Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der ehrliche Makler

die ".Kraft" des "Stoffes" quantitativ. Nun but es nie an Versuchen gefehlt,
beide Arten von Bewußtseinsvorgängen auf eine gemeinschaftliche Grundlage
zurückzuführen. Die Materialisten behaupten, alles sei Empfindung, das Gefühl
sei nur ihre "subjektive Seite," so Lewes, der bekannte Goethebivgraph, und
Leon Dumont; Schopenhauer wieder möchte alles auf das Gefühl beziehen.
Den Beweis seiner Behauptung ist der Materialismus allerdings schuldig ge¬
blieben; selbst ein Physiologe, der sich in seiner eignen Abhandlung zum
Materialismus bekennt, Herzen, sagt dennoch im Vorworte: "Die Wissenschaft
kennt nur eine ständige, notwendige (?) Gleichzeitigkeit und Entsprechung der
Nervenschwiugnng und der Geistcsthntigkeit," Und Tyndall meint: "Gesetzt,
das Gefühl "Liebe" entspräche einer rechtsseitigen Spiraldrehung der Hirn¬
moleküle, das Gefühl "Haß" einer linksseitigen, so wüßten wir ja, daß im
Falle der Liebe die Bewegung nach der einen, im Falle des Hasses nach der
andern Seite erfolgt, aber das Warum würden wir darum noch immer unbe¬
antwortet lassen. . . . Der Übergang der körperlichen Bewegung im Hirn zu
den entsprechenden Thatsachen des Bewußtseins entzieht sich aller Erklärung.
Nie wird unser Denken den Abgrund überbrücken, der diese beiden Klassen
von Erscheinungen trennt." "Körper" und "Seele," richtiger Empfindungen
und Gefühle gehen also beständig neben einander, wo die eine ist, ist auch das
andre, und der Materialismus ist eine plumpe Verkennung der thatsächlichsten
Thatsächlichkeit, eine oberflächliche Verallgemeinerung und gehört nicht in die
Wissenschaft.

Wie ist es denn aber möglich, daß nicht nur die Masse der Halbgebildeten,
sondern tüchtige Gelehrte und Forscher dem Materialismus anheimfallen? Ganz
einfach: sie haben durch die ausschließliche Beschäftigung mit den Naturwissen¬
schaften den eignen Geist vollkommen aus den Angen verloren und über der
ausschließlichen Beschäftigung mit Empfindungen ganz vergessen, daß es auch
Gefühle giebt. Der Irrtum wäre harmlos, wenn er nicht durch seine Gegen¬
wirkung auf die Wertschätzung der geistigem Ziele eine einseitige Bezugnahme
nur auf die leibliche Wohlfahrt erzielte und namentlich bei seinen minder¬
gebildeten Bekennern eine gefährliche Verkennung des Ideals in Wissenschaft,
Kunst und Leben bewirkte. Ist der Körper das Wesen des Menschen, so mich
für ihn zuerst gesorgt werden; seine "Ausscheidung," die Seele, hat dann mir
einen Verhüttniswert. Da aber die alten Vorurteile über Sittlichkeit und
Glauben samt und sonders auf der Annahme eines Ideals beruhen, dem unsre
Zeit allerdings, wenigstens die Wissenschaft unsrer Zeit entwachsen ist, so
schüttet der Materialismus das Kind mit dein Bade aus und wirft mit den
Vorurteilen die Sittlichkeit und deu Glauben über Bord. Und das gilt nicht
nur von unsern Sozialdemokraten. Unsre Aufgabe kaun es aber nicht sein,
diesem Auflösungsvorgange ruhig zuzusehen, sondern Hand anzulegen, ein jeder,
wie er kann, und mit den Bausteinen, die uns die Wissenschaft darreicht, und


Der ehrliche Makler

die „.Kraft" des „Stoffes" quantitativ. Nun but es nie an Versuchen gefehlt,
beide Arten von Bewußtseinsvorgängen auf eine gemeinschaftliche Grundlage
zurückzuführen. Die Materialisten behaupten, alles sei Empfindung, das Gefühl
sei nur ihre „subjektive Seite," so Lewes, der bekannte Goethebivgraph, und
Leon Dumont; Schopenhauer wieder möchte alles auf das Gefühl beziehen.
Den Beweis seiner Behauptung ist der Materialismus allerdings schuldig ge¬
blieben; selbst ein Physiologe, der sich in seiner eignen Abhandlung zum
Materialismus bekennt, Herzen, sagt dennoch im Vorworte: „Die Wissenschaft
kennt nur eine ständige, notwendige (?) Gleichzeitigkeit und Entsprechung der
Nervenschwiugnng und der Geistcsthntigkeit," Und Tyndall meint: „Gesetzt,
das Gefühl »Liebe« entspräche einer rechtsseitigen Spiraldrehung der Hirn¬
moleküle, das Gefühl »Haß« einer linksseitigen, so wüßten wir ja, daß im
Falle der Liebe die Bewegung nach der einen, im Falle des Hasses nach der
andern Seite erfolgt, aber das Warum würden wir darum noch immer unbe¬
antwortet lassen. . . . Der Übergang der körperlichen Bewegung im Hirn zu
den entsprechenden Thatsachen des Bewußtseins entzieht sich aller Erklärung.
Nie wird unser Denken den Abgrund überbrücken, der diese beiden Klassen
von Erscheinungen trennt." „Körper" und „Seele," richtiger Empfindungen
und Gefühle gehen also beständig neben einander, wo die eine ist, ist auch das
andre, und der Materialismus ist eine plumpe Verkennung der thatsächlichsten
Thatsächlichkeit, eine oberflächliche Verallgemeinerung und gehört nicht in die
Wissenschaft.

Wie ist es denn aber möglich, daß nicht nur die Masse der Halbgebildeten,
sondern tüchtige Gelehrte und Forscher dem Materialismus anheimfallen? Ganz
einfach: sie haben durch die ausschließliche Beschäftigung mit den Naturwissen¬
schaften den eignen Geist vollkommen aus den Angen verloren und über der
ausschließlichen Beschäftigung mit Empfindungen ganz vergessen, daß es auch
Gefühle giebt. Der Irrtum wäre harmlos, wenn er nicht durch seine Gegen¬
wirkung auf die Wertschätzung der geistigem Ziele eine einseitige Bezugnahme
nur auf die leibliche Wohlfahrt erzielte und namentlich bei seinen minder¬
gebildeten Bekennern eine gefährliche Verkennung des Ideals in Wissenschaft,
Kunst und Leben bewirkte. Ist der Körper das Wesen des Menschen, so mich
für ihn zuerst gesorgt werden; seine „Ausscheidung," die Seele, hat dann mir
einen Verhüttniswert. Da aber die alten Vorurteile über Sittlichkeit und
Glauben samt und sonders auf der Annahme eines Ideals beruhen, dem unsre
Zeit allerdings, wenigstens die Wissenschaft unsrer Zeit entwachsen ist, so
schüttet der Materialismus das Kind mit dein Bade aus und wirft mit den
Vorurteilen die Sittlichkeit und deu Glauben über Bord. Und das gilt nicht
nur von unsern Sozialdemokraten. Unsre Aufgabe kaun es aber nicht sein,
diesem Auflösungsvorgange ruhig zuzusehen, sondern Hand anzulegen, ein jeder,
wie er kann, und mit den Bausteinen, die uns die Wissenschaft darreicht, und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208095"/>
          <fw type="header" place="top"> Der ehrliche Makler</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_426" prev="#ID_425"> die &#x201E;.Kraft" des &#x201E;Stoffes" quantitativ. Nun but es nie an Versuchen gefehlt,<lb/>
beide Arten von Bewußtseinsvorgängen auf eine gemeinschaftliche Grundlage<lb/>
zurückzuführen. Die Materialisten behaupten, alles sei Empfindung, das Gefühl<lb/>
sei nur ihre &#x201E;subjektive Seite," so Lewes, der bekannte Goethebivgraph, und<lb/>
Leon Dumont; Schopenhauer wieder möchte alles auf das Gefühl beziehen.<lb/>
Den Beweis seiner Behauptung ist der Materialismus allerdings schuldig ge¬<lb/>
blieben; selbst ein Physiologe, der sich in seiner eignen Abhandlung zum<lb/>
Materialismus bekennt, Herzen, sagt dennoch im Vorworte: &#x201E;Die Wissenschaft<lb/>
kennt nur eine ständige, notwendige (?) Gleichzeitigkeit und Entsprechung der<lb/>
Nervenschwiugnng und der Geistcsthntigkeit," Und Tyndall meint: &#x201E;Gesetzt,<lb/>
das Gefühl »Liebe« entspräche einer rechtsseitigen Spiraldrehung der Hirn¬<lb/>
moleküle, das Gefühl »Haß« einer linksseitigen, so wüßten wir ja, daß im<lb/>
Falle der Liebe die Bewegung nach der einen, im Falle des Hasses nach der<lb/>
andern Seite erfolgt, aber das Warum würden wir darum noch immer unbe¬<lb/>
antwortet lassen. . . . Der Übergang der körperlichen Bewegung im Hirn zu<lb/>
den entsprechenden Thatsachen des Bewußtseins entzieht sich aller Erklärung.<lb/>
Nie wird unser Denken den Abgrund überbrücken, der diese beiden Klassen<lb/>
von Erscheinungen trennt." &#x201E;Körper" und &#x201E;Seele," richtiger Empfindungen<lb/>
und Gefühle gehen also beständig neben einander, wo die eine ist, ist auch das<lb/>
andre, und der Materialismus ist eine plumpe Verkennung der thatsächlichsten<lb/>
Thatsächlichkeit, eine oberflächliche Verallgemeinerung und gehört nicht in die<lb/>
Wissenschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_427" next="#ID_428"> Wie ist es denn aber möglich, daß nicht nur die Masse der Halbgebildeten,<lb/>
sondern tüchtige Gelehrte und Forscher dem Materialismus anheimfallen? Ganz<lb/>
einfach: sie haben durch die ausschließliche Beschäftigung mit den Naturwissen¬<lb/>
schaften den eignen Geist vollkommen aus den Angen verloren und über der<lb/>
ausschließlichen Beschäftigung mit Empfindungen ganz vergessen, daß es auch<lb/>
Gefühle giebt. Der Irrtum wäre harmlos, wenn er nicht durch seine Gegen¬<lb/>
wirkung auf die Wertschätzung der geistigem Ziele eine einseitige Bezugnahme<lb/>
nur auf die leibliche Wohlfahrt erzielte und namentlich bei seinen minder¬<lb/>
gebildeten Bekennern eine gefährliche Verkennung des Ideals in Wissenschaft,<lb/>
Kunst und Leben bewirkte. Ist der Körper das Wesen des Menschen, so mich<lb/>
für ihn zuerst gesorgt werden; seine &#x201E;Ausscheidung," die Seele, hat dann mir<lb/>
einen Verhüttniswert. Da aber die alten Vorurteile über Sittlichkeit und<lb/>
Glauben samt und sonders auf der Annahme eines Ideals beruhen, dem unsre<lb/>
Zeit allerdings, wenigstens die Wissenschaft unsrer Zeit entwachsen ist, so<lb/>
schüttet der Materialismus das Kind mit dein Bade aus und wirft mit den<lb/>
Vorurteilen die Sittlichkeit und deu Glauben über Bord. Und das gilt nicht<lb/>
nur von unsern Sozialdemokraten. Unsre Aufgabe kaun es aber nicht sein,<lb/>
diesem Auflösungsvorgange ruhig zuzusehen, sondern Hand anzulegen, ein jeder,<lb/>
wie er kann, und mit den Bausteinen, die uns die Wissenschaft darreicht, und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0158] Der ehrliche Makler die „.Kraft" des „Stoffes" quantitativ. Nun but es nie an Versuchen gefehlt, beide Arten von Bewußtseinsvorgängen auf eine gemeinschaftliche Grundlage zurückzuführen. Die Materialisten behaupten, alles sei Empfindung, das Gefühl sei nur ihre „subjektive Seite," so Lewes, der bekannte Goethebivgraph, und Leon Dumont; Schopenhauer wieder möchte alles auf das Gefühl beziehen. Den Beweis seiner Behauptung ist der Materialismus allerdings schuldig ge¬ blieben; selbst ein Physiologe, der sich in seiner eignen Abhandlung zum Materialismus bekennt, Herzen, sagt dennoch im Vorworte: „Die Wissenschaft kennt nur eine ständige, notwendige (?) Gleichzeitigkeit und Entsprechung der Nervenschwiugnng und der Geistcsthntigkeit," Und Tyndall meint: „Gesetzt, das Gefühl »Liebe« entspräche einer rechtsseitigen Spiraldrehung der Hirn¬ moleküle, das Gefühl »Haß« einer linksseitigen, so wüßten wir ja, daß im Falle der Liebe die Bewegung nach der einen, im Falle des Hasses nach der andern Seite erfolgt, aber das Warum würden wir darum noch immer unbe¬ antwortet lassen. . . . Der Übergang der körperlichen Bewegung im Hirn zu den entsprechenden Thatsachen des Bewußtseins entzieht sich aller Erklärung. Nie wird unser Denken den Abgrund überbrücken, der diese beiden Klassen von Erscheinungen trennt." „Körper" und „Seele," richtiger Empfindungen und Gefühle gehen also beständig neben einander, wo die eine ist, ist auch das andre, und der Materialismus ist eine plumpe Verkennung der thatsächlichsten Thatsächlichkeit, eine oberflächliche Verallgemeinerung und gehört nicht in die Wissenschaft. Wie ist es denn aber möglich, daß nicht nur die Masse der Halbgebildeten, sondern tüchtige Gelehrte und Forscher dem Materialismus anheimfallen? Ganz einfach: sie haben durch die ausschließliche Beschäftigung mit den Naturwissen¬ schaften den eignen Geist vollkommen aus den Angen verloren und über der ausschließlichen Beschäftigung mit Empfindungen ganz vergessen, daß es auch Gefühle giebt. Der Irrtum wäre harmlos, wenn er nicht durch seine Gegen¬ wirkung auf die Wertschätzung der geistigem Ziele eine einseitige Bezugnahme nur auf die leibliche Wohlfahrt erzielte und namentlich bei seinen minder¬ gebildeten Bekennern eine gefährliche Verkennung des Ideals in Wissenschaft, Kunst und Leben bewirkte. Ist der Körper das Wesen des Menschen, so mich für ihn zuerst gesorgt werden; seine „Ausscheidung," die Seele, hat dann mir einen Verhüttniswert. Da aber die alten Vorurteile über Sittlichkeit und Glauben samt und sonders auf der Annahme eines Ideals beruhen, dem unsre Zeit allerdings, wenigstens die Wissenschaft unsrer Zeit entwachsen ist, so schüttet der Materialismus das Kind mit dein Bade aus und wirft mit den Vorurteilen die Sittlichkeit und deu Glauben über Bord. Und das gilt nicht nur von unsern Sozialdemokraten. Unsre Aufgabe kaun es aber nicht sein, diesem Auflösungsvorgange ruhig zuzusehen, sondern Hand anzulegen, ein jeder, wie er kann, und mit den Bausteinen, die uns die Wissenschaft darreicht, und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/158
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/158>, abgerufen am 12.05.2024.