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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der ehrliche Makler

Handeln stützen möchte. Grundsätze können nicht leidenschaftlich oder vorurteils-
voll verfochten werden, ohne ihren Wert als solche und darum ihre Beweis¬
kraft einzubüßen. Der Wille soll eben schweigen, so lange der Verstand berät;
ist doch das Vorurteil nichts als die Projektion des Willens, des unbewußten
Wollens auf das Denken. Ein Zweikampf der Begriffe kann weder die Ruhe
stören noch den Frieden beeinträchtigen. Vielleicht ließe sich mit Hilfe dieses
"ehrlichen Makkers," der wissenschaftlichen Philosophie, ein Mittelweg finden,
der weder das Aufgehen des Staates in einen unterschiedslosen "Gemeinstaat"
noch die Beibehaltung der beklagten Mißbräuche nötig machte, den berechtigten
Ansprüchen der Arbeit wie des Kapitals gleichmäßig Rechnung trüge. Gleich¬
zeitig wäre das eine Art "internationaler Konferenz." Denn wie das Kapital
und die Arbeit, so ist auch die Wissenschaft ein Bindeglied der Völker, das
noch dazu nur einen freundlichen Wetteifer, keinen feindlichen und gehässigen
"Kampf ums Dasein" kennt, und da die Bedingungen des latenten Bürger¬
krieges, den wir die "soziale Frage" nennen, in allen Staaten Europas über¬
eintreffen, so werden auch die Mittel ihrer Umgestaltung im Sinne des Friedens¬
schlusses überall dieselbe" sein. Als eine Probe dieser Vermittlung mag aber
eine kurze Besprechung des Materialismus dienen, der jn beiden Parteien
gleichmäßig vorgeworfen wird, und dessen Einfluß unleugbar seit seinem ersten
Auftreten in Deutschland nach Hegels Sturze gestiegen ist.

Eigentlich sollte man glauben, der Materialismus als Weltanschauung
müsse längst den wiederholten Schlägen der wissenschaftlichen Philosophen er¬
legen sein. Fechner und Lotze, beides Mediziner, nahmen gegen ihn Partei;
Dubois-Reymond, seine Hoffnung, sprach gegen ihn sein sprichwörtlich ge¬
wordenes iMvrMmus aus. F. A. Lauge wies ihn mit liebevoller Schonung
aus dem Tempel der Philosophie, wo er sich nach dem Verschwinden
der Hegelianer breit gemacht hatte. Aber sie alle bedienten sich der gehalt¬
vollen Sprache der Wissenschaft, während die Vogt, Büchner, Moleschott der
Masse des Volkes diese Sprache in dünnster Lösung kredenzten; Fechner, Lotze,
Lange, Wundt sind hente noch unbekannte Größen, Büchners "Kraft und Stoff"
ist beinahe ein Volksbuch geworden. Der Grund liegt in der besagten Vor¬
bildung unsrer Gebildeten, die -- abgesehen von den philosophischen Zwangs¬
kursen bei den Philologen -- sich mit derlei "Allotria" nicht abzugeben
brauchen.

So konnte es denn geschehen, daß vor den letzten Wahlen in einer kleinen
märkischen Stadt ein sozialdemvkratischer Tapezierergchilfe zwei Ghmnasialober-
lehrer und einen Geistlichen in Sachen des Materialismus so jämmerlich in
die Flucht schlug, daß selbst der aufsichtführeude Beamte bedauernd nieder¬
schrieb: "Sie waren dem p. p. X (sagen wir "Genossen Meier") aber nicht
gewachsen"! Ja noch schlimmer, ein großer Teil unsrer Gebildeten ist selbst
materialistisch gesinnt, wenn nicht ans philosophischen Erwägungen, so doch,


Der ehrliche Makler

Handeln stützen möchte. Grundsätze können nicht leidenschaftlich oder vorurteils-
voll verfochten werden, ohne ihren Wert als solche und darum ihre Beweis¬
kraft einzubüßen. Der Wille soll eben schweigen, so lange der Verstand berät;
ist doch das Vorurteil nichts als die Projektion des Willens, des unbewußten
Wollens auf das Denken. Ein Zweikampf der Begriffe kann weder die Ruhe
stören noch den Frieden beeinträchtigen. Vielleicht ließe sich mit Hilfe dieses
„ehrlichen Makkers," der wissenschaftlichen Philosophie, ein Mittelweg finden,
der weder das Aufgehen des Staates in einen unterschiedslosen „Gemeinstaat"
noch die Beibehaltung der beklagten Mißbräuche nötig machte, den berechtigten
Ansprüchen der Arbeit wie des Kapitals gleichmäßig Rechnung trüge. Gleich¬
zeitig wäre das eine Art „internationaler Konferenz." Denn wie das Kapital
und die Arbeit, so ist auch die Wissenschaft ein Bindeglied der Völker, das
noch dazu nur einen freundlichen Wetteifer, keinen feindlichen und gehässigen
„Kampf ums Dasein" kennt, und da die Bedingungen des latenten Bürger¬
krieges, den wir die „soziale Frage" nennen, in allen Staaten Europas über¬
eintreffen, so werden auch die Mittel ihrer Umgestaltung im Sinne des Friedens¬
schlusses überall dieselbe» sein. Als eine Probe dieser Vermittlung mag aber
eine kurze Besprechung des Materialismus dienen, der jn beiden Parteien
gleichmäßig vorgeworfen wird, und dessen Einfluß unleugbar seit seinem ersten
Auftreten in Deutschland nach Hegels Sturze gestiegen ist.

Eigentlich sollte man glauben, der Materialismus als Weltanschauung
müsse längst den wiederholten Schlägen der wissenschaftlichen Philosophen er¬
legen sein. Fechner und Lotze, beides Mediziner, nahmen gegen ihn Partei;
Dubois-Reymond, seine Hoffnung, sprach gegen ihn sein sprichwörtlich ge¬
wordenes iMvrMmus aus. F. A. Lauge wies ihn mit liebevoller Schonung
aus dem Tempel der Philosophie, wo er sich nach dem Verschwinden
der Hegelianer breit gemacht hatte. Aber sie alle bedienten sich der gehalt¬
vollen Sprache der Wissenschaft, während die Vogt, Büchner, Moleschott der
Masse des Volkes diese Sprache in dünnster Lösung kredenzten; Fechner, Lotze,
Lange, Wundt sind hente noch unbekannte Größen, Büchners „Kraft und Stoff"
ist beinahe ein Volksbuch geworden. Der Grund liegt in der besagten Vor¬
bildung unsrer Gebildeten, die — abgesehen von den philosophischen Zwangs¬
kursen bei den Philologen — sich mit derlei „Allotria" nicht abzugeben
brauchen.

So konnte es denn geschehen, daß vor den letzten Wahlen in einer kleinen
märkischen Stadt ein sozialdemvkratischer Tapezierergchilfe zwei Ghmnasialober-
lehrer und einen Geistlichen in Sachen des Materialismus so jämmerlich in
die Flucht schlug, daß selbst der aufsichtführeude Beamte bedauernd nieder¬
schrieb: „Sie waren dem p. p. X (sagen wir »Genossen Meier«) aber nicht
gewachsen"! Ja noch schlimmer, ein großer Teil unsrer Gebildeten ist selbst
materialistisch gesinnt, wenn nicht ans philosophischen Erwägungen, so doch,


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[0156] Der ehrliche Makler Handeln stützen möchte. Grundsätze können nicht leidenschaftlich oder vorurteils- voll verfochten werden, ohne ihren Wert als solche und darum ihre Beweis¬ kraft einzubüßen. Der Wille soll eben schweigen, so lange der Verstand berät; ist doch das Vorurteil nichts als die Projektion des Willens, des unbewußten Wollens auf das Denken. Ein Zweikampf der Begriffe kann weder die Ruhe stören noch den Frieden beeinträchtigen. Vielleicht ließe sich mit Hilfe dieses „ehrlichen Makkers," der wissenschaftlichen Philosophie, ein Mittelweg finden, der weder das Aufgehen des Staates in einen unterschiedslosen „Gemeinstaat" noch die Beibehaltung der beklagten Mißbräuche nötig machte, den berechtigten Ansprüchen der Arbeit wie des Kapitals gleichmäßig Rechnung trüge. Gleich¬ zeitig wäre das eine Art „internationaler Konferenz." Denn wie das Kapital und die Arbeit, so ist auch die Wissenschaft ein Bindeglied der Völker, das noch dazu nur einen freundlichen Wetteifer, keinen feindlichen und gehässigen „Kampf ums Dasein" kennt, und da die Bedingungen des latenten Bürger¬ krieges, den wir die „soziale Frage" nennen, in allen Staaten Europas über¬ eintreffen, so werden auch die Mittel ihrer Umgestaltung im Sinne des Friedens¬ schlusses überall dieselbe» sein. Als eine Probe dieser Vermittlung mag aber eine kurze Besprechung des Materialismus dienen, der jn beiden Parteien gleichmäßig vorgeworfen wird, und dessen Einfluß unleugbar seit seinem ersten Auftreten in Deutschland nach Hegels Sturze gestiegen ist. Eigentlich sollte man glauben, der Materialismus als Weltanschauung müsse längst den wiederholten Schlägen der wissenschaftlichen Philosophen er¬ legen sein. Fechner und Lotze, beides Mediziner, nahmen gegen ihn Partei; Dubois-Reymond, seine Hoffnung, sprach gegen ihn sein sprichwörtlich ge¬ wordenes iMvrMmus aus. F. A. Lauge wies ihn mit liebevoller Schonung aus dem Tempel der Philosophie, wo er sich nach dem Verschwinden der Hegelianer breit gemacht hatte. Aber sie alle bedienten sich der gehalt¬ vollen Sprache der Wissenschaft, während die Vogt, Büchner, Moleschott der Masse des Volkes diese Sprache in dünnster Lösung kredenzten; Fechner, Lotze, Lange, Wundt sind hente noch unbekannte Größen, Büchners „Kraft und Stoff" ist beinahe ein Volksbuch geworden. Der Grund liegt in der besagten Vor¬ bildung unsrer Gebildeten, die — abgesehen von den philosophischen Zwangs¬ kursen bei den Philologen — sich mit derlei „Allotria" nicht abzugeben brauchen. So konnte es denn geschehen, daß vor den letzten Wahlen in einer kleinen märkischen Stadt ein sozialdemvkratischer Tapezierergchilfe zwei Ghmnasialober- lehrer und einen Geistlichen in Sachen des Materialismus so jämmerlich in die Flucht schlug, daß selbst der aufsichtführeude Beamte bedauernd nieder¬ schrieb: „Sie waren dem p. p. X (sagen wir »Genossen Meier«) aber nicht gewachsen"! Ja noch schlimmer, ein großer Teil unsrer Gebildeten ist selbst materialistisch gesinnt, wenn nicht ans philosophischen Erwägungen, so doch,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/156>, abgerufen am 17.06.2024.