz übersehen oder in flüchtig unzulänglicher Weise
gespiegelt werden, sich nach Verlauf eiuer gewissen Zeit entweder in Bewußtsein
der Mehrheit oder in herrschende Überlieferung wandeln, sonnt "Zeitgeist"
werden müssen. Dieser Wandlungsprozeß aber ist stumm und in gewissem
Sinne selbst unsichtbar; zwischen der Zeit, wo die verehrlichen Spiegel des
Zeitgeistes Schöpfungen der Kunst oder Erkenntnisse der Wissenschaft entweder


Hundert Jahre Zeitgeist in Deutschland

Bahn in Fußspuren beschreibt, die ihm angehören, die Abdrücke seines Wesens
sind und Zeugnisse seines Erdenwandels. Sie ist aber auch, wie mir scheint,
mit Vorteil durchzuführen, weil nur dadurch jene geschlossene, ins einzelne
reichende auffallende Übersichtlichkeit zu erzielen ist, welche mir wertvoll und
wesentlich erscheint."

Ju der That ist bei einer Aufgabe, wie sie sich Duboc stellt, eine mög¬
lichste Begrenzung um so notwendiger »ut willkommener, als der Begriff des
Zeitgeistes selbst schwankend und vieldeutig bleibt. Er erläutert ihn als „die
Persönlichkeit der Vielen," die der Persönlichkeit des Einzelnen gegenüber eine
ausschlaggebende Bedeutung habe, er verhehlt sich nicht, daß dem Einzelnen
viel mehr Zeit und Genie innewohnen könne als dem Zeitgeist, meint aber,
daß dem Einzelnen gleichwohl geschichtlich nur eine untergeordnete Rolle zu-
fallen könne. „Wenn sich dem Einzelnen die geeigneten Handhaben der Ein¬
wirkung versagen, wenn er sie verschmäht oder nicht zu benutzen weiß, so kau»
er, trotz des reichsten individuellen Lebensinhaltes, für die Entwicklung seiner
Zeit wenig oder nichts bedeuten, er kann in diesem Sinne untergehen. Was
nicht untergeht, was sich als lebendiges Kraftelement herauskrystallisirt, ist
eben der Zeitgeist." Gegen diese Erklärung würde nicht viel einzuwenden sein,
wenn der Verfasser uicht eins zu sehr in den Hintergrund stellte. Dies ist
die Wandelbarkeit lind Bestimmbarkeit der Persönlichkeit der Vielen. Wenn
wir Dnboes ans scharfen Beobachtungen und mannichfachen Studien beruhende,
überall den Ernst eines warmfühlenden Denkers offenbarende Betrachtungen
und Darstellungen aufmerksam verfolgen, so nehmen wir bald wahr, daß der
Versasser die Kraft der Minderheiten innerhalb der modernen deutschen Gesell¬
schaft und für die Entwicklung des „Zeitgeistes" stark unterschätzt. Er betrachtet,
wo seiue eigne genauere Beschäftigung mit den Zeiterscheinungen und Zeitfragen
nicht ausreicht, die Zeitungen allzu willig als getreue und unbefangene Spiegel
der gesellschaftlichen Stimmungen, der Geschmacksrichtungen, sobald es sich
darum handelt, „das geistige Gesamtleben der Stammgenosse», wie es sich in der
Gegenwart im Meinen und Urteilen, in Empfindung und Geschmack, im Streben
und Wollen gestaltet hat," zu schildern. Er vergißt, daß auf allen Lebens-
und Schaffensgebieten jene „rückläufigen Bewegungen im Zeitgeist," die er
auf seinem eigensten, dem philosophischen Gebiete, so fein und vortrefflich
beobachtet und darstellt, fort und fort stattfanden »ut stattfinden, daß die
Geschmacksurteile und Empfindungen der höher begabten Minderheit, die von
der Tagespresse entweder ganz übersehen oder in flüchtig unzulänglicher Weise
gespiegelt werden, sich nach Verlauf eiuer gewissen Zeit entweder in Bewußtsein
der Mehrheit oder in herrschende Überlieferung wandeln, sonnt „Zeitgeist"
werden müssen. Dieser Wandlungsprozeß aber ist stumm und in gewissem
Sinne selbst unsichtbar; zwischen der Zeit, wo die verehrlichen Spiegel des
Zeitgeistes Schöpfungen der Kunst oder Erkenntnisse der Wissenschaft entweder


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[0122] Hundert Jahre Zeitgeist in Deutschland Bahn in Fußspuren beschreibt, die ihm angehören, die Abdrücke seines Wesens sind und Zeugnisse seines Erdenwandels. Sie ist aber auch, wie mir scheint, mit Vorteil durchzuführen, weil nur dadurch jene geschlossene, ins einzelne reichende auffallende Übersichtlichkeit zu erzielen ist, welche mir wertvoll und wesentlich erscheint." Ju der That ist bei einer Aufgabe, wie sie sich Duboc stellt, eine mög¬ lichste Begrenzung um so notwendiger »ut willkommener, als der Begriff des Zeitgeistes selbst schwankend und vieldeutig bleibt. Er erläutert ihn als „die Persönlichkeit der Vielen," die der Persönlichkeit des Einzelnen gegenüber eine ausschlaggebende Bedeutung habe, er verhehlt sich nicht, daß dem Einzelnen viel mehr Zeit und Genie innewohnen könne als dem Zeitgeist, meint aber, daß dem Einzelnen gleichwohl geschichtlich nur eine untergeordnete Rolle zu- fallen könne. „Wenn sich dem Einzelnen die geeigneten Handhaben der Ein¬ wirkung versagen, wenn er sie verschmäht oder nicht zu benutzen weiß, so kau» er, trotz des reichsten individuellen Lebensinhaltes, für die Entwicklung seiner Zeit wenig oder nichts bedeuten, er kann in diesem Sinne untergehen. Was nicht untergeht, was sich als lebendiges Kraftelement herauskrystallisirt, ist eben der Zeitgeist." Gegen diese Erklärung würde nicht viel einzuwenden sein, wenn der Verfasser uicht eins zu sehr in den Hintergrund stellte. Dies ist die Wandelbarkeit lind Bestimmbarkeit der Persönlichkeit der Vielen. Wenn wir Dnboes ans scharfen Beobachtungen und mannichfachen Studien beruhende, überall den Ernst eines warmfühlenden Denkers offenbarende Betrachtungen und Darstellungen aufmerksam verfolgen, so nehmen wir bald wahr, daß der Versasser die Kraft der Minderheiten innerhalb der modernen deutschen Gesell¬ schaft und für die Entwicklung des „Zeitgeistes" stark unterschätzt. Er betrachtet, wo seiue eigne genauere Beschäftigung mit den Zeiterscheinungen und Zeitfragen nicht ausreicht, die Zeitungen allzu willig als getreue und unbefangene Spiegel der gesellschaftlichen Stimmungen, der Geschmacksrichtungen, sobald es sich darum handelt, „das geistige Gesamtleben der Stammgenosse», wie es sich in der Gegenwart im Meinen und Urteilen, in Empfindung und Geschmack, im Streben und Wollen gestaltet hat," zu schildern. Er vergißt, daß auf allen Lebens- und Schaffensgebieten jene „rückläufigen Bewegungen im Zeitgeist," die er auf seinem eigensten, dem philosophischen Gebiete, so fein und vortrefflich beobachtet und darstellt, fort und fort stattfanden »ut stattfinden, daß die Geschmacksurteile und Empfindungen der höher begabten Minderheit, die von der Tagespresse entweder ganz übersehen oder in flüchtig unzulänglicher Weise gespiegelt werden, sich nach Verlauf eiuer gewissen Zeit entweder in Bewußtsein der Mehrheit oder in herrschende Überlieferung wandeln, sonnt „Zeitgeist" werden müssen. Dieser Wandlungsprozeß aber ist stumm und in gewissem Sinne selbst unsichtbar; zwischen der Zeit, wo die verehrlichen Spiegel des Zeitgeistes Schöpfungen der Kunst oder Erkenntnisse der Wissenschaft entweder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/122>, abgerufen am 13.05.2024.