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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Arbeiter wohnt in der Stadt und hat bis zum Gericht keinen weiten
Weg. Der Bauer aber wohnt auf dem Lande und muß bis zum Gericht oft
drei, vier Stunden Weges gehen. Und doch verlangt man von dem Bauer,
daß er in jedem Pnblikationstermin erscheine, oder er muß -- wozu ihm oft
gänzlich die Mittel fehlen -- Feder und Papier nehmen und sich eine Abschrift
der Entscheidung erbitten, während dem Arbeiter die Entscheidung ohne weiteres
ins Haus geschickt werden soll. Dem Arbeiter nimmt man die Last und die
Gefahr des eignen Prozeßbetriebes ab; auf dem Bauer aber, der noch weniger
davon versteht, läßt man sie haften. Dem Arbeiter soll, wenn er einen Termin
versäumt, das bisher Verhandelte zu gute kommen. Versäumt aber der Bauer
einen Termin, so bricht über ihn ohne alle Rücksicht auf das bisher Verhandelte
ein Kontnmazialerkeuntnis herein. Ist das wohl Gerechtigkeit?

Und wie ist es mit den Prozeßkvsten? Sind Arbeiter und Arbeitgeber
so viel bessere Menschen, daß sie niemals frivole und leichtfertige Prozesse an¬
fingen, die mit Verurteilung in die Kosten gebüßt werden müßten? Alle die
Gründe, die man für die Notwendigkeit hoher Prozeßkosten anzuführen Pflegt,
treffen in gleichem Maße auch für Gewerbestreitigkeiten zu. Und wenn man
nun doch für diese Streitigkeiten weit geringere Kosten festsetzt, so beweist das
eben, daß alle jene Grüude unrichtig oder übertrieben sind. Oder ist es etwa
gerechtfertigt, daß ein armes Dienstmädchen, das mit seinem Dienstherrn um
25 Mark Lohn streitet, für den Prozeß 7 Mark 20 Pf. an Hauptgebühren und
dazu noch alle Nebengebühren bezahlen muß, während die Kvnfektionsdame, wenn
sie mit ihrem Dienstherrn um denselben Lohnbetrag streitet, mit 1 Mark 50 Pf.
wegkommt? Allerdings fließen die allgemeinen Prozeßkosten in die Staats¬
kassen, während die Kosten der Gewerbeprozesse in die Gemeindekassen fließen
sollen, wo sie schwerlich ausreichen werden, um den Gemeinden die durch Schaffung
der Gewerbegerichte neu auferlegten Lasten zu decken. Aber auch dieser Gegensatz
dürste doch den gewaltigen Unterschied in der Höhe der einen und der andern
Kosten kaum rechtfertigen. Auch die Kosten der Gemeinden fallen den Staats¬
angehörigen in der Form der Gemeindeabgabeu zur Last. Ist es nun gerecht,
daß in dieser Form die Kosten einer den Arbeitgebern und Arbeitern zu ge-
wührenden wohlfeilen Justiz von den übrigen Staatsangehörigen aufgebracht
werden müssen, während diese selbst, wenn sie ihr Recht vor Gericht verfolgen,
mit schweren Kosten heimgesucht werden?

Bisher hat man immer noch den nun schon seit beinahe elf Jahren be-
stehenden Prozeß trotz seiner längst erkannten schweren Mängel und seiner un¬
erschwinglichen Kosten von gewissen Seiten zu verteidigen gesucht. Nach Erlaß
des Gesetzes über die Gewcrbegerichte ist das nicht mehr möglich. Er ist durch
dieses Gesetz verurteilt. In einer bestimmten Richtung hat der Reichstag selbst
dieser Verurteilung einen positiven Ausdruck gegeben, indem er eine Resolution
beschlossen hat, wodurch die verbündeten Regierungen ersucht werden, noch vor


Der Arbeiter wohnt in der Stadt und hat bis zum Gericht keinen weiten
Weg. Der Bauer aber wohnt auf dem Lande und muß bis zum Gericht oft
drei, vier Stunden Weges gehen. Und doch verlangt man von dem Bauer,
daß er in jedem Pnblikationstermin erscheine, oder er muß — wozu ihm oft
gänzlich die Mittel fehlen — Feder und Papier nehmen und sich eine Abschrift
der Entscheidung erbitten, während dem Arbeiter die Entscheidung ohne weiteres
ins Haus geschickt werden soll. Dem Arbeiter nimmt man die Last und die
Gefahr des eignen Prozeßbetriebes ab; auf dem Bauer aber, der noch weniger
davon versteht, läßt man sie haften. Dem Arbeiter soll, wenn er einen Termin
versäumt, das bisher Verhandelte zu gute kommen. Versäumt aber der Bauer
einen Termin, so bricht über ihn ohne alle Rücksicht auf das bisher Verhandelte
ein Kontnmazialerkeuntnis herein. Ist das wohl Gerechtigkeit?

Und wie ist es mit den Prozeßkvsten? Sind Arbeiter und Arbeitgeber
so viel bessere Menschen, daß sie niemals frivole und leichtfertige Prozesse an¬
fingen, die mit Verurteilung in die Kosten gebüßt werden müßten? Alle die
Gründe, die man für die Notwendigkeit hoher Prozeßkosten anzuführen Pflegt,
treffen in gleichem Maße auch für Gewerbestreitigkeiten zu. Und wenn man
nun doch für diese Streitigkeiten weit geringere Kosten festsetzt, so beweist das
eben, daß alle jene Grüude unrichtig oder übertrieben sind. Oder ist es etwa
gerechtfertigt, daß ein armes Dienstmädchen, das mit seinem Dienstherrn um
25 Mark Lohn streitet, für den Prozeß 7 Mark 20 Pf. an Hauptgebühren und
dazu noch alle Nebengebühren bezahlen muß, während die Kvnfektionsdame, wenn
sie mit ihrem Dienstherrn um denselben Lohnbetrag streitet, mit 1 Mark 50 Pf.
wegkommt? Allerdings fließen die allgemeinen Prozeßkosten in die Staats¬
kassen, während die Kosten der Gewerbeprozesse in die Gemeindekassen fließen
sollen, wo sie schwerlich ausreichen werden, um den Gemeinden die durch Schaffung
der Gewerbegerichte neu auferlegten Lasten zu decken. Aber auch dieser Gegensatz
dürste doch den gewaltigen Unterschied in der Höhe der einen und der andern
Kosten kaum rechtfertigen. Auch die Kosten der Gemeinden fallen den Staats¬
angehörigen in der Form der Gemeindeabgabeu zur Last. Ist es nun gerecht,
daß in dieser Form die Kosten einer den Arbeitgebern und Arbeitern zu ge-
wührenden wohlfeilen Justiz von den übrigen Staatsangehörigen aufgebracht
werden müssen, während diese selbst, wenn sie ihr Recht vor Gericht verfolgen,
mit schweren Kosten heimgesucht werden?

Bisher hat man immer noch den nun schon seit beinahe elf Jahren be-
stehenden Prozeß trotz seiner längst erkannten schweren Mängel und seiner un¬
erschwinglichen Kosten von gewissen Seiten zu verteidigen gesucht. Nach Erlaß
des Gesetzes über die Gewcrbegerichte ist das nicht mehr möglich. Er ist durch
dieses Gesetz verurteilt. In einer bestimmten Richtung hat der Reichstag selbst
dieser Verurteilung einen positiven Ausdruck gegeben, indem er eine Resolution
beschlossen hat, wodurch die verbündeten Regierungen ersucht werden, noch vor


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[0210] Der Arbeiter wohnt in der Stadt und hat bis zum Gericht keinen weiten Weg. Der Bauer aber wohnt auf dem Lande und muß bis zum Gericht oft drei, vier Stunden Weges gehen. Und doch verlangt man von dem Bauer, daß er in jedem Pnblikationstermin erscheine, oder er muß — wozu ihm oft gänzlich die Mittel fehlen — Feder und Papier nehmen und sich eine Abschrift der Entscheidung erbitten, während dem Arbeiter die Entscheidung ohne weiteres ins Haus geschickt werden soll. Dem Arbeiter nimmt man die Last und die Gefahr des eignen Prozeßbetriebes ab; auf dem Bauer aber, der noch weniger davon versteht, läßt man sie haften. Dem Arbeiter soll, wenn er einen Termin versäumt, das bisher Verhandelte zu gute kommen. Versäumt aber der Bauer einen Termin, so bricht über ihn ohne alle Rücksicht auf das bisher Verhandelte ein Kontnmazialerkeuntnis herein. Ist das wohl Gerechtigkeit? Und wie ist es mit den Prozeßkvsten? Sind Arbeiter und Arbeitgeber so viel bessere Menschen, daß sie niemals frivole und leichtfertige Prozesse an¬ fingen, die mit Verurteilung in die Kosten gebüßt werden müßten? Alle die Gründe, die man für die Notwendigkeit hoher Prozeßkosten anzuführen Pflegt, treffen in gleichem Maße auch für Gewerbestreitigkeiten zu. Und wenn man nun doch für diese Streitigkeiten weit geringere Kosten festsetzt, so beweist das eben, daß alle jene Grüude unrichtig oder übertrieben sind. Oder ist es etwa gerechtfertigt, daß ein armes Dienstmädchen, das mit seinem Dienstherrn um 25 Mark Lohn streitet, für den Prozeß 7 Mark 20 Pf. an Hauptgebühren und dazu noch alle Nebengebühren bezahlen muß, während die Kvnfektionsdame, wenn sie mit ihrem Dienstherrn um denselben Lohnbetrag streitet, mit 1 Mark 50 Pf. wegkommt? Allerdings fließen die allgemeinen Prozeßkosten in die Staats¬ kassen, während die Kosten der Gewerbeprozesse in die Gemeindekassen fließen sollen, wo sie schwerlich ausreichen werden, um den Gemeinden die durch Schaffung der Gewerbegerichte neu auferlegten Lasten zu decken. Aber auch dieser Gegensatz dürste doch den gewaltigen Unterschied in der Höhe der einen und der andern Kosten kaum rechtfertigen. Auch die Kosten der Gemeinden fallen den Staats¬ angehörigen in der Form der Gemeindeabgabeu zur Last. Ist es nun gerecht, daß in dieser Form die Kosten einer den Arbeitgebern und Arbeitern zu ge- wührenden wohlfeilen Justiz von den übrigen Staatsangehörigen aufgebracht werden müssen, während diese selbst, wenn sie ihr Recht vor Gericht verfolgen, mit schweren Kosten heimgesucht werden? Bisher hat man immer noch den nun schon seit beinahe elf Jahren be- stehenden Prozeß trotz seiner längst erkannten schweren Mängel und seiner un¬ erschwinglichen Kosten von gewissen Seiten zu verteidigen gesucht. Nach Erlaß des Gesetzes über die Gewcrbegerichte ist das nicht mehr möglich. Er ist durch dieses Gesetz verurteilt. In einer bestimmten Richtung hat der Reichstag selbst dieser Verurteilung einen positiven Ausdruck gegeben, indem er eine Resolution beschlossen hat, wodurch die verbündeten Regierungen ersucht werden, noch vor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/210>, abgerufen am 13.05.2024.