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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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geringschätzig ignoriren oder lüstern, "ut der, wo sie die Anerkennung derselben
Schöpfungen und Leistungen als eisernen Bestandteil der Bildung voraussetzen,
liegen Jahre und Jahrzehnte. Wollte man nnn annehmen, daß alle diese
Wasserläufe im Sande verrinnen müßten und nicht in LUvvuiri 83,ng'umhin
des Zeitkörpers umgesetzt würden, so liefe man Gefahr, dem "Zeitgeiste" gerade
alles das abzusprechen, wodurch er sich zu unserm Gluck noch vom Zeitgeist
des sinkenden Rom und Byzanz unterscheidet. Duboc denkt natürlich nicht
hieran, aber in der Besorgnis, geistige Erscheinungen mit zu schätzen, die bei
den "Vielen" noch nicht ins Gewicht fallen, geht er entschieden zu weit.

Doch gegenüber der sonstigen Bedeutung des interessante" und auch da,
wo man mit ihm nicht in Einklang ist, anregenden Buches will dieser Vor¬
behalt wenig besagen. Der Verfasser hat seiner Umschau über das Jahr¬
hundert, die sich im wesentlichen zur Umschau über die unmittelbare Gegenwart
gestaltet, das Lessingsche Wort vorangesetzt: "Wahrheit ist der Seele not¬
wendig, und es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Be¬
dürfnisses den geringsten Zwang anzuthun." Es ist also zunächst ein persön¬
liches Bedürfnis unsers Verfassers, sich mit den Erscheinungen der Zeit und
namentlich mit denen auseinanderzusetzen, die übermächtig und übermütig
herandrvheud, wenn nicht unsre gesamte Kultur, doch deren mögliche friedliche
und gedeihliche Weiterentwicklung in Frage stellen. Nun ist es schwer, mit
dem Einzelnen darüber zu rechtem, wie hoch er hierbei die Stärke und Macht
namentlich der geistigen Erscheinungen anschlagen will, denen er sich entschlossen
entgegenwirft. Den Schwimmer im Strom umrauschen die Wogen, die er
teilt, anders als den Beobachter am Ufer. Und da nun der Leser eiues Buches
wie des Dubvcscheu den Einzelfragen gegenüber bald Mitschwimmer, bald
Beobachter im Trocknen zu sein pflegt, so wirkt das, was dem Verfasser als
Wahrheit gilt, bald mehr, bald minder überzeugend. Unter keinen Umständen
kann man sich aber dem Eindruck entziehen, daß hier eine tiefer angelegte, in
ernster Arbeit und stetem, Nachdenken gereifte Natur, die das Leben, die Auf¬
gaben der Menschheit wie des Einzelnen nicht leicht nimmt, nach Wahrheit
trachtet. Und so wird denn jeder Leser den Ausführungen Dubocs über "die
metaphysische Periode des Zeitgeistes," den "realistischen Idealismus der vier¬
ziger Jahre," den "Pessimismus," den "ethischen Materialismus und seine
Einwirkungen," den "naturalistischen Realismus," die "rückläufigen Bewegungen
im, Zeitgeist" und endlich über "Evolution und Revolution" willig oder un¬
willig, oft mit zustimmenden Anteil, immer mit Belehrung folgen. Unter jeder
dieser Kapitelüberschriften birgt sich eine Fülle von Einzelerörtcrungen. Greifen
wir mir ein Kapitel wie das vierte, über den ethischen Materialismus und
seine Einwirkungen, heraus. Es handelt nach einer kurzen Einleitung von dem
doppelseitigen Charakter des ethischen Materialismus, bespricht die Gründer¬
periode und die Signatur der aus ihr hervorgegangenen Gesellschaft, geht


geringschätzig ignoriren oder lüstern, »ut der, wo sie die Anerkennung derselben
Schöpfungen und Leistungen als eisernen Bestandteil der Bildung voraussetzen,
liegen Jahre und Jahrzehnte. Wollte man nnn annehmen, daß alle diese
Wasserläufe im Sande verrinnen müßten und nicht in LUvvuiri 83,ng'umhin
des Zeitkörpers umgesetzt würden, so liefe man Gefahr, dem „Zeitgeiste" gerade
alles das abzusprechen, wodurch er sich zu unserm Gluck noch vom Zeitgeist
des sinkenden Rom und Byzanz unterscheidet. Duboc denkt natürlich nicht
hieran, aber in der Besorgnis, geistige Erscheinungen mit zu schätzen, die bei
den „Vielen" noch nicht ins Gewicht fallen, geht er entschieden zu weit.

Doch gegenüber der sonstigen Bedeutung des interessante» und auch da,
wo man mit ihm nicht in Einklang ist, anregenden Buches will dieser Vor¬
behalt wenig besagen. Der Verfasser hat seiner Umschau über das Jahr¬
hundert, die sich im wesentlichen zur Umschau über die unmittelbare Gegenwart
gestaltet, das Lessingsche Wort vorangesetzt: „Wahrheit ist der Seele not¬
wendig, und es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Be¬
dürfnisses den geringsten Zwang anzuthun." Es ist also zunächst ein persön¬
liches Bedürfnis unsers Verfassers, sich mit den Erscheinungen der Zeit und
namentlich mit denen auseinanderzusetzen, die übermächtig und übermütig
herandrvheud, wenn nicht unsre gesamte Kultur, doch deren mögliche friedliche
und gedeihliche Weiterentwicklung in Frage stellen. Nun ist es schwer, mit
dem Einzelnen darüber zu rechtem, wie hoch er hierbei die Stärke und Macht
namentlich der geistigen Erscheinungen anschlagen will, denen er sich entschlossen
entgegenwirft. Den Schwimmer im Strom umrauschen die Wogen, die er
teilt, anders als den Beobachter am Ufer. Und da nun der Leser eiues Buches
wie des Dubvcscheu den Einzelfragen gegenüber bald Mitschwimmer, bald
Beobachter im Trocknen zu sein pflegt, so wirkt das, was dem Verfasser als
Wahrheit gilt, bald mehr, bald minder überzeugend. Unter keinen Umständen
kann man sich aber dem Eindruck entziehen, daß hier eine tiefer angelegte, in
ernster Arbeit und stetem, Nachdenken gereifte Natur, die das Leben, die Auf¬
gaben der Menschheit wie des Einzelnen nicht leicht nimmt, nach Wahrheit
trachtet. Und so wird denn jeder Leser den Ausführungen Dubocs über „die
metaphysische Periode des Zeitgeistes," den „realistischen Idealismus der vier¬
ziger Jahre," den „Pessimismus," den „ethischen Materialismus und seine
Einwirkungen," den „naturalistischen Realismus," die „rückläufigen Bewegungen
im, Zeitgeist" und endlich über „Evolution und Revolution" willig oder un¬
willig, oft mit zustimmenden Anteil, immer mit Belehrung folgen. Unter jeder
dieser Kapitelüberschriften birgt sich eine Fülle von Einzelerörtcrungen. Greifen
wir mir ein Kapitel wie das vierte, über den ethischen Materialismus und
seine Einwirkungen, heraus. Es handelt nach einer kurzen Einleitung von dem
doppelseitigen Charakter des ethischen Materialismus, bespricht die Gründer¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/123>, abgerufen am 06.06.2024.