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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der ehrliche Makler

Weil sie mit dem Glauben ihrer Väter gebrochen und ihre eigne leibliche Wohl¬
fahrt an die Stelle der zertrümmerten Gesetzestafeln des alten und neuen
Bundes gerückt haben. So bleibt die Bekämpfung dieser Irrlehre, die einer
Partei als solcher uicht gelingen turn, weil Parteien überhaupt nicht sür oder
gegen Lehrmeinungen, sondern für oder gegen Interessen kämpfen, der un¬
parteiischen Wissenschaft überlassen, die die Beweisgründe aller Überzeugungen
prüft und je nach ihrer Haltbarkeit über ihre Zulässigkeit entscheidet.

Die Behauptung, daß Kraft und Stoff, Materie und Bewegung das
Wesen aller Dinge ausmachten, daß unser Denken und Fühlen nur eine Form
derselben Bewegung sei, die sich in den Schwingungen des Äthers wie im
Pulsschläge unsers Blutes äußere, daß unser Bewußtsein endlich nur eine
"Ausscheidung des Hirnes" sei, wie es Cabanis wirklich getauft hat, erscheint
auf den ersten Blick sehr einleuchtend: wir finden keine Seele, und wenn wir
noch so sorgfältig die ganze Körperwelt absuchen. Aber ein wenig Selbst¬
besinnung hilft doch über diese Täuschung hinweg. Die Bewegung nehmen Nur
wahr. Wodurch? Durch unsre Sinne. Wie nehmen wir aber unsre Sinne
selbst wahr? Wie kommen wir überhaupt dazu, von Sinnen zu reden? Weil
wir sie sehen? Aber zum Sehen gehört doch selbst wieder ein Sinn, und wie
nehmen wir diesen wahr? Und ohne ihn könnten wir doch nur zu dem Hirn
gelangen, das angeblich unser Bewußtsein "ausscheidet." Da bleibt uns denn
nichts übrig, als zu sagen, wir nehmen es wahr durch unsre "Wahrnehmung,"
die also als Erstes keine Wirkung des Zweiten sein kann. Wie nehmen wir
aber erst unsre Gefühle wahr? z. B. den Hochgenuß eines Pschorr? Doch
nur, indem wir es fühlen. So haben wir zwei Vorgänge in unserm Bewußt¬
sein entdeckt, die sich von einander sehr fühlbar unterscheiden: unsre Sinnes-
empfindungen oder Wahrnehmungen und unsre Gefühle. Die einen zeichnen
sich dadurch aus, daß sie allein eine räumliche Gliederung, die zweiten, daß
sie nur eine zeitliche Messung erleiden. Was man "Stoss" nennt, ist also in
Wahrheit uur die Gesamtheit aller je erfahrenen und möglichen Sinnes-
empfindungen, bezeichnet also gar keinen begrenzbaren Gegenstand, sondern, mit
Kant zu reden, nur alle "Gegenstände einer möglichen äußern Erfahrung."
Die Sinne selbst sind nur Gruppen von Empsindungsvorgäugeu. "Kraft"
nennen wir die Gesamtheit der räumlichen und zeitlichen Beziehungen, die
zwischen diesen Empfindungen stattfinden; selbst Raum und Zeit siud Begriffe,
die sich nachweisbar aus Sinnesempfindungen einfachster Art entwickelt haben.
Im Grunde genommen giebt es also nur Seele, und der "Körper" ist eine
Selbsttäuschung. Die andre Reihe von Vewnßtseinsvvrgängen, die wir "Ge¬
fühle" nennen, sind einer Messung nach dem Zeitraume fähig, der zwischen einer
bestimmten Empfindung und einem bestimmten Gefühle verfließt; aber da sie
nicht räumlich begrenzbar sind, können jene erwähnten Beziehungen der Em-
pfindungswelt nicht auf sie übertragen werde": ihre "Kraft" ist qualitativ,


Der ehrliche Makler

Weil sie mit dem Glauben ihrer Väter gebrochen und ihre eigne leibliche Wohl¬
fahrt an die Stelle der zertrümmerten Gesetzestafeln des alten und neuen
Bundes gerückt haben. So bleibt die Bekämpfung dieser Irrlehre, die einer
Partei als solcher uicht gelingen turn, weil Parteien überhaupt nicht sür oder
gegen Lehrmeinungen, sondern für oder gegen Interessen kämpfen, der un¬
parteiischen Wissenschaft überlassen, die die Beweisgründe aller Überzeugungen
prüft und je nach ihrer Haltbarkeit über ihre Zulässigkeit entscheidet.

Die Behauptung, daß Kraft und Stoff, Materie und Bewegung das
Wesen aller Dinge ausmachten, daß unser Denken und Fühlen nur eine Form
derselben Bewegung sei, die sich in den Schwingungen des Äthers wie im
Pulsschläge unsers Blutes äußere, daß unser Bewußtsein endlich nur eine
„Ausscheidung des Hirnes" sei, wie es Cabanis wirklich getauft hat, erscheint
auf den ersten Blick sehr einleuchtend: wir finden keine Seele, und wenn wir
noch so sorgfältig die ganze Körperwelt absuchen. Aber ein wenig Selbst¬
besinnung hilft doch über diese Täuschung hinweg. Die Bewegung nehmen Nur
wahr. Wodurch? Durch unsre Sinne. Wie nehmen wir aber unsre Sinne
selbst wahr? Wie kommen wir überhaupt dazu, von Sinnen zu reden? Weil
wir sie sehen? Aber zum Sehen gehört doch selbst wieder ein Sinn, und wie
nehmen wir diesen wahr? Und ohne ihn könnten wir doch nur zu dem Hirn
gelangen, das angeblich unser Bewußtsein „ausscheidet." Da bleibt uns denn
nichts übrig, als zu sagen, wir nehmen es wahr durch unsre „Wahrnehmung,"
die also als Erstes keine Wirkung des Zweiten sein kann. Wie nehmen wir
aber erst unsre Gefühle wahr? z. B. den Hochgenuß eines Pschorr? Doch
nur, indem wir es fühlen. So haben wir zwei Vorgänge in unserm Bewußt¬
sein entdeckt, die sich von einander sehr fühlbar unterscheiden: unsre Sinnes-
empfindungen oder Wahrnehmungen und unsre Gefühle. Die einen zeichnen
sich dadurch aus, daß sie allein eine räumliche Gliederung, die zweiten, daß
sie nur eine zeitliche Messung erleiden. Was man „Stoss" nennt, ist also in
Wahrheit uur die Gesamtheit aller je erfahrenen und möglichen Sinnes-
empfindungen, bezeichnet also gar keinen begrenzbaren Gegenstand, sondern, mit
Kant zu reden, nur alle „Gegenstände einer möglichen äußern Erfahrung."
Die Sinne selbst sind nur Gruppen von Empsindungsvorgäugeu. „Kraft"
nennen wir die Gesamtheit der räumlichen und zeitlichen Beziehungen, die
zwischen diesen Empfindungen stattfinden; selbst Raum und Zeit siud Begriffe,
die sich nachweisbar aus Sinnesempfindungen einfachster Art entwickelt haben.
Im Grunde genommen giebt es also nur Seele, und der „Körper" ist eine
Selbsttäuschung. Die andre Reihe von Vewnßtseinsvvrgängen, die wir „Ge¬
fühle" nennen, sind einer Messung nach dem Zeitraume fähig, der zwischen einer
bestimmten Empfindung und einem bestimmten Gefühle verfließt; aber da sie
nicht räumlich begrenzbar sind, können jene erwähnten Beziehungen der Em-
pfindungswelt nicht auf sie übertragen werde«: ihre „Kraft" ist qualitativ,


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[0157] Der ehrliche Makler Weil sie mit dem Glauben ihrer Väter gebrochen und ihre eigne leibliche Wohl¬ fahrt an die Stelle der zertrümmerten Gesetzestafeln des alten und neuen Bundes gerückt haben. So bleibt die Bekämpfung dieser Irrlehre, die einer Partei als solcher uicht gelingen turn, weil Parteien überhaupt nicht sür oder gegen Lehrmeinungen, sondern für oder gegen Interessen kämpfen, der un¬ parteiischen Wissenschaft überlassen, die die Beweisgründe aller Überzeugungen prüft und je nach ihrer Haltbarkeit über ihre Zulässigkeit entscheidet. Die Behauptung, daß Kraft und Stoff, Materie und Bewegung das Wesen aller Dinge ausmachten, daß unser Denken und Fühlen nur eine Form derselben Bewegung sei, die sich in den Schwingungen des Äthers wie im Pulsschläge unsers Blutes äußere, daß unser Bewußtsein endlich nur eine „Ausscheidung des Hirnes" sei, wie es Cabanis wirklich getauft hat, erscheint auf den ersten Blick sehr einleuchtend: wir finden keine Seele, und wenn wir noch so sorgfältig die ganze Körperwelt absuchen. Aber ein wenig Selbst¬ besinnung hilft doch über diese Täuschung hinweg. Die Bewegung nehmen Nur wahr. Wodurch? Durch unsre Sinne. Wie nehmen wir aber unsre Sinne selbst wahr? Wie kommen wir überhaupt dazu, von Sinnen zu reden? Weil wir sie sehen? Aber zum Sehen gehört doch selbst wieder ein Sinn, und wie nehmen wir diesen wahr? Und ohne ihn könnten wir doch nur zu dem Hirn gelangen, das angeblich unser Bewußtsein „ausscheidet." Da bleibt uns denn nichts übrig, als zu sagen, wir nehmen es wahr durch unsre „Wahrnehmung," die also als Erstes keine Wirkung des Zweiten sein kann. Wie nehmen wir aber erst unsre Gefühle wahr? z. B. den Hochgenuß eines Pschorr? Doch nur, indem wir es fühlen. So haben wir zwei Vorgänge in unserm Bewußt¬ sein entdeckt, die sich von einander sehr fühlbar unterscheiden: unsre Sinnes- empfindungen oder Wahrnehmungen und unsre Gefühle. Die einen zeichnen sich dadurch aus, daß sie allein eine räumliche Gliederung, die zweiten, daß sie nur eine zeitliche Messung erleiden. Was man „Stoss" nennt, ist also in Wahrheit uur die Gesamtheit aller je erfahrenen und möglichen Sinnes- empfindungen, bezeichnet also gar keinen begrenzbaren Gegenstand, sondern, mit Kant zu reden, nur alle „Gegenstände einer möglichen äußern Erfahrung." Die Sinne selbst sind nur Gruppen von Empsindungsvorgäugeu. „Kraft" nennen wir die Gesamtheit der räumlichen und zeitlichen Beziehungen, die zwischen diesen Empfindungen stattfinden; selbst Raum und Zeit siud Begriffe, die sich nachweisbar aus Sinnesempfindungen einfachster Art entwickelt haben. Im Grunde genommen giebt es also nur Seele, und der „Körper" ist eine Selbsttäuschung. Die andre Reihe von Vewnßtseinsvvrgängen, die wir „Ge¬ fühle" nennen, sind einer Messung nach dem Zeitraume fähig, der zwischen einer bestimmten Empfindung und einem bestimmten Gefühle verfließt; aber da sie nicht räumlich begrenzbar sind, können jene erwähnten Beziehungen der Em- pfindungswelt nicht auf sie übertragen werde«: ihre „Kraft" ist qualitativ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/157>, abgerufen am 06.06.2024.